Als ich die letzte Seite des Romans „Der Grund“ beendete, nein besser: ausklingen lies, empfand ich diesen Moment wie das Ende eines fulminanten Konzertabends. Nach dem letzten Akkord ist man noch eine empfundene kleine Ewigkeit entrückt bis man sich innerlich rüttelt und einen furiosen Applaus anstimmt. Anne von Canal hat nicht einfach einen Roman geschrieben, sie hat eine tief bewegende Lebensgeschichte komponiert.
Die Analogie zur Musik liegt zwar recht nahe – denn sie ist im Roman ein wesentliches durchgängiges Element – jedoch ist die Kenntnis über und Leidenschaft für Musik keine Grundbedingung für den Leser. Wissend, dass nur ca. ein Drittel der Menschen sich von Musik wirklich ergreifen lassen, die Mehrheit jedoch Musik bestenfalls als dekorative Geräuschkulisse schätzt, wäre dies auch schon ein erhebliches Ausschlusskriterium.
Dieser Roman kann alle gefangen nehmen, die in ihrem Leben schon mal über das oder ihr Schicksal ins Grübeln geraten sind. Und alle, die sich schon mal die schwer zu beantwortende Frage stellten, wie weit ist unser Leben selbst- oder fremdbestimmt. Damit einher geht dann auch die Frage: Wie verantwortlich bin ich für meinen Lebensweg?
Hierzu hat Anne von Canal mit der fiktiven Lebensgeschichte des mit viel Talent und einem attraktiven Äußerem gesegneten Pianisten Laurentius eine Romanfigur in den Mittelpunkt gestellt, die uns einerseits Respekt abfordert, uns jedoch anderseits auch angesichts ihres Fatalismus hadern lässt. Die Figur erweckt bei mir viel Mitgefühl, ist mir sympathisch, doch ihre Haltung provoziert meinen gedanklichen Widerspruch – also literarisch perfekt angelegt.
Laurits, wie Laurentius als Kind genannt wird, wächst gut situiert in den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts als Einzelkind in einem Villenviertel bei Stockholm auf. Im Gegensatz zum aufkeimenden Zeitgeist – repräsentiert durch seinen Freund Pelle – bleibt er bis zum achtzehnten Lebensjahr ein opportunistisches Kind, das sich von seiner lebensfrustrierten Mutter in die Obhut einer Klavierlehrerin geben lässt und sich einer patriarchalischen Erziehung beugt.
Sein Talent zum Klavierspiel macht ihn introvertiert und desinteressiert am sonstigen Weltgeschehen. Nur sein Freund Pelle öffnet ihm ab und an das Tor zum rebellischen Leben der Jugend draußen. Doch er lebt unter der Glocke einer kulturbürgerlichen Illusion der Mutter. Mag oder vermag er nicht aus dieser Obhut ausbrechen? Dies ist die erste entscheidende Frage, die der Roman uns nicht beantwortet, sondern der Leser sich beantworten muss. Denn alles nun Folgende im Leben von Laurits wird entweder bestimmt durch ein selbstgewähltes sich fügen, für das man sich später verantwortlich zeigen sollte, oder durch fremdgesteuerte Weichenstellungen, die man später als elterliche oder gesellschaftliche Oktroyierung anprangert. Zu letzterem tendiert Laurits. Ich als Leser zu ersterem.
Laurits repräsentiert für mich den willensschwachen, dankbaren Opportunisten, der sich dem Schicksal ebenso widerstandslos beugt wie er auch gerne damit hadert. Zu keinem Zeitpunkt in seinem Leben erachtet er sich verantwortlich für die Wahl seines Lebensweges. Er folgt, er ergibt sich oder er flüchtet. Es passt sehr gut, dass sein beruflicher Lebenstraum Pianist ist. Denn das beschränkt ihn auf virtuose Wiedergabe von Gegebenem. Nie versucht er sich als Komponist – weder in der Musik noch im Leben. Nie rebelliert er, nie sucht er das Wagnis oder unbekanntes Terrain. Laurits zählt zu dem nicht seltenen Typus Mensch, denen vieles zu- und leichtfällt und die sich in dieser Bequemlichkeit einrichten. Wenn überhaupt, haben sie ein recht egozentrisches Weltbild, an dem sie nicht rütteln lassen wollen. Denn ihnen fehlt der Mumm zum Austragen eines Konfliktes. Kampflos schmollend wenden sie sich lieber ab und nur selten anderen Menschen empathisch zu.
Pelle, sein Jugendfreund, steht für das andere Extrem dieser Lebenshaltungen. Er nimmt sein Leben selbst in die Hand, wagt sich hinaus in die Welt. Das ist zwar nicht politisch motiviert, jedoch befreiend aus bürgerlichen Zwängen. Doch man muss fair im Urteil bleiben: Pelle hat in der bürgerlichen Welt auch nicht viel zu verlieren. Weder kommt er aus einer vermögenden Familie, noch zeigt er besondere Fähigkeiten, die er ausbilden könnte. Die Lebensalternative „Pelle“ verblasst allmählich im Leben Laurits. Ab und an meldet sich der Freund aus verschiedenen Ecken der Welt und ab und an sendet ihm Laurits auf seine Bitte hin Geld. Das ist für ihn ein dankbarer Ablass für seine sonst kaum eingestandene Lebenslüge.
Mit derselben stoischen Fähigkeit, mit der Laurits es zu herausragendem Klavierspielen gebracht hat, studiert er erfolgreich Medizin und fügt sich damit dem väterlichen Drängen. Dabei lernt er Silja, seine zukünftige Frau, kennen mit der er parallel zum Studienabschluss eine Familie begründet – was letztlich auch trotzig gegenüber seinen Eltern ist, die sich sicher eine bessere Partie gewünscht hätten. Dass Silja einen estnischen Migrationshintergrund hat, spielt im weiteren Verlauf der Geschichte eine ebenso gut konstruierte Rolle, wie auch das anfängliche Kapitel des Buches, in dem die letzten Funksprüche vor dem Untergang der Estonia zitiert werden, einer der größten Schiffkatastrophen der Neuzeit. Überhaupt ist der Roman von Anfang bis Ende kunstvoll dramatisch aufgebaut und gipfelt zum Ende hin in einer spannenden, erschütternden Szene, die wohl kaum ein Leser vorausahnen wird.
Der Roman ist auf vielen Ebenen beeindruckend. Auch die erzählerische Form ist – um im Duktus der Musik zu bleiben – virtuos. Den Rahmen bildet der bittere biografische Blick auf sein Leben, den der ca. 45jährige Laurits auf einem Kreuzfahrtschiff macht, auf dem er als wiedererstarkter Pianist engagiert ist und den „Play it again, Sam.“ mimt. Seine Erinnerungen mit Rück- , Auf- und Abblenden und überraschenden Erweckungen von Bildern und Szenen seines Lebens geben Einblick in seine subjektive Sicht auf sein Schicksal. Alles ist harmonisch ineinander verwoben und einzig ein müder Leser könnte hier und da den Faden verlieren. Doch der lässt sich dann schnell wieder finden und aufnehmen.
Trotz des intensiven Eintauchens in seine Erinnerungen gelangt Laurits nie wirklich bis zum Grund einer selbstkritischen Erkenntnis. Am Ende des Romans mag man aus einer Randbemerkung noch Hoffnung schöpfen, dass der Grund zumindest in greifbare Nähe rückt und Laurits doch noch Konsequenzen zieht. Doch das so zu interpretieren, obliegt dem Leser. Jeder Leser ist aktiver Teil dieses Romans. Denn sein Weltbild, seine eigene Haltung zum Leben und seine Rechtfertigung über seine Lebensentscheidungen werden sich im Verständnis und Mitgefühl der Lebensgeschichte von Laurits spiegeln.
Ich gehe beispielsweise mit Laurits hart ins Gericht, da ich die Haltung habe, dass wir Menschen überwiegend selbst verantwortlich für unsere Lebenswege sind. Schicksale, wie sie hier Laurits ereilen, sind Herausforderungen, denen wir selbst verantwortlich begegnen müssen. Es liegt meines Erachtens an uns, mit welcher inneren Haltung wir das tun und wir den unvorhersehbaren Wendungen gegenüber treten wollen: als Epikureer, als Stoiker oder als Fatalist.
Vielleicht bin ich aber auch so kritisch mit der Figur, da mir das beschriebene Schicksal fast ein wenig Menetekel ist. Denn bei mir Zuhause sitzt ein Siebenjähriger, der sein Leben mit ähnlichen Voraussetzungen noch vor sich hat. Doch bleibe ich noch entspannt. Denn unsere elterlichen Ambitionen gelten primär dem Zugang zur Musik und nicht der Virtuosität eines vielleicht talentierten, doch wohl wahrscheinlich brotlosen Pianisten:
Diesen Roman hätte ich zumindest auf der Longlist des deutschen Buchpreises 2014 erwartet. Die Kritiken in den Feuilletons dazu sind mir zu wohlwollend seicht. Da bevorzuge ich doch die differenzierteren aus den Blogs von Isabel Bogdan, Lust zu lesen, Schöner Denken, Leseschatz, Feiner reiner Buchstoff oder die etwas weniger begeisterten von aus.gelesen und Bibliophilin.
Eine sehr gute, differenzierte Rezension! Und danke fürs Verlinken! Mir hat der Roman sehr gefallen. Ich bin gespannt, was von der Autorin als Nächstes kommt.
Sehr spannend auch der Hinweis auf die wissenschaftliche Forschung zum Glücksempfinden bei Musik.
Eine beeindruckende Rezension!
Und ja, du hast ganz sicher Recht: jeder Leser wird die Person Laurits gemäß seinem Weltbild bewerten.
Herzlichen Gruß
Sonja
PS.: Im Übrigen freue ich mich über die Verlinkung – und ich hätte das Buch auch sehr gerne auf der Longlist gesehen.
Danke Dir für den Kommentar und die „Blumen“. Es war spannend, Deine und die anderen Rezensionen (auch die bei amazon) zu lesen. Sie sind fast alle entweder begeistert oder zumindest voller Respekt. Und den hat Anne von Canal meines Erachtens mehr als verdient. Umso bedauerlicher, dass sie nirgends bislang für einen der Buchpreise vorgeschlagen. Oder habe ich da was übersehen?