Michel Houellebecq lesen – le Misanthrope oder der Weise von Frankreich?

IMG_8933Die offenbar nicht enden wollenden tragischen Ereignisse der vergangenen Wochen machen mich vor allem eins: ratlos. Bei allem, was ich dazu gelesen habe hat sich letztlich bei mir nur eine Ansicht verfestigt:

Mir geht jegliches Verständnis und Verstehen wollen ab. Hier wurde eiskalt und menschenverachtend geplant, gemeuchelt, gelyncht und auch noch völlig Unbeteiligte (Supermarkt) hingerichtet, weil sie Juden sind. Hier gibt es nichts zu relativieren. Und selbst wenn einer öffentlich auf den Koran pinkelt oder weiß Allah noch macht, suche ich nicht bei solchen Tätern nach entlastenden Motiven. Wenn jemand im Affekt tötet, kann ich das (vielleicht) noch, aber hier nicht.

Parallel dazu gipfelt eine Debatte, die nicht erst seit Pegida völlig vergiftet in den Medien geführt wird, in einem Machtwort der Kanzlerin, das viele Fragen in mir auslöste, über die ich noch einige Zeit grübeln werde:

„Der Islam gehört zu Deutschland.“

In dieser Debatte wurden und werden so viele Worte wörtlich genommen, dass es mich ziemlich befremdet hat, dass Frau Merkel diese hohle Phrase nochmals bedient hat. Mich irritiert das Statement aus dem Munde von Vertretern einer Partei, die „Christlich“ als politisches Bekenntnis in sich trägt. Für mich war dies immer ein wesentlicher Grund, dass diese Partei nicht meine politische Heimat sein kann.

Man muss nicht die Bibel oder den Koran gelesen haben, aber das Grundgesetz.

Man muss nicht die Bibel oder den Koran gelesen haben, aber das Grundgesetz.

Ich lehne jegliche religiös fundierte Politik ab. Wenn nun Frau Merkel konkret sagt, der Islam gehöre zu Deutschland und eben nicht Muslime (wie selbstverständlich alle Menschen, die hier gerne auf dem Fundament eines Staates leben, der sich auf einer herausragenden Verfassung gegründet hat, die – im Gegensatz zum Koran oder der Bibel – jeder gelesen haben sollte), sträubt sich alles in mir dagegen. Und mein anfängliches Unbehagen, das mancher als Sophisterei abwinkt, verstärkt sich mehr und mehr, wenn Frau Merkel jetzt auch noch Christen in Deutschland auffordert, sich intensiver mit ihrer Religion und der Bibel zu befassen.

Moliere_MisanthropAllmählich erachte ich Michel Houellebeuq, nach dem was ich nun alles schon in den Vorbesprechungen lesen konnte, nicht mehr für einen zynischen Misanthropen, sondern fast schon für einen hellseherischen Weisen.

Ab heute werde ich dieser Annahme nachgehen und seinen Roman „Unterwerfung“ lesen, so wie 100.000 andere in Deutschland auch und sicher bald mehr. Sein Roman wäre meines Erachtens ideal, um auch mal das aktuell gehypte „Social-Reading“ zeigen zu lassen, was es leisten kann. Doch bislang habe ich noch keine Einladung dazu gefunden oder eine Plattform entdeckt, die die Chance aktiv nutzt. Vielleicht auch eine verpasste Chance des Verlags Dumont.

Letztlich mag es aber auch einen Grund haben, den wir uns vielleicht nicht öffentlich eingestehen wollen: Selbstzensur. Denn die Debatte ist, wie oben schon angesprochen, derart vergiftet, dass man kaum einen kritischen, differenzierenden Gedanken dazu formulieren kann, ohne gleich virtuelle Backpfeifen oder gar Rassismus-Vorwürfe als Resonanz zu bekommen. (Nebenbei: es gibt auch einen positiven Rassismus, dem viele naive Gutmeinenden unterliegen) Und wenn ich schon als kaum beachteter Blogger und Twitterer die Schere im Kopf habe, welche Vorbehalte haben dann erst Journalisten, Politiker und populäre Menschen, die kommentieren und Statements geben müssen?

Ich freue mich über jeden, der mich beim Lesen von „Unterwerfung“ begleitet und seine Gedanken dazu mit mir teilt, z. B. per Kommentar und/oder Link.

Hier einige Links zu Vorbesprechungen des Romans:

In der Zeit, der FAZ, der Spiegel, die Welt, die SZDeutschlandradio Kultur ,

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7 Gedanken zu “Michel Houellebecq lesen – le Misanthrope oder der Weise von Frankreich?

  1. Hat dies auf LOB's Metier rebloggt und kommentierte:
    Ich frage mich, ob Michel Houellebecq den Roman heute anders schreiben würde, mit dem Wissen auf die Anschläge in Paris? Charlie Chaplin hat nach dem Krieg gesagt, hätte er gewusst wie schlimme es den Juden in den Lagern der Nazis ergangen ist, hätte er den Film „Der Große Diktator“ nicht abgedreht.

  2. Besser hätte mir aber ein psychologischer Roman über die polygame Ehe gefallen, wie sich die Figuren darin zueinander verhalten. Wie die Junge wohl die Alte in der Küche ansieht, ob sie in ihr ihre eigene Zukunft sieht, sobald ihr Fleisch nicht mehr frisch ist? Mit welchem Gefühl? Sieht die Köchin mit Neid auf das Hüpferl oder belustigtem Schmunzeln, weil sie sich ihr weiserweise sehr überlegen fühlt? Wie finden die Frauen sich damit ab, einer Profession entsagen zu müssen und hinter den Mauern des Heims eingekerkert zu sein? Kann man dennoch Ränke schmieden? Den Patriarchen als Werkzeug benutzen? Gerät dieser in Versuchung Partei zu ergreifen bei eventuellem Gattinnenstreit? Kann er wie Salomon immer gerechtes Urteil fällen? Ok, vielleicht sollte ich mal einen Roman aus dem Iran lesen. Die Figuren bei Houellebecq bleiben ja ganz blass, ein einziger Ideenroman mit Sottisen und Witzen, wie, dass François‘ Dissertation 788 Seiten umfasst und ihn 7 Jahre gekostet habe auf Seite 219.

    Was ich schön gefunden hätte und nicht genau weiß, ob es drin ist, weil ich zu schnell und oberflächlich gelesen habe: Wenn der Stil sich geändert hätte. Zu Beginn arrogant-überlegen, es ist alles schön geordnet in der Akademiewelt, Karriere machbar, Herr Nachbar, Intrigen würzen, Personalschach kann Ehrgeiz reizen… Dann im Kloster auf Huysmans‘ Spuren muss es düster werden, drückend bei den schweigenden Trappisten (mit der einen Ausnahme, amüsant, naja). Die lärmende Eisenbahn sorgt ein wenig für Trostlosigkeit, aber ist H.s Stil da verändert? Und zuletzt schließlich sollte islamische Ornamentik aufwuchern, wie ich mir einbilde, dass sie ein bisschen das auch tut im Haus Redigers… Aber das ohne Gewähr, isst wahrscheinlich nur Einbildung.

  3. Juden, Muslime, Christen, Buddhisten, Atheisten, Paganisten, etc. … das alles gehört zu Deutschland. Ein Christentum, das durch Aufklärung und Humanismus gezähmt und zivilisiert/humanisiert wurde, meinetwegen auch noch. Aber auf einen „Islam“ der weder Aufklärung noch Humanismus kennt, keine zentrale Autorität hat, und dessen heiliges Buch in weiten Teilen eine politische, aggressive, eroberungssüchtige Handlungsanweisung aus dem Früh-Mittelalter ist, kann ich gut verzichten. (Ich hab‘ das Ding gelesen, ebenso wie die Bibel. Übersetzung hin oder her – man kann gar nicht missverstehen, was da teilweise vom Gläubigen erwartet/gefordert wird. Wunderbar für Leute, die nicht selbst denken wollen oder können).

    Würden die 4 Millionen Muslime in Deutschland den Koran, die Hadite und die Scharia wörtlich befolgen – so wie es der islamische Glaube fordert – wir hätten schreckliche Zustände. Das Grundgesetz sollte uns vor Religionen, die gleichzeitig politische Agenda sind, bewahren. Nur tun sich unsere Politiker sehr schwer das umzusetzen, weil sie sich nicht dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit aussetzen wollen und betreiben daher lieber Appeasement.

  4. Ja, die Chance eine lektürebegleitende Plattform zu »Unterwerfung« einzurichten hat Dumont verpasst. Vielleicht sind sie auch nur vor der vergifteten Debatte zurückgeschreckt, die dort gewiss losgetreten worden wäre.
    Ich habe H.M. schon immer für mehr als einen zynischen Misanthropen gehalten, was nicht zuletzt sein wundervoller Gedichtband »Gestalt des letzten Ufers« bewiesen hat.
    Die ersten 60 Seiten des neuen Romans haben das (vorerst) bestätigt. Ich glaube er treibt hier ein satirisches Was-wäre-wenn-Spiel, gewürzt mit viel Ironie und einer für ihn typischen Alter-Ego-Erzählfigur.
    Bin gespannt auf Deine Eindrücke und werde sie gegebenenfalls gerne ergänzen und/oder kommentieren.
    lg_jochen

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