Die heutige Kindheit – eine (fast) werbefreie Zone.

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Eine Kindheit ohne allgegenwärtige Werbung erschien mir bis vor wenigen Jahren noch undenkbar. Die Baby-Boomer Generation, zu der ich zähle, wurde auf allen nur denkbaren Kontakt-, Kommunikations- und Medienkanälen uneingeschränkt und unzensiert zu hemmungslosen, hedonistischen Konsum eingeladen. Freiwillige Selbstkontrolle und unfreiwillige Beschränkungen der Werbebranche gab es erkennbar nicht – da wäre sicher das HB-Männchen sofort in die Luft gegangen. Damals konnte noch jeder klar begründen, warum er Jägermeister säuft und jeder Fünfjährige wusste, wo der Geist des Weines steckte. Rätsel gaben mir damals s/w Kleinanzeigen in der Funkuhr auf: was so ein Massagestab an der Wange einer Frau wohl taugt? Ich habe damals sogar ernsthaft erwogen, den als Weihnachtsgeschenk für meine Mutter zu bestellen.

HB-MännchenTagtäglich klingelte es an der Tür und man bekam zum Beispiel das Angebot einem frisch entlassenen Jugendsträfling eine zweite Chance zu einem ehrlichen Leben zu geben. Man müsse ihm nur jetzt und sofort ein Zeitungsabonnement abnehmen, damit er seinen Job nicht gleich wieder verliert. Leider konnte man den jungen Mann nicht nach 5 Sekunden überspringen. Sehr häufig wurde das Türgespräch aber vom Telefon unterbrochen. Oft von einem Kollegen Herrn Kaisers, der uns ein paar Sorgen nehmen wollte, die wir vor dem Gespräch noch gar nicht hatten. Ihn weg zu klicken ging damals zwar auch, galt aber als sehr unhöflich.

NeckermannFS70Was heute als Spam in wenigen Sekunden aus dem email-Fach in die virtuelle Tonne geschoben wird, fand sich damals haptisch und sperrig im Briefkasten – und es gab noch keine Papiertonnen neben dem Hauseingang. Wenn der neue Neckermann-Katalog kam, war es ein Fest der Kreativität für mich. Denn ich bekam den alten und begann nach Herzenslust Collagen aus Miedermodels und Badenixen zu basteln oder meinen Wunschzettel zu Weihnachten zusammenzukleben – mit Uhu versteht sich. Nicht selten wurden Sonntagsspaziergänge in die Innenstadt gelenkt. Das nannte man damals noch Schaufensterbummel, heute kennt man nicht mal mehr den Fachausdruck der Marketingsprache der 90er dafür: Window-Shopping.

Bildschirmfoto 2014-03-29 um 00.09.01Zwar gab es noch kein 24-Stunden-Privatfernsehen,  dafür aber auch keine Fernbedienung zum Zappen. Der Togal-Werbespot mit Luis Trenker war da bestens im Vorabendprogramm nach der Serie „Immer, wenn er Pillen nahm.“ platziert. Und das schlechte Gewissen meiner alleinerziehenden Mutter wurde weniger durch meinen abendlichen Fernsehkonsum geweckt, sondern weit mehr durch den fehlenden Duft eines knochentrockenen Bademantels, den ich dabei mich kratzend trug. Da half auch Creme 21 wenig. Fakt war auch: es gab einen Grauschleier. Besonders bei den wunderschönen Gardinen mit der Goldkante. Miss Tilly, der Onkel von Tchibo, Frau Sommer und Klementine waren abendliche Dauergäste bei uns. Ich habe in meiner Kindheit nicht ein einziges Kinderlied vollständig auswendig gelernt. Doch konnte ich sicher aus dem Stehgreif 30 Werbejingles aufsagen. Und die waren damals deutlich komplexer als heute: „Strahlerküsse schmecken besser, Strahlerküsse schmecken gut.“ oder ein Klassiker, den ich hier als Ohrwurm anteasere: „Komm doch mit auf den Underberg, komm doch …. Ein paar Jahre später, als ich ins Clerasil-Alter kam und wir endlich den ersten Farbfernseher meiner Großeltern übernehmen konnten, fiebert ich heimlich dem Fa-Spot entgegen – eine feuchte Barbusige im Fernsehen, wow.

bonanzarad_neckerman73Aus dem Radio, das damals in der Küche und im Auto nonstop lief (Es gab ja noch keine Kassetten oder CDs) dudelten unaufhörlich aufklärende Spots, deren Machart heute nur noch ganz wenige Werbetalente beherrschen, wie z.B. Seitenbacher. Als Kind der Stadt Frankfurt genoss ich alle zwei Jahre ein Eldorado: die IAA. Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich an den Verlust meiner umfangreichen Anstecknadel-Sammlung denke. Apropos Auto: damals bestimmte noch ich 10jähriger Steppkes, wo meine Mutter tanken sollte. Mal waren es die Münzsammlung bei Shell zur WM 1970, danach die Bildersammlung für die Heinz Sielmann und Hans Haas Bücher bei Esso und dann wieder die Oldtimer- Wandbilder von Aral und so fort. Ähnlich begeistert war ich von Besuchen im Schuhgeschäft Salamander, wo man wieder das neue Abenteuer von Lurchi erfahren konnte. Überhaupt gab es in jedem Stadtteil Spielwaren- und Schreibwarengeschäfte mit Spielzeug & Comics, an denen man tagtäglich sehnsüchtig auf die Auslagen schielend vorbeischlenderte. Ja, schon in der zweiten Klasse gab es den ersten unversöhnlichen Marken-Clash: auf der einen Seite die Pelikan- und auf der anderen die Geha-Fraktion.

EssoTigerNeben Comics, die ja auch Werbung enthielten, war ich auch ein begeisterter Illustrierten-Leser. Stern und Brigitte waren meine bevorzugten Bildmedien und entsprechend enttäuscht war ich, wenn meine Mutter ab und an den Spiegel mit seinen langweiligen s/w Bildern anschleppte. Summa cum laude hatte ich meine Konsumentenreife schon in der Grundschule erlangt. Die Hälfte des Wocheneinkaufs am Samstag Vormittag, an dem ich gerne teilnahm, war von meinen Präferenzen bestimmt: Nutella, Toastbrot, Miracoli, Iglo Fischstäbchen, Chiquita-Bananen, Nesquik, TriTop, RexDanny-Comic,  Weiße Nestle Crunch, Prinzenrolle und Treets waren die Grundnahrungsmittel meiner Kindheit.  Doch dann kam Aldi und damit die erste Konsum-Tristesse. Immer seltener betraten wir die schöne Markenwelt des Supermarktes, Persil musste Tandil weichen und ich bekam zum Trost einen Radiocassetten-Rekorder. So wurde Radiowerbung das erste Opfer meines Medienwandels.

Foto 1-2Als Teenie ging es regelmäßig mindestens einmal die Woche noch ins Kino. Werbefestival mit anschließendem Product-Placement-Film wie z.B. James Bond. Da war Werbung dann wirklich Kult und Kunst: Afri Cola. Und Werbung wurde allmählich diskutiertes Thema auf dem Schulhof oder im Tchibo-Cafe. Man teilte damals zwar nur die Meinungen und keine Likes darüber, doch ab Anfang der 80er konnte man sicher sein, dass ein neuer Spot von Coca-Cola oder Langnese jedem 14 bis 16jährigen bekannt war. Fast jeder kannte den neuen Spruch von Jägermeister und Anfangs der 90er Jahre war ich Stolz darauf, dass ich selbst als Werbetexter arbeitend diese Kampagne noch mal wiederbeleben durfte. Fiat Panda Werbung war auch cool. Und in den Rowohlt Taschenbüchern gab es damals noch Werbung. Weiß noch jemand, wofür? Pfandbriefe und Kommunalobligation, aber auch für Zigaretten. Überhaupt waren Zigaretten des Werbers liebstes Kind. Kein Produkt wird mehr diese Dominanz erreichen, die Zigarettenwerbung in meiner Kindheit und Jugend hatte. Was heute das iPhone oder Galaxy war damals für jugendliche Markenentscheider Marlboro oder Camel.

Das alles war einmal.

LurchiDas Märchen von der Omnipräsenz der Werbung wird zwar von den Medien – taktisch klug – gerne aufrechterhalten. Da stört es auch nicht, wenn immer wieder Medienkritiker in dieses Horn blasen, im Gegenteil es wird noch gerne befeuert. Denn solange noch die 60er bis 80er Generation in den Management-Positionen sitzen, sind es noch genug Entscheider über Werbebudgets, die mit diesem Bild der Werbung aufgewachsen sind. Doch faktisch kann ich feststellen, dass mein knapp siebenjähriger Sohn heute – und ich übrigens auch – in einer fast gänzlich werbefreien Umgebung lebt.

Afri ColaAn unserem Briefkasten hängt die Aufforderung „Keine Werbung“ – und es wirkt. An unserem Festnetztelefon hängt meine Frau noch aus nostalgischen Gründen. Werbeanrufe kenne ich seit Jahren nicht mehr. Wenn mal ein Fremder oder Fremde an unserer Haustür klingelt, dann ist es ein Biobauer aus der Gegend, der uns Äpfel anbietet oder die Sternensänger. In der Einkaufsstraße unseres Münchner Vorortes gibt es zwar noch diesen Schreibwarenladen mit Spielzeug, doch betreten wir den fast nie. Ansonsten finden sich ja in der 1A-Geschäftslage von Stadtvierteln neben ein paar Drogerieketten zunehmend nur noch Telekommunikationsläden, Versicherungsagenten, Immobilien-Makler oder zwei, drei italienische Feinkost-Läden als Angebote des täglichen Bedarfs. Die wecken aber bei meinem Sohn wenig Gelüste. Unseren Wocheneinkauf erledigt meine Frau heute lieber alleine (erst mal zu Aldi), so dass Felix selten mal in den Genuss eines überbordenden Markenangebotes kommt. Gekauft wird dann aber fast nur Frischware. Seit der Anschaffung unseres Thermomix (Vorsicht, Werbung!) wird jede Marmelade und sonstiger Brotaufstrich darin zubereitet. Der Honig, die Eier, Spargel, Himbeeren, der Wein kommen alle über Freunde und Bekannte direkt vom Erzeuger. Außer Milchprodukten stehen bei uns keine Markenprodukte auf dem Frühstückstisch. Nicht missverstehen, wir sind da weit weniger bewusste Konsumenten als bequeme. Und es schmeckt offenbar auch unserem Sohn alles so gut, dass er auch nach Nutella- und Fruchtzwerge-Kontakt beim Besuch von Freunden keine Defizite anmeldet.

TreetsFelix kennt kein werbefinanziertes Radio. Wenn wir Radio hören, dann Klassik (fast keine Werbung) oder Informationssender wie Deutschlandfunk. Ja, auch im Auto, denn den Verkehrsfunk benötigen wir ja nicht mehr, seit wir ein dynamisches Navi haben. Musik gibt es bei uns in voller Eigenregie. Entweder auf CD, in iTunes oder auf Youtube.

Zeitschriften, insbesondere Illustrierte findet man bei uns kaum noch. Ein paar auf dem Gäste-WC, die von irgendeinem Flug mitgebracht wurden. Die Tageszeitung sharen wir mit unseren Nachbarn. Doch darin finden sich kaum noch nennenswerte Anzeigen und für einen Siebenjährigen dient dieses Medium mehr als Bastel- und Malunterlage.

m_1970_lotus_europa_nr_5_matchboxWenn wir Filme anschauen, was wir meistens dann tun, wenn wir die Romanvorlage zuvor gelesen haben, gibt es die Spielfilme auf DVD oder per Stream. Oder die ehemaligen TV-Serien, wie „Z wie Zorro“, „Heidi“ oder aktuell „Robin Hood“ gibt es heute auf Youtube. Da kann man die lästigen Spots ja nach 5 Sekunden überspringen. Und die Sendung mit der Maus & Co. gibt es im Videopodcast.

Lineares Fernsehen kennt Felix ebenfalls kaum. Einzig Live-Events, bevorzugt Fußball und Formel 1, ist für uns ein Grund fernzusehen. Nur hier bekommt unser Sohn Werbespots mit. Ja, sie amüsieren ihn, doch selten sind in den Umfeldern Spots, die sein Konsuminteresse wecken könnten. Weder der neue Golf oder BMW, noch ein Besuch bei OBI oder Hornbach oder eine Kiste Krombacher standen je auf seinem Wunschzettel.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Wir sind ein ziemlich lifestyliger Haushalt und jeder kann auf einen Mac, ein iPad oder iPhone zugreifen. Die Nutzung von elektronischen Medien erfordert von jedem einzelnen Mitglied eiserne Disziplin.

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Aus dem Fa Werbespot 70er

Ebenso wenig wie Fernsehen oder Supermärkte kennt unser Sohn einen klassischen Einkaufsbummel. Wir Eltern haben dies früher ausgiebig genossen, doch heute sind wir vollends von den Vorzügen des Online-Shoppens überzeugt. Nichts zieht uns mehr in die Stadt, da wir die bessere, umfangreichere und günstigere Auswahl auf der Couch finden. Unser Sohn trägt mit Abstand die beste Garderobe in unserer Familie. Coole Markenklamotten auf ebay ersteigert oder aus Übersee bestellt. Ihm selbst ist das – noch – alles ziemlich schnuppe, solange es Jeans und Longsleeves sind. Wobei am Ende aber nichts über das Bayerntrikot geht, das wir selbstverständlich auch online bestellt haben. Spielzeug, Bücher bzw. eBooks, DVDs etc. alles online. Besuche von Kaufhäusern, Einkaufszentren, Spielzeuggeschäften, Modeläden, die ich in meiner Kindheit noch bis in die letzten Ecken ausgekundschaftet habe, sind für meinen Sohn das, was für mich damals Museumsbesuche waren.

asbach logoWas bleibt am Ende noch? Kleiner Tipp an alle Werbetreibenden: Nur noch Außenwerbung ist für meinen Sohn unumgänglich. Also nutzt Plakate und Verkehrsmittelwerbung, wenn ihr ihn auf Sinalco oder Fanta bringen wollt. Macht Promotion für einen Schokoriegel bei den Schülerlotsen, aber lasst Euch nicht von den Müttern und Vätern dabei erwischen. Und Product-Placement in Filmen, Videos und Spielen kommen immer gut. Mag sein, dass die Werbung meinen Sohn früher oder später doch noch kriegt. Ob ihn dann aber der doch etwas verzweifelt anmutende Versuch, mit supergeilen Viralspots davon zu überzeugen, nicht bei Aldi, Amazon, iTunes und beim Biobauern zu kaufen, bezweifele ich heute. Aber ich habe mich ja auch vor Jahren schon geirrt.

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Vom Luxus der Freiheit.

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Aus der Literaturbeilage der Zeit

Nachtrag: 27.November 2014: Als ich diesen Beitrag im März des Jahres schrieb, war ich noch ein wenig von der naiven Vorstellung erfüllt, dass das Stichwort „Freiheit“ im gesellschaftlichen Diskurs immer Interesse und Leidenschaft weckt. Doch dem ist aktuell mitnichten so. Betitelt oder eröffnet jemand heute seinen Diskussionsbeitrag mit Gedanken über oder gar Sorge um die Freiheit, wendet sich die Mehrheit gähnend ab.

Das Gut „Freiheit“ hat rapide an Wert gegenüber den Wünschen nach Sicherheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und staatlicher Fürsorge verloren. Sehr eindrücklich untermauert dies der erhobene „Freiheitsindex“ des John Stuart Mill Institutes, der seit 2011 in Zusammenarbeit mit dem Institut Allensbach ermittelt wird. Den Bericht 2014 als Pdf gibt es hier.

Wem der Diskurs der Freiheit dennoch etwas mehr Zeit und Gedanken wert ist, lege ich den Essay von Lisa Herzog „Freiheit gehört nicht nur den Reichen.“zu lesen nahe, über den ich hier resümiere:

 

Vor kurzem las ich Gustave le Bons „Psychologie der Massen“ , in dem er darauf verweist, dass Freiheit zu den Begriffen zählt, „deren Sinn so unbestimmt ist, dass dicke Bände nicht ausreichen, ihn festzustellen. Und doch knüpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben, als ob sie die Lösung aller Fragen enthielten.“ Dem kann man angesichts der seit Jahrhunderten fortlaufenden Lektüre über das Wesen und die Voraussetzung der „Freiheit“ nur wenig widersprechen. Wer sich dem Thema dennoch annähern möchte und sowohl einen historischen Blick als auch einen aktuellen Diskurs über die Freiheit im allgemeinen und den in Misskredit geratenen Liberalismus im speziellen wünscht, dem kann ich den sehr klugen und leicht lesbaren Essay von Lisa Herzog sehr empfehlen.

BildNicht ideologisch, bestenfalls idealistisch hält sie auf knapp 200 Seiten ihr „Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus“, der meines Erachtens auch Not tut. Denn der liberale Geist, der sich in der Vergangenheit immer sehr wohltuend als Korrektiv bei starken rechts- wie linksideologischen, gesellschaftspolitischen Ausschlägen erwiesen hat, steht seit der Finanzkrise am Pranger. Sowohl der rechte als auch linke Flügel – verdächtig einhellig – machen ihn nicht nur für das Finanzmarktdebakel, sondern für alle sozialen Verwerfungen in einer globalisierten Marktwirtschaft allein verantwortlich. Der Liberalismus wird so dankbar auch zum Sündenbock der staatlichen Finanzkrisen, in dem die Politik vorgibt, dass die Rettung der globalen Finanzmärkte ja erst zur Schieflage der Staatshaushalte geführt habe.

Folie1Dennoch, und dies gibt Lisa Herzog unumwunden zu, kann man die jüngsten Repräsentanten des Liberalismus nicht in allen Anklagepunkten freisprechen. Dass der Liberalismus so gut als Sündenbock taugt, hat er einer Gruppe selbsternannter Neoliberaler zu verdanken, die das enge Bild eines staatlich gegängelten Marktes schufen. Gegen dieses Bild möchte Lisa Herzog anschreiben:

„Das Bild, gegen das ich anschreibe, ist das einer Frontstellung von Markt und Staat, in der der Markt ausschließlich als Reich der Freiheit und der Staat ausschließlich als Reich von Zwang und Unterwerfung angesehen wird.“

Damit dies überzeugend gelingen kann, ist ein philosophischer, sozio-psychologischer sowie ökonomischer Diskurs der Freiheit angebracht.

Bei der philosophischen Annäherung an die Freiheit gerät man leicht in Sophisterei. Jegliche Definition von Freiheit findet umgehend ihren Kritiker, dem diese zu eingeschränkt oder jene zu weit ist. Doch Lisa Herzog bedient sich pragmatisch. Im wesentlichen verweist sie bei der Definition auf die negative sowie positive Freiheit, sprich erstere, die uns wenig verbietet und zweite, die uns vieles erlaubt, um als Einzelner ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben zu führen.

Darüber hinaus überlässt sie es dem Leser, welche weiteren Spielarten er präferieren möchte.

Das Dilemma mit dem philosophischen Ideal der Freiheit wird einem persönlich sehr schnell deutlich, wenn man in die erzieherische Elternschaft eintritt. Zwar kann man sich dem schnell entledigen, in dem man sich auf Kant besinnt, der Vernunft als wesentliche Voraussetzung der Freiheit des Menschen einfordert. Die beizubringen, sehen wir ja als vorderstes Ziel unserer Erziehung. Doch gerät man dann sehr schnell auf elitäres, snobistisches Glatteis. Denn diese eingeklagte Vernunft findet sich nach kantischem Maßstab wohl bei kaum einem Mitglied in der heutigen Gesellschaft.  Schon sein kategorischer Imperativ wird selten konsequent beherzigt.

In der Meinung gespalten werden wir schon durch die Frage unseres Menschenbildes. Überwiegend findet man doch ein negatives, wie Machiavelli beschreibt, dass die Menschen kleingeistig und kurzsichtig und vor allem immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht seien. Gerne auch wie Adam Smith, der erkennt, dass die Eitelkeit, das Streben nach der Bewunderung von anderen, die Ursache dafür sei, dass Äcker bebaut, Städte gegründet und Wissenschaft und Kunst vorangetrieben würden.

Hingegen erteilt uns Marx fast eine religiös anmutende Absolution, indem er uns die Verantwortung nimmt und die (natürlichen) Gesetzmäßigkeiten des Marktes bzw. den Kapitalismus zum Schuldigen erklärt, der uns Menschen zwinge, ihr Eigeninteresse zu verfolgen, ob wir es wollen oder nicht.

Psychologisch und soziologisch ist unser Freiheitsanspruch immer auch ein Kampf zwischen unserem Eigensinn und damit unserer Willensfreiheit und unserer Handlungsfreiheit in einer Gemeinschaft. Denn

„Es geht immer um Freiheitsansprüche, die Menschen aneinander richten.“

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Aus der Literaturbeilage der Zeit

Mit der Freiheit unseres Willens begibt man sich wiederum auf recht unsicheres Terrain. Denn zunehmend sprechen uns nicht nur Philosophen, sondern auch Psychologen sowie Neurowissenschaftler ab, über einen freien Willen zu verfügen.  Unsere – damit nicht gänzlich selbst zu verantwortende – Willensschwäche führe dann zu asozialen, amoralischen oder zumindest unvernünftige Handlungen. Mich befremdet dieser Gedanken, denn er entmündigt uns, die wir uns für vernunftbegabte und damit selbstverantwortliche Wesen erachten. Ich denke, wer A sagt muss auch B sagen. Wenn ich Willensfreiheit beanspruche, dann muss ich auch die Verantwortung tragen, wenn mein Wille mich wider die Vernunft und besseres Wissen verleitet, asozial zu handeln.

Denn nur als solche können wir eine liberale Gesellschaft gestalten, die sich nach Lisa Herzog drei Fragen regelmäßig annehmen muss: die Fragen der Normen, des Ethos und der ungleichen Machtverteilung. Hier muss immer wieder neu justiert werden. Bei den Normen stellt sich u.a. die schöne Frage: „Verdient nicht jeder das, was er verdient?“ Und bezüglich des Ethos, wünscht die Autorin sich mit Recht, dass man diesen Begriff wieder entstaube.

„Ein gut funktionierendes Ethos hat gegenüber rein regel- und anreizbasierten Institutionen den großen Vorteil, dass es erlaubt, besser mit Komplexität umzugehen.“

Dieser Gedanke ist auch sehr nah bei Niklas Luhmann, der erkannte, dass Vertrauen nun mal dazu dient, Komplexität im sozialen Umgang zu reduzieren.

Und wachsam gegen Machtkonzentrationen zu sein, seien es Oligopole, Lobbys, politische und sonstige Eliten, darauf wies schon Adam Smith hin als er frotzelte, dass „Leute aus einer Branche selten zusammentreffen, ohne eine kleine Verschwörung gegen die Öffentlichkeit zu planen,…“

Am Ende des Diskurses kehrt die Autorin wieder zum Ausgangspunkt der Diskreditierung des Liberalismus zurück, zur Ökonomie.

Es versteht sich von selbst, dass der Liberalismus keine Legitimation für das Verhalten von Gier und Maßlosigkeit bietet.

Selbst der liberalste Philosoph, John Stuart Mill, setze ein Limit:

„dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“

Folie2Schon diesem minimalen Anspruch eines gesellschaftlich verantwortlichen Liberalismus wurde und wird man in vielen Zentren der wirtschaftlichen Macht nicht gerecht. Hier muss der Staat, sofern er nicht Teil des Problems ist, regulierenden eingreifen. Da aber die Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft heute zu stark geworden sind, um hier als Bürger noch zu vertrauen, ist des Bürgers Kontrolle besser. Da greift, wie man schon bei Kant „Zum ewigen Frieden“ nachlesen kann, die republikanische Freiheit, von der Lisa Herzog schreibt:

„Vielleicht ist es kein Zufall, dass in der philosophischen Debatte über den Begriff der Freiheit und des Liberalismus seit einiger Zeit eine dritte Konzeption wieder aufgelebt ist: die republikanische Freiheit. Freiheit wird hier über den Status des Einzelnen als freier Bürger definiert, als jemand, der darüber mitreden kann, was in seinem Staat entschieden wird.“

Ein Kernproblem des Marktes – unabhängig wie liberal er ist – muss dringend gesellschaftlich gelöst werden. Der große Fehler der Märkte ist aus volkswirtschaftlicher Sicht die unvollständige Preisfindung. Denn für viele Güter wird ein Preis gefunden, der die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten nicht einbezieht. Ein großer Teil der Folgekosten von Gütern und Dienstleistungen, werden der gesamten Gesellschaft aufgebürdet.

Doch trotz aller Bedenken, die ein freier Welthandel erzeugt, muss man ihm eins zugute halten: er ist der stärkste Verbündete des Friedens. Schon vor über 200 Jahren galt die Globalisierung im philosophischem Weitblick von Kant, Montesquieu und Adam Smith als Garant für den zukünftigen Weltfrieden. Denn der Handel schweiße die Nationen so zusammen, dass kein Interesse mehr an Kriegen bestünde.

Mit einer Aufforderung von Kant, schließt Lisa Herzog ihr beeindruckendes Plädoyer ab, dem ich mich gerne anschließe:

„Frei nach Kant lässt sich sagen: Eine liberale Gesellschaft ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben.“

Zum ewigen Frieden.

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©2010-2014 Ng-Aniki

Ich wage mal die Behauptung, dass Immanuel Kant als Blogger heute kaum „Follower“ gewinnen würde. Aus gegebenem Anlass habe ich – erneut – seinen Vertragsentwurf „Zum ewigen Frieden . Ein philosophischer Entwurf.“ gelesen. Wenn sich der ein oder andere heute gerne über einfache Schachtelsätze mokiert, so wird er hier durch eine stilistische Hölle an Satzgebilden gehen müssen, die ich als Matroschka-Sätze bezeichnen möchte. Ob es sich aber dennoch der Mühen lohnt, sich mit dem Originaltext zu befassen?

Da ich nun mitteilungsbedürftig darüber schreibe, ist die Frage soweit schon mal beantwortet.

Foto 1-1Durchaus schwieriger ist es, befriedigend zusammenzufassen, über was ich nun alles brüte. Zunächst einmal gilt auch für Kant die Binse, dass

der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, …kein Naturzustand, sondern vielmehr ein Zustand des Krieges ist,…“

Dabei sind ihm die verstreuten Völker auf der Erde, insbesondere jene, die in klimatisch oder geografisch unbequemen Zonen angesiedelt sind, historischer Beweis, dass der Krieg ein naturgewollter Verdrängungswettbewerb ist. Die Natur manifestiert diesen Zustand noch durch zwei wesentliche Mittel:

 „Sie (die Natur, Anm. d. V.) bedient sich zweier Mittel, von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen,…“.

Es wäre nun ein leichtes, die allgemeine Gültigkeit dieser These – zumindest was die Sprache betrifft – heute zu widerlegen. Die zahlreichen angelsächsischen Länder und die südamerikanischen Länder widersprechen dem vordergründig. Aber noch immer gilt, dass Religionen und gesellschaftspolitische Ideologien – die ja letztlich auch Glaubenslehren – bis heute die Scharfmacher für die Massen sind, um kriegerische Auseinandersetzungen zu forcieren. Häufig – damals wie heute – steht dahinter auch noch das Kalkül einer herrschenden Elite, die diese als Mittel zum Zweck ihrer eigenen hegemonialen Interessen nutzt.

Kant ein Republikaner oder ein lupenreiner Demokrat?

Um den Interessen einzelner Eliten entgegen zu wirken, legt Kant im zweiten Abschnitt erst einmal dar, welche Regierungsform er präferiert – was nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Staatsform ist:

„Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“

Und dies gelte selbst dann, wenn man ein pessimistisches, teuflisches Menschenbild unterstellt:

„Das Problem der Staatserrichtung ist, …, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar und lautet so: Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, dass,…, diese einander doch so aufhalten, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnung hätten.

Eine solche Verfassung ist begründet auf drei Prinzipien „Freiheit“, „Gemeinsame Gesetzgebung“ und „Gleichheit“.

Heutige Interpreten verweisen kurzerhand gerne darauf, dass die damalige republikanische Gesinnung Kants heute als demokratisch zu verstehen sei und vereinnahmen Kant so für sich als „lupenreinen Demokraten.“ Dem mag ich anhand des Originaltextes nicht folgen, sondern sehe hier einen noch immer sehr brisanten, politischen Diskussionsstoff, der auch um den aktuell todgesagten Liberalismus kreist. Weit mehr würde ich Kant im Sinne des angelsächsischen Dualismus „Republikaner vs. Demokraten“ auf der Seite der Republikaner sehen.

Die Demokratie ist – nach Kant – eine von drei despotischen Regierungsformen (Autokratie, Aristokratie, Demokratie). In der Republik dagegen, wie Kant sie beschreibt, gibt der Bürger nur die Macht der Ausführung ab (Exekutive und Judikative), doch die gesetzgebende (Legislative) bleibt direkt beim Bürger. Hingegen in der Demokratie, „im eigentlichen Verstande des Wortes“, bestimme die Mehrheit über Minderheiten. Die demokratische Regierungsform sei somit nicht repräsentativ wie es die republikanische im idealen Falle wäre.

Die idealen Repräsentanten einer republikanischen Regierung agieren mit dem Selbstverständnis, „Diener des Staates zu sein“ (Kants oberster Staatsherr Friedrich II bezeichnete sich so). Doch in der Demokratie wolle alles Herr sein und nicht Diener. Nicht die Staatsform sei für den Bürger somit entscheidend, sondern die Regierungsart. Sofern jeder Bürger überzeugt sein könne, nach den Grundprinzipien einer republikanischen Verfassung regiert zu werden, spiele es für ihn keine Rolle, ob er in einer Monarchie, Aristokratie (im Sinne der „Besten“) oder Republik lebt.

Dieses politische Verständnis Kants ist es auch heute noch Wert, abgewogen zu werden. Es hinterfragt kritisch unsere oft schon dogmatische Haltung im Westen, Demokratie als die am besten die Freiheit garantierende Regierungsform vorauszusetzen. Die Betonung liegt hier auf der Freiheit.

Jeder Bürger sollte einzeln entscheiden können: Krieg oder Frieden.

Die republikanische Bürgerverantwortung ist es denn auch, die Kant als wesentliche Voraussetzung erachtet, um den Frieden zu wahren. Eine weitere Bedingung sei noch die Abschaffung eines stehenden Heeres, sprich einer Berufsarmee. Dafür soll aber jeder Bürger so ausgebildet sein, sich und seinen Staat mit der Waffe schützen zu können, so dass im Falle eines unvermeidbaren Krieges jederzeit eine freiwillige Armee zusammengezogen werden kann.

Diese beiden Vorausetzungen sorgen schon erheblich dafür, dass es kaum noch zu Kriegen käme. Denn eine republikanische Verfassung im Sinne Kants erfordert die konkrete Zustimmung jedes einzelnen Staatsbürgers zu einem Krieg. Und zwar mit allen persönlichen Konsequenzen: ich gebe mein Geld dafür, ich riskiere den Verlust meiner Habe und eventuell meines Lebens und ich übernehme die Schulden des Krieges.

Ein friedenstiftender Völkerbund erfordert die Abgabe einzelstaatlicher Souveränität.

Da jedoch die innerstaatliche Entscheidung allein nicht ausreicht, um sich vor Angriffskriegen zu schützen, benötigt die Welt zudem einen Völkerbund. Doch hier liegt eine besondere Crux, die wir bis heute nicht lösen können. Ein Völkerbund erfordert die Abgabe an Souveränität des einzelnen Staates an eine legitimierte Institution die den Völkerbund repräsentiert. Der Völkerbund ist somit ein ermächtigter Friedensbund (kein Friedensvertrag, der einzig nur den Krieg beendet), der den ewigen Frieden gestalten und sichern will.

„Dieser Bund geht auf keinen Erwerb irgend einer Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit des Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten, ohne dass diese doch sich deshalb (…) öffentlichen Gesetzen, und einem Zwange unter denselben, unterwerfen dürfen.“

Folie1Doch im Gegensatz zu einem vernünftigen Individuum, das sich einer staatlichen Gesetzgebung fügt, ist dies bislang unter Staaten nur schwach bis gar nicht ausgeprägt.

Der stärkste Verbündete des Friedens ist der Welthandel.

In der Erkenntnis aller Unwegsamkeit zu einem ewigen Frieden sieht Kant schon damals voraus, dass es zudem eine wachsende Macht gibt, die allen Staats- und Regierungsformen trotzt und die stärkste friedensstiftende Kraft entfalten wird: die weltweite Geld- und Handelsmacht:

„Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher, oder später sich jedes Volks bemächtigt.“

Zum Abschluss legitimiert Kant seinen vermessenen Anspruch, sich als Philosoph in Staatsgeschäfte öffentlich einzumischen. Der Philosoph – heute würden wir vielleicht Intellektueller sagen – solle sich öffentlich zu der Politik äußern und von den Regierenden gehört werden. Denn

„Dass Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“

Sowohl als auch.

BildBevor ich mir die Frage von Nina auf Libromanie beantworte, ob ich es bevorzuge, Rezensionen vor dem Buch oder nach dem Buch zu lesen, stell ich mir die Frage: Was wünsche ich mir von einer Rezension?

Zunächst interessieren mich nur begeisterte Rezensionen. Sehr selten widme ich mich den Ein-Stern-Nörglern, auch wenn da mal ganz intelligente und wirklich leidenschaftliche darunter sind.  Wenn ich stöbernd durch Buchhandlungen streune und auf interessante Titel stoße, bei denen mir der Autor nicht bekannt ist, rufe ich mir die Bewertungen bei amazon & Co. ab. Da lese ich auch ein paar Rezensionen mobil quer. Doch ich ignoriere jegliche Inhaltsangaben, besonders solche, die wie ausführliche Reisebeschreibungen daherkommen. Bücher sind für mich fast immer eine Einladung zu einer Entdeckungsreise. Und die möchte ich gerne noch so jungfräulich wie möglich selbst machen. Andere ziehen da sicher einen multimedialen Diavortrag vor.

Von Rezension wünsche ich mir zuvorderst einen lustvollen Stimmungsbericht des Lesers. Was hat sie/ihn nachdenklich gemacht, angeregt, weiter zu denken, was hat sie/ihn amüsiert, gerührt, hat sie/er laut gelacht. Anschauliche Analogien, die mir die Intention des Buches veranschaulichen, Introspektionen über die Wirkung des Buches oder auch Briefe an den Autor wären Stilmittel, die ich mir für Rezensionen öfter wünschen würde.

BildMeine Intention zu eigenen Rezensionen ist zunächst eine subjektive, kritische und bewusste Reflexion über das Gelesene – oder besser „Erlebte.“ Es ist also zuerst ein persönlicher Logbuch-Eintrag. Erst im Verlauf des Notierens entscheide ich mich, ob ich eine öffentliche Rezension daraus werden lasse. Zunächst will ich mir die Erinnerung deutlicher bewahren, will mir manches klarer machen und manches auch selbstkritisch hinterfragen. Und dabei helfen mir dann auch die im Nachhinein gelesenen Rezensionen anderer Leser, denen ich dann auch gerne mal mit einem „ja“ für hilfreich danke.

Rätselhaft bleibt mir in diesem Zusammenhang der Charakterzug immer häufiger auftretender Rezensionsleser, die interessante und umfassende Rezensionen mit „nein“ , also als nicht hilfreich beurteilen, nur weil sie offenbar nicht mit dem Urteil übereinstimmen. Doch muss ich dies wohl zu den vielen weiteren Dämlichkeiten der Menschheit hinzuzählen, die das Netz heute transparenter denn je macht.

Geld oder Lesen!

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Um erfolgreich ein Buch zu schreiben, braucht es in Zukunft offenbar keine Leser mehr. Als ich Ende Oktober 2013 meine Rezension zu Dirk von Gehlens „Eine neue Version ist verfügbar – Update: Wie die Digitalisierung Kunst und Kultur verändert.“ auf amazon verfasste, verwunderte mich sehr, dass ich der erste war – das Buch war am 9. September erschienen – und bis heute nur zwei Kurz&Knapp-Rezensionen zu diesem Buchprojekt folgten.

BildWo sind denn die begeisterten „Crowdfounder“, die helfen ihre Investitionen zu fördern. Ist doch dieses Buch eines der ersten Buchprojekte, das sich nicht nur inhaltlich der digitalen Zukunft und Netzwerk-Ökonomie widmet, sondern auch erfolgreich aus einem Crowdfunding Experiment hervorgegangen ist. Über 350 Unterstützer haben mehr als € 14.000,– vorausgezahlt, um dem Autor die Umsetzung des Buches zu ermöglichen – nicht wissend, was sie inhaltlich konkret erwarten wird. Nun sind schon 6 Monate seit Erscheinen vergangen und noch immer hat kaum einer der Fans (waren sogar mehr als 400) ein Feedback auf der doch relevanteste Plattform für Bucherscheinungen hinterlassen. Selbst die 1% Regel von Jakob Nielsen, auf die Dirk von Gehlen in seinem Buch hinweist, greift bislang also nicht. Besagt sie doch, dass ca. 1% in einer Netzwerk-Community besonders aktiv ist. Da sollte man hier doch schon 4 Rezensionen von den Fans erwarten können.

Wie man im Weiteren noch lesen kann, erkenne ich auch keine inhaltliche Enttäuschung, welche die Zurückhaltung der Projektbegeisterten erklären könnte. Angesichts der doch umfangreichen und sehr enthusiastischen Berichterstattung über das Buchprojekt im Vorfeld und der hohen Netzreputation Dirk von Gehlens ist es doch eine enorme Enttäuschung zu sehen, dass das wichtigste Ziel des Projektes offenbar nicht erreicht wird: Leser.

BildIch gehöre nicht zu den finanziellen Unterstützern vorab, doch zu den nachträglichen Käufern (eBook, das mir hier doch angebracht erschien) und Lesern. Getrieben hat uns wohl dennoch das gleiche: die Neugier, was dabei herauskommen mag. Und hierbei wird zunächst schon mal deutlich, dass sich Crowdfunding bei Kulturprodukten – besonders Büchern – kaum vom klassischen Erwerb unterscheidet. Denn in beiden Fällen investiert man sein Geld sehr ungewiss – bei Ersterem muss man nur länger warten. Während ich mir über viele Gebrauchsprodukte vor dem Kauf schon recht gut ein Urteil bilden kann, ist dies bei Büchern nun mal erst nach dem Gebrauch möglich. Aus Sicht des Rezipienten wäre also das umgekehrte Businessmodell wirklich eine radikale Innovation: erst lesen, dann zahlen. Doch zugegebener Maßen kann ich jeden Produzenten verstehen, der dieses Risiko meiden möchte. Und das Fazit dieses Crowdfunding Experiments bestärkt das noch.

Was ist inhaltlich herausgekommen? Auf jeden Fall nicht das, was ich erwartet habe. Und das ist ja nun mal nicht unbedingt schlecht, denn es hat mich schon überrascht. Ich habe eine These vorgefunden, mit der ich mich zuvor so nicht befasst habe: Kulturprodukte werden zukünftig vermehrt einen anderen Aggregatzustand annehmen – vom festen in den flüssigen. Dies ist nicht im haptischen Sinn zu verstehen, sondern als das ewig Unvollendete. Wie technische Software so werde zukünftig auch „Artware“ in diversen Versionen upgedatet. Das ist meinerseits nicht so süffisant gemeint, wie es für manchen klingen mag. Es ist wirklich ein sehr spannender Aspekt, mit dem es sich zu beschäftigen lohnt.

Für mich war die Digitalisierung bislang überwiegend ein Produktionswandel, der massiv das damit verbundene ökonomische Modell ins Trudeln brachte. Einerseits die ubiquitäre Verfügbarkeit mit zu vernachlässigenden Distributionskosten und anderseits die unendliche Möglichkeit von Kopien ohne Qualitätsverlust führen zur zwingenden ökonomischen Logik, dass alles, was digitalisiert werden kann auch digitalisiert wird.

Doch mit Dirk von Gehlens These der Verflüssigung kommt ein spannender Aspekt hinzu, der bislang in der Kulturbranche wenig beachtet wird: wo sind die Microsofts und Co. im Kulturmarkt? Wann erscheinen die ersten Kunstprodukte, die regelmäßig upgedatet werden? Nicht Serien und weitere Alben sind damit gemeint, sondern z.B. Kunst, die sich regelmäßig neu formt und aufgrund von Feedback weiterentwickelt. Zugegeben, mir sind die damit denkbaren Kulturprodukte noch etwas fremd, doch es ist sicher richtig und wichtig, darüber weiter nachzudenken.

Es gibt zudem interessante Interviews und Beispiele, die den Themenkomplex von unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Alles in allem ist es für mich ein lesenswertes Buch, doch auch ein sehr konventionelles. Nichts Spannendes führt nun über dieses vorliegende Buch bislang hinaus – einzig die Entstehungsgeschichte war ungewöhnlich. Finanziell gab es zwar ein Happy End. Doch Geld ist ja bekanntlich nicht alles. Dirk von Gehlen selbst zu dem Experiment hier.

Eine weitere Rezension zum Buch gibt es von den Netzpiloten hier.

Alles Käse oder was?

BildAuch auf die Gefahr hin, jegliches Wohlwollen sensibler LeserInnen von Beginn an zu verspielen, gestehe ich, dass ich über den Kapitel-Einstieg zu „Luc Condamine“ in Yasmina Rezas Roman „Glücklich die Glücklichen“ am meisten gelacht habe:

„– Gestern hab ich Juliette mit der Hundeleine geschlagen, sagte ich. – Du hast einen Hund?, sagte Lionel.“

Jetzt darf ich mich wohl fragen, welch Geistes Kind bin ich eigentlich. Mitnichten amüsiert mich die reale Vorstellung, die mit dieser Bemerkung und der trockenen Erwiderung erweckt werden könnten. Diese Form des Humors – die einem Mann im Halse stecken bleiben sollte – hat eine Frau. Das legitimiert mir mein Lachen.

BildDass Yasmina Reza sehr sarkastisch sein kann, ist den meisten wohl aus der Verfilmung ihres Theaterstücks „Der Gott des Gemetzels“ bekannt. Reza hat offensichtlich gerne eine fokussierende Brille auf, wenn sie auf ihr bevorzugtes, wohl eigenes Milieu blickt. Während wir als Kinder gerne von der „Röntgenbrille“ träumten, die uns alle Welt entblößt, imaginiert Yasmina Reza sich eine Brille, die Fassaden bürgerlicher Konventionen und Affektiertheit durchleuchtet und die dahinter verborgene Vulgarität offenbart.

Ihr besonderes Talent ist es, dass sie das, was sie so zu erkennen glaubt, für uns unterhaltsam zu inszenieren versteht. Besonders auf der Bühne überzeugt sie damit. Aber auch mit diesem Reigenroman „Glücklich die Glücklichen“ amüsiert sie mit einem skurrilen Panoptikum an Personen, die man dem äußerem Schein nach zu den Glücklicheren zählen würde und alle in einer losen Verbindung miteinander stehen.

Das erste Kapitel des Romans hat es allen Feuilletonkritikern (Zeit, SZ, Spiegel) besonders angetan. Und auch mich hat das Lesen dieses Kapitels zum Kauf des Buches bewogen. In ihm beschreibt Reza famos die Eskalation eines lapidar beginnenden Disputs unter Eheleuten vor der Käsetheke in einem Supermarkt. Der Käse, der die Handlung des Romans ins Rollen bringt wird von allen Kritikern intensiv gewürdigt. In keinem der nachfolgenden 20 Kapitel gelingt es der Autorin wieder, so mitreißend und haarsträubend eine Alltagsszene zu beschreiben.

Aber Yasmina Reza schreibt immer wieder tolle Sätze und amüsante Bemerkungen. So legt sie zum Beispiel Darius Ardashir, einem zwielichtigen Schwerenöter, der gerade erfuhr, dass seine Frau einen Geliebten hat, in den Mund:

„Frauen nehmen sich keinen Geliebten, Sie verlieben sich, sie phantasieren sich einen Film zusammen. Sie werden komplett verrückt. Ein Mann braucht einen sicheren Ort, um der Welt gegenübertreten zu können.“

Und Remi Grobe, der gerade eine Affaire mit der Anwältin Odile Toscano hat, bekommt den Blues und denkt:

„Mir kam es fast vor, als würde sie sich fast langweilen. Es ging mir ja selbst fast so, mich packte der Trübsinn der Liebhaber, wenn sich außerhalb vom Bett nichts mehr tut.“

Doch bei aller Begeisterung für die Raffinesse und Bonmots muss ich gestehen, dass ich keinen tollen Roman gelesen habe. Eine tiefsinnige Geschichte entfaltete sich nicht vor mir. Die Episoden ließen sich nur schwer verknüpfen (mein Namensgedächtnis ist miserabel) und so war das Buch für mich weit mehr ein Erzählungsband als ein Roman.

Nicht zuletzt muss ich auch konstatieren, dass der Typ Mensch und das Milieu durch die Brille und Inszenierung Yasmina Rezas oft weit interessanter wirken als sie in Wirklichkeit wohl sind.

Der Gott des Gemetzels als Hörspiel gibt es frei hier.

Opportunisten aller Länder – vereinigt Euch!

weisen_AffenVor kurzem entdeckte ich den Franzosen Gustave Le Bon (1841 bis 1931). In seiner Abhandlung über die „Psychologie der Massen“ (1895) fand ich sehr viel bemerkenswert zeitloses zum Populismus, zu politischen Führungsqualitäten, ewig gleich lautendem kulturpessimistischen Gejammer, zum Opportunismus der Medien, zur Hypokrisie der Intellektuellen und über das Dilemma der parlamentarischen Demokratie, die uns wiederkehrende Finanzkrisen beschert und – gutmeinend – unsere persönliche Freiheit mehr und mehr einschränkt. Der Mann wäre heute wohl zumindest ein hoch beachteter Blogger.

BildGustave Le Bon gilt mit seiner knapp 200 Seiten umfassenden Abhandlung über die „Psychologie der Massen“, die 1895 in Frankreich erschien, gemeinhin als Vater der Massenpsychologie. Ca. 20 Jahre später traf es auch in deutscher Übersetzung den Nerv der mehr oder weniger bürgerlich intellektuellen Kulturpessimisten. Zumindest würde man Le Bon heute wohl in diesem Milieu orten. Im späteren beeinflussen seine Thesen, die er sehr lesbar, ja fast populärwissenschaftlich, erörtert, u. a. Intellektuelle wie Sigmund Freud, Max Weber, Hannah Arendt und auch Albert Camus. In dessen Biografie wurde ich von Iris Radisch auf Le Bon aufmerksam gemacht.

BildLe Bon vertritt einen bürgerlich-elitären Konservatismus, der angesichts des beginnenden „Zeitalters der Massen“ jeglicher Hoffnung auf sich daraus entwickelnde kulturelle, soziale und politische Fortschritte eine Absage erteilt. Die Masse, wie er sie empirisch beobachtet, ist bar jeder Vernunft. Selbst der Gebildete, der Einzelne, der sich im Alltag vernünftig zu verhalten versteht, wird in dem Moment, wo er Teil einer Masse wird, überwiegend von unbewussten, niederen Instinkten geleitet. Jede sich bildende Masse Mensch ist eine wachsende Ansammlung von Opportunisten. Die Masse nivelliert dabei all ihr geistiges Vermögen auf das niedrigste Niveau. Angesichts gegenwärtiger Massenveranstaltungen (Sport, Kultur, Politik, aber auch Netzwerken) kann man diese Beobachtung noch heute nicht gänzlich leugnen. Doch während sie hier noch harmlos erscheint, wirkt die Tumbheit der Massen in den gesellschaftspolitischen Fragen sehr bedenklich und – wie die Historie wiederkehrend mit ihren vielen blutigen Kriegen, Pogromen, Volksverhetzungen belegt – oft sogar mörderisch:

„Die Massen haben nur die Kraft der Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.“

Und an anderer Stelle:

„In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.“

Doch Le Bon versteht Masse nicht allein als den namenlosen Plebs oder diskriminiert sie als dumpfen Pöbel, sondern erkennt dieselben psychologischen Muster auch bei nicht namenlosen Gruppen, wie z. B. Geschworene, Parlamentarier oder Wissenschaftler. Auch wenn Le Bon es vermeidet, explizit sich selbst als gefährdet zu betrachten, so schließt er dies auch nicht aus. Offensichtlich ist jeder gefährdet, und es gibt keine geistige Immunität gegen Mitläufertum.

Der Glaube, verbunden mit der Suggestionskraft einfacher Bilder, und nicht Aufklärung sei die Triebfeder der Massen, lautet die Quintessenz von Le Bon. Und angesichts der doch kläglichen Erfolge eines bislang 250jährigen philosophischen Bemühens, uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu führen, kann man dieser Einschätzung nicht vehement widersprechen. Denn auch die heutigen gesellschaftspolitischen Ideologien erweitern nur das Spektrum der Glaubensrichtungen.

„Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir, dass sie namentlich durch Bilder erregt wird. Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfügung, aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen. … Worte, deren Sinn schwer zu erklären ist, sind oft am wirkungsvollsten. So z.B. die Ausdrücke Demokratie, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit u. a., deren Sinn so unbestimmt ist, dass dicke Bände nicht ausreichen, ihn festzustellen. Und doch knüpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben, als ob sie die Lösung aller Fragen enthielten. In ihnen ist die Zusammenfassung der verschiedenen unbewussten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendig.“

Entsprechend ablehnend würde sich Le Bon heute wohl auch über die Schwarmintelligenz äußern:

„Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf. Es hat nicht, wie man so oft wiederholt, die „ganze Welt mehr Geist als Voltaire“, sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die „ganze Welt“, wenn man unter dieser die Massen versteht.“

Le Bon bescheinigt den Massen nicht nur geistlosen Opportunismus, sondern auch Obrigkeitshörigkeit und Duckmäusertum:

„Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflusst. Niemals galten Ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden.“ (Das lässt einen doch an einige lebende Personen und lupenreine Demokraten denken.)

Würde Le Bon heute auferstehen, könnte er sich vollends bestätigt in den kulturpessimistischen Diskurs des 21. Jahrhunderts einbringen. Die Entwicklung der Medien, besonders die Omnipräsenz und Verfügbarkeit von endlosen Informationen, wäre ihm Erklärung genug für die aktuelle Empörungsgesellschaft:

„Der Erwerb unnützer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel, einen Menschen zum Empörer zu machen.“

Seit an Seit mit Günter Grass & Co. würde er sich nach den guten alten Zeiten sehnen als Intellektuelle noch überzeugt von ihrer politischen gesellschaftlichen Relevanz waren und sich im naiven Glauben befanden, Meinungsbildner zu sein:

„Einst, und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns, wurde die öffentliche Meinung von der Tatkraft der Regierung, dem Einfluss einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen. Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluss eingebüßt, und die Zeitungen spiegeln nur die öffentliche Meinung wider.“

Und er würde mir vielleicht beipflichten, wenn ich behaupte, dass wir heute keine Politiker mehr wollen, die ernsthaft und manchmal schmerzhaft die Zukunft gestalten, sondern nur Verwalter unserer bürgerlichen Komfortzone wählen:

„Und was Staatsmänner anbelangt, so denken sie nicht daran, sie (die Masse) zu lenken, sondern suchen ihr nur zu folgen. Ihre Furcht vor der öffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede Festigkeit.“

Ebenso würde ihn wohl unsere wiederkehrende Enttäuschung über die Mehrheit von Führungskräften verwundern. Denn schon vor über 100 Jahren erkannte er:

„Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im Allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden.“

Ebenso müde oder vielleicht auch süffisant lächelnd könnte er die aktuelle medienkritische Diskussion verfolgen. Ist doch schon zu seiner Zeit klar, dass der heute so gepriesene, unabhängige, aufklärende und Haltung erfordernde Qualitätsjournalismus allenfalls sporadisch und in unauffälligen Nischen aufkeimt:

„Die Presse, die einstige Leiterin der öffentlichen Meinung, hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen müssen. Gewiss, besitzt sie noch eine bedeutende Macht, aber doch nur, weil sie lediglich die Widerspiegelung der öffentlichen Meinung und ihrer unaufhörlichen Schwankungen ist. Sie ist zum einfachen Informationsmittel geworden und hat darauf verzichtet, irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten. Sie geht allen Veränderungen des öffentlichen Geistes nach, sie ist dazu verpflichtet, weil sie sonst Gefahr läuft, durch die Maßnahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren. Die alten, ehrwürdigen und einflussreichen Blätter von ehedem, deren Ansprüche von der vergangenen Generation noch ehrfurchtsvoll wie Weissagungen angehört wurden, sind verschwunden oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden, die von unterhaltenden Neuigkeiten, Gesellschaftsklatsch und geschäftlichen Anzeigen umrahmt sind.“

Und wer glaubt, dass Feuilleton bilde da eine hoffnungsvolle Ausnahme und könne zumindest noch in elitären Kreisen seinen Einfluss behaupten, dem hat Le Bon schon 1895 vorgehalten:

„Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht, ein Buch oder ein Theaterstück durchzusetzen. Sie kann schaden, aber nicht nützen.“

Wer sich einmal die Mühe macht, Buchempfehlungen in den deutschen Feuilletons mit denen der Amazon-Rezensenten zu vergleichen, kann der Einschätzung nur zustimmen.

Wer bis hierhin noch nicht von der zeitlosen Relevanz Le Bons überzeugt ist, lässt sich vielleicht von seinem abschließenden Fazit einnehmen, in dem er uns auch deutlich macht, dass die aktuelle Krise der Staatsfinanzen, die wir historisch so einmalig empfinden, doch einzig nur eine logische Konsequenz unserer besten unter den schlechten, von den Massen getragenen Staatsformen ist. Denn auch nach Ansicht Le Bons erweist sich die parlamentarische Demokratie noch immer als die beste unter allen schlechten Regierungsformen. Sie birgt

„eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich: die übermäßige Verschwendung der Finanzen und die zunehmende Beschränkung der persönlichen Freiheit.“

Letzteres durch die unendliche Zunahme stets einschränkender Gesetzgebung. Und dass die wachsende Verschwendung von Staatsgeldern dann in die uns akut betreffende Finanzkrise führt, ist schon vor über 100 Jahren evident – und wurde schon damals von uns altbekannten Staaten angeführt:

„Das ununterbrochene Anwachsen solcher Ausgaben muss notwendigerweise zum Bankrott führen. Viele Staaten Europas, Portugal, Griechenland, Spanien, die Türkei, sind dabei angelangt, andere werden bald soweit sein. Aber man braucht sich nicht viel darum zu kümmern, da das Publikum ohne großen Widerspruch nach und nach die Kürzung von vier Fünfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Länder angenommen hat. … und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muss man sich damit begnügen, in den Tag hinein zu leben, ohne allzu sehr an das Morgen zu denken, das sich unserer Macht entzieht.“

Gustave Le Bon „Psychologie der Massen“ als Pdf hier.