Eine Kindheit ohne allgegenwärtige Werbung erschien mir bis vor wenigen Jahren noch undenkbar. Die Baby-Boomer Generation, zu der ich zähle, wurde auf allen nur denkbaren Kontakt-, Kommunikations- und Medienkanälen uneingeschränkt und unzensiert zu hemmungslosen, hedonistischen Konsum eingeladen. Freiwillige Selbstkontrolle und unfreiwillige Beschränkungen der Werbebranche gab es erkennbar nicht – da wäre sicher das HB-Männchen sofort in die Luft gegangen. Damals konnte noch jeder klar begründen, warum er Jägermeister säuft und jeder Fünfjährige wusste, wo der Geist des Weines steckte. Rätsel gaben mir damals s/w Kleinanzeigen in der Funkuhr auf: was so ein Massagestab an der Wange einer Frau wohl taugt? Ich habe damals sogar ernsthaft erwogen, den als Weihnachtsgeschenk für meine Mutter zu bestellen.
Tagtäglich klingelte es an der Tür und man bekam zum Beispiel das Angebot einem frisch entlassenen Jugendsträfling eine zweite Chance zu einem ehrlichen Leben zu geben. Man müsse ihm nur jetzt und sofort ein Zeitungsabonnement abnehmen, damit er seinen Job nicht gleich wieder verliert. Leider konnte man den jungen Mann nicht nach 5 Sekunden überspringen. Sehr häufig wurde das Türgespräch aber vom Telefon unterbrochen. Oft von einem Kollegen Herrn Kaisers, der uns ein paar Sorgen nehmen wollte, die wir vor dem Gespräch noch gar nicht hatten. Ihn weg zu klicken ging damals zwar auch, galt aber als sehr unhöflich.
Was heute als Spam in wenigen Sekunden aus dem email-Fach in die virtuelle Tonne geschoben wird, fand sich damals haptisch und sperrig im Briefkasten – und es gab noch keine Papiertonnen neben dem Hauseingang. Wenn der neue Neckermann-Katalog kam, war es ein Fest der Kreativität für mich. Denn ich bekam den alten und begann nach Herzenslust Collagen aus Miedermodels und Badenixen zu basteln oder meinen Wunschzettel zu Weihnachten zusammenzukleben – mit Uhu versteht sich. Nicht selten wurden Sonntagsspaziergänge in die Innenstadt gelenkt. Das nannte man damals noch Schaufensterbummel, heute kennt man nicht mal mehr den Fachausdruck der Marketingsprache der 90er dafür: Window-Shopping.
Zwar gab es noch kein 24-Stunden-Privatfernsehen, dafür aber auch keine Fernbedienung zum Zappen. Der Togal-Werbespot mit Luis Trenker war da bestens im Vorabendprogramm nach der Serie „Immer, wenn er Pillen nahm.“ platziert. Und das schlechte Gewissen meiner alleinerziehenden Mutter wurde weniger durch meinen abendlichen Fernsehkonsum geweckt, sondern weit mehr durch den fehlenden Duft eines knochentrockenen Bademantels, den ich dabei mich kratzend trug. Da half auch Creme 21 wenig. Fakt war auch: es gab einen Grauschleier. Besonders bei den wunderschönen Gardinen mit der Goldkante. Miss Tilly, der Onkel von Tchibo, Frau Sommer und Klementine waren abendliche Dauergäste bei uns. Ich habe in meiner Kindheit nicht ein einziges Kinderlied vollständig auswendig gelernt. Doch konnte ich sicher aus dem Stehgreif 30 Werbejingles aufsagen. Und die waren damals deutlich komplexer als heute: „Strahlerküsse schmecken besser, Strahlerküsse schmecken gut.“ oder ein Klassiker, den ich hier als Ohrwurm anteasere: „Komm doch mit auf den Underberg, komm doch …. Ein paar Jahre später, als ich ins Clerasil-Alter kam und wir endlich den ersten Farbfernseher meiner Großeltern übernehmen konnten, fiebert ich heimlich dem Fa-Spot entgegen – eine feuchte Barbusige im Fernsehen, wow.
Aus dem Radio, das damals in der Küche und im Auto nonstop lief (Es gab ja noch keine Kassetten oder CDs) dudelten unaufhörlich aufklärende Spots, deren Machart heute nur noch ganz wenige Werbetalente beherrschen, wie z.B. Seitenbacher. Als Kind der Stadt Frankfurt genoss ich alle zwei Jahre ein Eldorado: die IAA. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich an den Verlust meiner umfangreichen Anstecknadel-Sammlung denke. Apropos Auto: damals bestimmte noch ich 10jähriger Steppkes, wo meine Mutter tanken sollte. Mal waren es die Münzsammlung bei Shell zur WM 1970, danach die Bildersammlung für die Heinz Sielmann und Hans Haas Bücher bei Esso und dann wieder die Oldtimer- Wandbilder von Aral und so fort. Ähnlich begeistert war ich von Besuchen im Schuhgeschäft Salamander, wo man wieder das neue Abenteuer von Lurchi erfahren konnte. Überhaupt gab es in jedem Stadtteil Spielwaren- und Schreibwarengeschäfte mit Spielzeug & Comics, an denen man tagtäglich sehnsüchtig auf die Auslagen schielend vorbeischlenderte. Ja, schon in der zweiten Klasse gab es den ersten unversöhnlichen Marken-Clash: auf der einen Seite die Pelikan- und auf der anderen die Geha-Fraktion.
Neben Comics, die ja auch Werbung enthielten, war ich auch ein begeisterter Illustrierten-Leser. Stern und Brigitte waren meine bevorzugten Bildmedien und entsprechend enttäuscht war ich, wenn meine Mutter ab und an den Spiegel mit seinen langweiligen s/w Bildern anschleppte. Summa cum laude hatte ich meine Konsumentenreife schon in der Grundschule erlangt. Die Hälfte des Wocheneinkaufs am Samstag Vormittag, an dem ich gerne teilnahm, war von meinen Präferenzen bestimmt: Nutella, Toastbrot, Miracoli, Iglo Fischstäbchen, Chiquita-Bananen, Nesquik, TriTop, RexDanny-Comic, Weiße Nestle Crunch, Prinzenrolle und Treets waren die Grundnahrungsmittel meiner Kindheit. Doch dann kam Aldi und damit die erste Konsum-Tristesse. Immer seltener betraten wir die schöne Markenwelt des Supermarktes, Persil musste Tandil weichen und ich bekam zum Trost einen Radiocassetten-Rekorder. So wurde Radiowerbung das erste Opfer meines Medienwandels.
Als Teenie ging es regelmäßig mindestens einmal die Woche noch ins Kino. Werbefestival mit anschließendem Product-Placement-Film wie z.B. James Bond. Da war Werbung dann wirklich Kult und Kunst: Afri Cola. Und Werbung wurde allmählich diskutiertes Thema auf dem Schulhof oder im Tchibo-Cafe. Man teilte damals zwar nur die Meinungen und keine Likes darüber, doch ab Anfang der 80er konnte man sicher sein, dass ein neuer Spot von Coca-Cola oder Langnese jedem 14 bis 16jährigen bekannt war. Fast jeder kannte den neuen Spruch von Jägermeister und Anfangs der 90er Jahre war ich Stolz darauf, dass ich selbst als Werbetexter arbeitend diese Kampagne noch mal wiederbeleben durfte. Fiat Panda Werbung war auch cool. Und in den Rowohlt Taschenbüchern gab es damals noch Werbung. Weiß noch jemand, wofür? Pfandbriefe und Kommunalobligation, aber auch für Zigaretten. Überhaupt waren Zigaretten des Werbers liebstes Kind. Kein Produkt wird mehr diese Dominanz erreichen, die Zigarettenwerbung in meiner Kindheit und Jugend hatte. Was heute das iPhone oder Galaxy war damals für jugendliche Markenentscheider Marlboro oder Camel.
Das alles war einmal.
Das Märchen von der Omnipräsenz der Werbung wird zwar von den Medien – taktisch klug – gerne aufrechterhalten. Da stört es auch nicht, wenn immer wieder Medienkritiker in dieses Horn blasen, im Gegenteil es wird noch gerne befeuert. Denn solange noch die 60er bis 80er Generation in den Management-Positionen sitzen, sind es noch genug Entscheider über Werbebudgets, die mit diesem Bild der Werbung aufgewachsen sind. Doch faktisch kann ich feststellen, dass mein knapp siebenjähriger Sohn heute – und ich übrigens auch – in einer fast gänzlich werbefreien Umgebung lebt.
An unserem Briefkasten hängt die Aufforderung „Keine Werbung“ – und es wirkt. An unserem Festnetztelefon hängt meine Frau noch aus nostalgischen Gründen. Werbeanrufe kenne ich seit Jahren nicht mehr. Wenn mal ein Fremder oder Fremde an unserer Haustür klingelt, dann ist es ein Biobauer aus der Gegend, der uns Äpfel anbietet oder die Sternensänger. In der Einkaufsstraße unseres Münchner Vorortes gibt es zwar noch diesen Schreibwarenladen mit Spielzeug, doch betreten wir den fast nie. Ansonsten finden sich ja in der 1A-Geschäftslage von Stadtvierteln neben ein paar Drogerieketten zunehmend nur noch Telekommunikationsläden, Versicherungsagenten, Immobilien-Makler oder zwei, drei italienische Feinkost-Läden als Angebote des täglichen Bedarfs. Die wecken aber bei meinem Sohn wenig Gelüste. Unseren Wocheneinkauf erledigt meine Frau heute lieber alleine (erst mal zu Aldi), so dass Felix selten mal in den Genuss eines überbordenden Markenangebotes kommt. Gekauft wird dann aber fast nur Frischware. Seit der Anschaffung unseres Thermomix (Vorsicht, Werbung!) wird jede Marmelade und sonstiger Brotaufstrich darin zubereitet. Der Honig, die Eier, Spargel, Himbeeren, der Wein kommen alle über Freunde und Bekannte direkt vom Erzeuger. Außer Milchprodukten stehen bei uns keine Markenprodukte auf dem Frühstückstisch. Nicht missverstehen, wir sind da weit weniger bewusste Konsumenten als bequeme. Und es schmeckt offenbar auch unserem Sohn alles so gut, dass er auch nach Nutella- und Fruchtzwerge-Kontakt beim Besuch von Freunden keine Defizite anmeldet.
Felix kennt kein werbefinanziertes Radio. Wenn wir Radio hören, dann Klassik (fast keine Werbung) oder Informationssender wie Deutschlandfunk. Ja, auch im Auto, denn den Verkehrsfunk benötigen wir ja nicht mehr, seit wir ein dynamisches Navi haben. Musik gibt es bei uns in voller Eigenregie. Entweder auf CD, in iTunes oder auf Youtube.
Zeitschriften, insbesondere Illustrierte findet man bei uns kaum noch. Ein paar auf dem Gäste-WC, die von irgendeinem Flug mitgebracht wurden. Die Tageszeitung sharen wir mit unseren Nachbarn. Doch darin finden sich kaum noch nennenswerte Anzeigen und für einen Siebenjährigen dient dieses Medium mehr als Bastel- und Malunterlage.
Wenn wir Filme anschauen, was wir meistens dann tun, wenn wir die Romanvorlage zuvor gelesen haben, gibt es die Spielfilme auf DVD oder per Stream. Oder die ehemaligen TV-Serien, wie „Z wie Zorro“, „Heidi“ oder aktuell „Robin Hood“ gibt es heute auf Youtube. Da kann man die lästigen Spots ja nach 5 Sekunden überspringen. Und die Sendung mit der Maus & Co. gibt es im Videopodcast.
Lineares Fernsehen kennt Felix ebenfalls kaum. Einzig Live-Events, bevorzugt Fußball und Formel 1, ist für uns ein Grund fernzusehen. Nur hier bekommt unser Sohn Werbespots mit. Ja, sie amüsieren ihn, doch selten sind in den Umfeldern Spots, die sein Konsuminteresse wecken könnten. Weder der neue Golf oder BMW, noch ein Besuch bei OBI oder Hornbach oder eine Kiste Krombacher standen je auf seinem Wunschzettel.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Wir sind ein ziemlich lifestyliger Haushalt und jeder kann auf einen Mac, ein iPad oder iPhone zugreifen. Die Nutzung von elektronischen Medien erfordert von jedem einzelnen Mitglied eiserne Disziplin.
Ebenso wenig wie Fernsehen oder Supermärkte kennt unser Sohn einen klassischen Einkaufsbummel. Wir Eltern haben dies früher ausgiebig genossen, doch heute sind wir vollends von den Vorzügen des Online-Shoppens überzeugt. Nichts zieht uns mehr in die Stadt, da wir die bessere, umfangreichere und günstigere Auswahl auf der Couch finden. Unser Sohn trägt mit Abstand die beste Garderobe in unserer Familie. Coole Markenklamotten auf ebay ersteigert oder aus Übersee bestellt. Ihm selbst ist das – noch – alles ziemlich schnuppe, solange es Jeans und Longsleeves sind. Wobei am Ende aber nichts über das Bayerntrikot geht, das wir selbstverständlich auch online bestellt haben. Spielzeug, Bücher bzw. eBooks, DVDs etc. alles online. Besuche von Kaufhäusern, Einkaufszentren, Spielzeuggeschäften, Modeläden, die ich in meiner Kindheit noch bis in die letzten Ecken ausgekundschaftet habe, sind für meinen Sohn das, was für mich damals Museumsbesuche waren.
Was bleibt am Ende noch? Kleiner Tipp an alle Werbetreibenden: Nur noch Außenwerbung ist für meinen Sohn unumgänglich. Also nutzt Plakate und Verkehrsmittelwerbung, wenn ihr ihn auf Sinalco oder Fanta bringen wollt. Macht Promotion für einen Schokoriegel bei den Schülerlotsen, aber lasst Euch nicht von den Müttern und Vätern dabei erwischen. Und Product-Placement in Filmen, Videos und Spielen kommen immer gut. Mag sein, dass die Werbung meinen Sohn früher oder später doch noch kriegt. Ob ihn dann aber der doch etwas verzweifelt anmutende Versuch, mit supergeilen Viralspots davon zu überzeugen, nicht bei Aldi, Amazon, iTunes und beim Biobauern zu kaufen, bezweifele ich heute. Aber ich habe mich ja auch vor Jahren schon geirrt.