Der Kurztext für Nervöse, die wissen wollen, ob Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“ lesenswert ist, lautet: Ja, aber nicht für Euch.
Die beschriebene Lebensgeschichte des Sonderlings Andreas Egger, der Anfangs des 20. Jahrhunderts als Waisenkind in die Berge zu verwandten Bergbauern entsendet wird und dort auch knapp achtzig Jahre später unbemerkt stirbt, kann wohl nur wertschätzen wer noch zur Hingabe fähig ist. Ich weiß, „Hingabe“ ist ein antiquiertes Wort, das heute allenfalls noch in Werbetexten für esoterische Äthermusik angewendet wird. Hingabe meinte einmal die Fähigkeit, sich mit allen Sinnen voll und ganz auf etwas einzulassen, sich von Raum und Zeit entrückt einer Sache gänzlich zu widmen. Das ist in unseren Multitasking geschulten Zeiten viel abverlangt.
Jedoch beobachten können wir dieses Phänomen der Hingabe noch tagtäglich – wenn wir Kinder um uns spielen sehen. Doch sobald die Phase der Adoleszenz erreicht ist, verkümmert diese Fähigkeit. Ab und an hat man später solch außergewöhnliche Momente der Hingabe noch beim Hören von Musik und seltener schon bei bildender Kunst und Dichtung. Manchmal aber auch beim Gang durch die Welt. Vorausgesetzt wir nehmen Momente wahr, die Schiller in seinen „Schriften über die Ästhetik“ als die „erhabenen“ bezeichnete.
Doch auch das „Erhabene“ ist ein antiquierter Begriff, den wir heute nur ungern benutzen. Zuviel Pathos enthält er. Dabei umschreibt er – im Sinne von Kant/Schiller – eine Stimmung zwischen Faszination und Furcht, die wir sonst nur schwer benennen könnten. Diese Stimmung stellt sich zum Beispiel ein, wenn wir von einem gesicherten Standort aus den bedrohlichen Anblick des stürmisch wogenden Meeres betrachten oder das Herangrollen einer gewaltigen Gewitterfront vernehmen oder auch beim Aufblick zum Felsmassiv eines mächtigen Berges.
Und damit kommen wir wieder zurück zum Sonderling Andreas Egger und seiner Lebensgeschichte, die Robert Seethaler sehr berührend erzählt. Der wortkarge Andreas Egger steht für das schlichte Gemüt, das unsere rousseauistische Sehnsucht nach einer intellektuell unverdorbenen Lebensart weckt. Er lernt zwar Lesen und Schreiben, jedoch bleibt beides rudimentär und mühsam. Im Gegensatz zu uns wird er nie ein Buch lesen und es würde ihm nie in den Sinn kommen, dass sich sein Leben „ästhetisieren“ lasse – was aber Robert Seethaler sehr bewegend macht.
Robert Seethaler komponiert in unsentimentaler Tonart den kargen, rauen Lebensweg eines einfältigen, genügsamen Mannes, dem das Alleinsein, das auf sich allein gestellt sein, nicht Bürde, sondern Bestimmung ist. In keinem Moment aber romantisiert der Erzähler. Das ist beachtlich, denn die Verführung unter gebildeten, urbanen Menschen ist groß, solche Lebensweisen literarisch zu überhöhen. Der Verführung erliegen sicher auch einige Leser des Romans.
Dabei wird offenkundig, dass solch ein Leben in unkultivierter Ursprünglichkeit uns nicht sentimental stimmen sollte. Denn unsere Anteilnahme an so einem Leben ist erst möglich durch Erzähler, die es in solch sublimierte Form wandeln können. Nur einem begabten Autor gelingt es, uns so mitfühlend zu packen und uns teilhaben zu lassen an einem bitteren Schicksal, dessen Dramaturg anfänglich die Natur ist. Die Bergweltnatur mag den Feinsinnigen erhaben erscheinen, doch für Menschen wie Andreas Egger ist sie zuvorderst ungnädig.
Die Natur beraubt den ansonsten anspruchslosen Egger um das einzige, bescheidene Glück, das er sich einmal im Leben wünschte. Einmal mehr ist der Tod ein ständiger, recht geschäftiger Gesell in dieser abgelegenen Gegend, die jedoch von einer stetig wachsenden Zahl an Touristen besucht wird. Aus deren Sicht ist es ein idyllisches Hochtal in dem man glückselige Tage verbringen möchte. Den Einheimischen verhilft das zwar zu wachsendem Wohlstand, doch deren weltferne Haltung ändert sich nicht. Und Egger profitiert von der touristischen Erschließung nur marginal indem er sein Auskommen vor dem Krieg als Arbeiter beim Seilbahnbau und nach Krieg und russischer Gefangenschaft als Bergführer findet.
Man muss sich Andreas Egger dennoch als stoisch zufriedenen Menschen vorstellen. Er hadert selten mit seinem Schicksal und ist auch nie von entdeckerischer Sehnsucht erfüllt. Im Gegenteil, ein kurzer Ausflug im hohem Alter in die unbekannte Umgebung macht ihm nur noch Angst. Doch die „Heimkehr“ beschert ihm dann wenigstens ein wohliges Gefühl:
„Er war so lange nicht weggewesen, dass er vergessen hatte, wie es sich anfühlt, nach Hause zu kommen.“
Dass aber auch Robert Seethaler gerne seinem Protagonisten die feinsinnige Empfindung des Erhabenen andichten möchte, wird in dem Moment deutlich, als die erste Seilbahn in Betrieb geht, an deren Bau Andreas Egger beteiligt war:
„Seitdem vor wenigen Tagen die Blaue Liesel bei ihrer Probefahrt vorsichtig ruckelnd, jedoch ohne weitere Zwischenfälle zum ersten Mal emporgeschaukelt war, schienen die Berge etwas von ihrer ewiggültigen Mächtigkeit eingebüßt zu haben.“
Und wenig später, kurz vor Ausbruch des Krieges, lesen wir (und manch einer hört dazu die Morgenstimmung von Grieg):
„… und er sah, wie mit den ersten Sonnenstrahlen die Berge aus der Nacht wuchsen, und obwohl er dieses Spektakel schon Tausende Male beobachtet hatte, berührte es ihn diesmal auf eigenartige Weise. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben etwas so Schönes und gleichzeitig so Furchteinflößendes gesehen zu haben.“
Schiller bemerkte 200 Jahre zuvor, dass dort, wo der Mensch die Natur bezähmt und sich keine Furcht mehr einstellt, sich auch die Stimmung des Erhabenen verflüchtigt. Robert Seethaler erschafft mit seiner Romanfigur einen Zeitzeugen dafür, wie allmählich das Erhabene aus unserer modernen Welt verschwindet oder sich in sentimentalen Kitsch verwandelt.
Mit dem Erhabenen in der Welt des Andreas Eggers ist es denn auch nach seiner Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft endgültig vorbei. Die eindringenden Touristen und Techniken in die kurz zuvor fast noch archaische Welt, verändern ihn nicht. Vieles befremdet ihn und er macht sich auf den Begegnungen mit den fremden Wanderern seinen eigenen Reim:
„… doch wurde er sich mit den Jahren immer sicherer, dass die Touristen im Grunde genommen weniger ihm als irgendeiner unbekannten unstillbaren Sehnsucht hinterherstolperten.“
So wenig beneidenswert das Leben von Andreas Egger ist, umso mehr ist es sein beschriebenes Ende:
„Er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“
Robert Seethaler hat mir mit seinem Roman eine sehr bewegende Geschichte erzählt und mich in eine außergewöhnliche Stimmung gebracht. Für mich ist das beeindruckende Kunst und auch „große Literatur“. Neben einigen anderen Neuerscheinungen in diesem Jahr, wie u. a. Bodo Strauss Herkunft, beweist mir dieser Roman, dass es uns daran auch in den nächsten Jahren nicht mangeln wird – allen Kulturpessimisten zum Trotz.
Wer sich gerne einen anderen Blick auf das Buch wünscht, dem kann ich die Rezensionen von Kaffeehaussitzer, Literaturen Buchpost, intellectures, die Leselust empfehlen.
Zu guter Letzt gibt es noch ein zweites Buch von Robert Seethaler zu empfehlen: Der Trafikant. Dieses Buch erzählt in einer völlig anderen Tonart die faszinierende Fiktion einer Begegnung eines jungen Mannes vom Land mit Sigmund Freud in Wien im Jahr 1938, wo Freud kurz davor steht, die Stadt ins Exil zu verlassen. Eine ebenso wunderschöne wie wundersame Geschichte, über die man bei Philea´s Blog, SätzeundSchätze und bei Literaturen mehr erfährt.
Eine schöne, nachdenkliche Rezension. Vor allem der Hinweis auf die Hingabe zu Beginn und Eggers „Funktion“ als Zeitzeuge einer verschwindenden Lebenserfahrungen finde ich sehr gelungen. Unabhängig vom Ästhetischen, sehe ich im Roman auch eine verdeckt psychologische Seite, indem Naturerfahrung m.E. auch immer eigene, vergangene Erziehungs“erlebnisse“ widerspiegelt, das Erhabene auch immer Hilflosigkeit und die Angst um das eigene Leben impliziert. Eggers Einstellung zum gewandelten Erziehungsstil in den Schulen und das daraus resultierende ungebärdige Verhalten der Schüler (auch eine Art Naturgewalt) werfen ein weiteres Licht auf dieses Thema des Buches.
Beim Lesen des Kurztextes haben mich meine Nachbarn gehört. Beim Auflachen. – Spannend, wie unterschiedlich Besprechungen sein können. Aber das macht es ja umso interessanter.
Ja, das fasziniert mich auch immer, wie unterschiedlich Literatur besprochen und empfohlen wird.
Meine Eigenart resultiert auch aus meinem Umgang mit Rezensionen. Ich mag vor dem Lesen so wenig wie möglich über den Inhalt erfahren. Ich lese sie deshalb immer nur schnell quer und schiele nach Kriterien der Beurteilungen und Querverweise. Erst nach dem Lesen, lese ich dann Rezensionen ausführlicher und freue mich, wenn dadurch noch ungewöhnliche Aspekte, Assoziationen und Querverweise hinzukommen.
Denn mir selbst liegt daran, Bücher zu finden (und zu empfehlen), die mir überraschende Impulse geben und manch Erhellendes zutage fördern.
Dass Rezensionen besonders interessant sind nach dem Lesen eines Buches, kann ich nachvollziehen. Ich denke nur nicht immer dran, nach solchen zu schauen (und mein Lesepensum an Neuerscheinungen – zu denen mir eine irgendwo gesichtete Besprechung also noch frisch im Gedächtnis ist – ist nicht so sehr groß).
Als Kind der Berge, das sehr gerne alleine in der Bergwelt und Natur unterwegs ist, werde ich mir dieses Buch bestellen. Bin neugierig!
Liebe Grüsse Erika