Thriller-Reality-Show oder wenn der Amoklauf zum Live-Event wird

Schwarzblende

Nach dem Lesen von Zoë Becks Roman „Schwarzblende“ kam ich ziemlich ins Grübeln.

Zur Thrillerliteratur habe ich ein ambivalentes Verhältnis. Ich lese sie ab und an, so wie ich ab und an auch gerne Actionfilme schaue oder auch zeitweise recht fasziniert von den Pathologie- und Forensiker-TV-Serien war. Über die Gründe, warum dieses Genre so erfolgreich ist, wird zur Genüge an anderer Stelle psychologisiert. Ich selbst ertappe mich dabei, dass ich es dann bevorzuge, wenn ich der literarischen Tiefgründigkeit müde bin und denke, etwas lesen zu müssen, das mich einzig unterhält, jedoch persönlich – also mein Wesen – nicht berührt. Ich mag gebannt und angewidert sein, mag schaudern ob der monströsen Gesellschaft, die mir hier geschildert wird, aber letztlich bleibt sie mir völlig fern und fremd.

Über Thriller intensiver zu reflektieren, käme mir deshalb nicht in den Sinn. Denn in Bezug auf die Realität sind Thriller für mich literarische Drohnen. Sie sichern mir die größtmögliche, notwendige Distanz, um ihr Sujet erträglich zu machen. Die Story mag noch so realitätsnah sein, ich verlasse mich zum eigenen Schutz auf ihre Fiktionalität. Würde ich jeden Thriller so lesen (müssen) als wäre er das minutiöse Tagebuch eines realen, literarisch talentierten Serienkillers oder eines Amokläufers wie Breivik, könnte und wollte ich sie nicht lesen. Das Gleiche gilt auch für Filme dieses Genres.

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Aus dem Film „Millionenspiel“ Jörg Pleva in der Rolle des gejagten Bernhard Lotz.

Es gab eine Zeit, in der ich diese Distanz noch nicht hatte: meine Kindheit. An prägende Literatur erinnere ich mich nicht, jedoch an Fernsehmomente, die mich im Nachhinein diese Distanz lehrten. Es war zum einen „Das Millionenspiel“, ein kongenialer Fernsehfilm, der 1970 im ZDF ausgestrahlt wurde, und den ich mit 9 Jahren bei meinen Großeltern sah. Ich kann mich nicht erinnern, dass man mich damals darüber aufgeklärt hätte, dass dies nur ein Film sei. Ich war felsenfest überzeugt, dass hier echte Kandidaten vor Auftragskillern durch die Stadt flüchteten und darauf hofften, am Ende der Show 1 Mio. Mark zu gewinnen wenn sie überleben.

Zum zweiten war es Aktenzeichen XY. Auch hier muss ich ca. 10 Jahre gewesen sein als ich einen Beitrag sah, der mich bis tief ins Mark erschütterte. Es war die Eingangsszene mit einer Familie beim Sonntagsspaziergang. Während die Eltern auf dem Waldweg liefen, spazierte das Kind in meinem Alter durchs angrenzende Unterholz. Plötzlich stockte es und rief zu seinen Eltern: „Mutti, Papi, kuckt mal, hier wachsen ja Haare.“ Diese beiden mir noch heute nach über 40 Jahren sehr klaren Erinnerungen konditionierten meine distanzierte Rezeption von Gewalt in den Medien. Ich kann mich nicht erinnern, nachdem ich diese TV-Momente verarbeitet hatte, noch irgendwann medial vermittelte Gewaltszenen erlebt zu haben, die mir wirklich unter die Haut gingen. Ich hatte und habe bis heute eine schützende Distanz eingenommen. Und bis 9/11 war das auch gut so.

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Quelle: Wikipedia

Seither, seit der Live-Übertragung dieses wohl erstmals so intensiv dokumentierten Gewaltaktes, bei der annähernd wohl eine Milliarde Menschen vor den Bildschirmen saßen und tatenlos verfolgten/verfolgen mussten, wie Menschen freiwillig in den Tod sprangen, pervertiert meine schützende Distanz. Und mit der heute allgegenwärtigen, medialen Aufzeichnungs-, Übertragungs- und Verbreitungsmöglichkeit realer Gewalt wird mir diese distanzierte Rezeption immer fragwürdiger. Ich gerate in ein Dilemma, aus dem ich noch einen Ausweg suche.

Die zunehmend medial verbreiteten Aufzeichnungen von realer Gewalt durch Überwachungskameras oder von Zeugen oder Beteiligten mittels Handykamera bedrängt mich medial. Mein immer noch vorhandener Reflex, sich diese Realität vom Leib zu halten ist mir selbst nicht mehr geheuer. Besonders drastisch vor Augen geführt wurde mir das beim Anschlag auf Charlie Hebdo. Sehr früh kamen über meine Social-Media-Kanäle die Nachrichten zum Anschlag und auch die Verbreitung des Augenzeugenvideos das die Exekution des Polizisten auf offener Straße dokumentierte. Unvorbereitet, da noch unkommentiert, sah ich die ungekürzte und nicht verpixelt Version. Ich war und bin noch immer fassungslos darüber. Ich habe geheult. Ich war zutiefst betroffen. Doch zugleich spürte ich die pervertierende Distanz, die mir das Medium verschaffte. Es diese Distanz, die uns zu hemmungslosen Voyeuren oder Gaffern macht.

Die aktuelle Technik und jüngsten Ereignisse lassen uns erahnen, dass wir diese Medienmomente zukünftige ständig haben werden. Der nächste Flugzeugabsturz, der Ausbruch einer Massenpanik bei einer Großveranstaltung oder der Attentäter, der mit Helmkamera seine Taten live überträgt wird wohl zur Alltäglichkeit – auch im wörtlichen Sinne. Wie ich mit dieser medialen Realität lernen werde, umzugehen, weiß ich noch nicht. Ich denke noch darüber nach.

Zoë Beck hat schon intensiv darüber nachgedacht und ihre Überlegungen dazu literarisch in ihrem aktuellen Roman „Schwarzblende“ verwertet. Den habe ich nun gelesen. Er hat mich zu dieser Einleitung verführt. Meines Erachtens gelingt es Zoë Beck mit diesem Roman vorbildlich aufzuzeigen, wie man das aktuelle Zeitgeschehen und die auftretenden Phänomene für ein breiteres Publikum literarisieren kann ohne sie zwingend zu trivialisieren. Denn dies unterstellt man nicht selten dem Genre Krimi/Thriller, in dem sie sich bislang erfolgreich bewegt.

Sie selbst hadert damit, dass wir (Handel, Feuilleton und Leser) diese Schubladen benötigen. Doch letztlich scheint mir die Lade im Zweifel die bessere. Denn sie erreicht damit wohl Leser, die beim klassischen Belletristik-Genre zögerlich wären. Zu wünschen wäre, dass dieser Roman seine LeserInnen nicht nur spannend unterhält, sondern auch nachdenklich macht über die Fragen, die er aufwirft. Auch wenn weder er noch wir gleich Antworten parat haben. Schwarzblende_Beck

Wie intensiv der Entstehungs- und Schaffensprozess verlief, schildert Zoë Beck sehr offen und interessant – zuerst auf dem Blog von Claudias Bücheregal und jetzt auch auf ihrem eigenen Blog. Ich fand diese Schilderungen so überzeugend, dass ich sie bat, den Text auch bei mir veröffentlichen zu dürfen, was sie mir gestattete. Herzlichen dank dafür Zoë Beck. Es ist meines Erachtens nicht nur die beste Empfehlung für den wirklich sehr lesenswerten Roman, der jetzt schon nach kurzer Zeit in der 2.Auflage erscheint, sondern bietet auch einen sehr interessanten Einblick in die Arbeit der Autorin.

Hinter „Schwarzblende“

Vor zwei Jahren töteten zwei Männer in Südlondon den Soldaten Lee Rigby. Erst überfuhren sie ihn, dann hackten sie mit Messern auf ihn ein. Einer der Täter überquerte die Straße und gab einem Passanten eine Art Interview. Oder vielmehr, er sprach seine Rechtfertigung der Tat in dessen Handykamera. Er war sich bewusst, dass er gefilmt wurde. Er wollte gefilmt werden. Er hatte das Messer noch in der Hand. An seinen Händen und am Messer: das Blut von Lee Rigby. Nicht ein paar Spritzer, sondern so viel, als hätte er die Unterarme in seinem Blut gebadet. Im Hintergrund sah man den Toten auf der Straße liegen.

Ich sah das Video, das sich schnell im Netz verbreitete, am Tag der Tat. Mittlerweile sind die blutigen Hände und RigbysLeiche unkenntlich gemacht worden. Damals war noch alles zu sehen, ungeschnitten und unbearbeitet. Man findet auch Videomaterial von der Festnahme. Ich weiß noch, wie ich einen Freund anrief, um es ihm zu zeigen. Ich wollte an der Echtheit zweifeln, obwohl mir klar war, dass es echt war. Ich wollte mit jemandem darüber reden, obwohl ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Einerseits war da also die Sprachlosigkeit darüber, fast live fast einen Mord gesehen zu haben, andererseits der Umstand, selbst zum Voyeur zu werden, indem ich das Video teilte, nicht öffentlich, aber immerhin mit einem Freund. Ich machte an dem Tag nichts anderes mehr als nachzusehen, ob es neue Informationen über diese Tat gab.

Beides legte sich, die Sprachlosigkeit und der Voyeurismus. Irgendwann beschäftigte mich das Ganze als Phänomen. Ich schaue mir nun nicht aus Begeisterung brutale Videos an, im Gegenteil muss ich wegsehen, sobald irgendwo (Film-)Blut fließt. Es war tatsächlich weniger das Interesse an einem Mord, als die Frage, was die mediale Vermittlung mit mir macht. Mit mir, mit anderen. Warum ich da hängenbleibe. Auf dem Video sieht man Menschen, die stehen geblieben sind und nichts tun. Man sieht Menschen, die direkt an dem Mann mit dem blutigen Messer und den blutverschmierten Händenvorbeigehen. Sie nehmen keinen Umweg, sie weichen nicht aus. Voyeurismus bei den einen, Desinteresse (?) bei den anderen. Ist es so einfach? Ich weiß es nicht. Warum filmt der Typ, der da gerade filmt, überhaupt? Warum gehen die einen weiter und bleiben nicht stehen? Warum bleiben die anderenstehen und sehen zu?

Ich wollte mich aber vor allem damit auseinandersetzen, was Bilder und Videos mit uns machen. Helmut Lethen schrieb zu der Zeit gerade an seinem Buch „Der Schatten des Fotografen – Bilder und ihre Wirklichkeit“, in dem es u.a. darum geht, wie irreführend ein Foto sein kann, welche Emotionen es erzeugt im Gegensatz zu den wahren Umständen seiner Entstehung. Ich hatte Susan Sontags „Das Leiden anderer betrachten“ gelesen, Carolin Emckes „Weil es sagbar ist“ uvm. Ich beschäftigte mich mit Kriegsfotografie, u.a. mit James Nachtwey. Einiges davon findet sich wahrscheinlich in „Schwarzblende“, jedenfalls habe ich es versucht. All das fand zu einer Geschichte zusammen, das und die Videos vom und über den islamischen Staatdie sich nach und nach verbreiteten, sowie die Meldungen über geköpfte Journalisten und andere Geiseln. Eine wichtige Überlegung dabei war, welche Perspektive ich wählen müsste.

Ich kann mich nicht in einen IS-Kämpfer hineinversetzen. Ich war nicht in Syrien oder in einem der IS-Ausbildungslager, dort zu recherchieren war nicht möglich. Ich konnte mich dem allen nur annähern, mit Leuten reden, die von ihren Erlebnissen sprachen. Ich musste die Perspektive wählen, die die meisten von uns haben: hier im Westen Europas, alles durch die Distanz einer Kameralinse betrachtend, weiter distanziert durch ein Display, auf dem es abgespielt wird. Wir betrachten Objekte, Motive, und doch sind wir nicht ungerührt, weil wir wissen, dass das, was wir sehen, echt ist. Ganz real, in unserem Wohnzimmer, auf unserem Handy, und zugleich ganz weit weg. Wie nah kommen wir an einen IS-Kämpfer? Die allermeisten von uns werden ihn nur durch die Linse eines Kameramanns sehen.

Es gibt diese ungeschnittenen Bilder. Es gibt aber vor allem zensierte Versionen. Nicht nur die Presse greift ein, wenn es darum geht, was wir sehen und wie wir uns dabei fühlen sollen. Auch YouTube, Twitter, Facebook usw. sperren User, die Material verbreiten, das nicht im Sinne der Plattformenbetreiber ist. Zu unserem Schutz. Und zugleich auch zu unserer Entmündigung vielleicht, wissen wir denn nicht selbst, was wir uns zumuten können? (Nein, wissen wir nicht, jedenfalls nicht immer, und trotzdem ist Zensur nun einmal Zensur.) Wer entscheidet über unsere Mündigkeit, wenn es um das Betrachten realer Ereignisse geht?

Ebenso schwierig die anderen Fragen, mit denen ich mich beim Schreiben konfrontiert sah: Wie viel Freiheit sind wir bereit, für vermeintliche Sicherheit zu opfern? Wie schnell sind wir bereit, fundamentale Menschenrechte über Bord zu werfen, wenn wir gesagt bekommen, unsere Sicherheit hinge davon ab, dass wir es tun?

Und wie beeinflussen uns die Bilder, die wir täglich zu sehen bekommen, bei diesen Überlegungen? Zumal, wenn sie manipuliert sind? Verfremdung ist Manipulation, auch die Wahl des Bildausschnitts, des Filmausschnitts ist (notwendige) Manipulation, Nachrichten können nicht endlos sein, ein Journalist soll das Wichtigste zusammenfassen. Die Presse hat eine Verantwortung, der sie nachzukommen versucht. Neutrale Berichterstattung, soweit möglich. Bilder zeigen, soweit möglich. Aber auch uns schützen. Aber auch die Opfer schützen. Die Rechte der mutmaßlichen Täter wahren. Wie gehen Journalisten, Fotografen damit um? Wie entscheiden sie, was in einen Beitrag einfließt und was nicht?

Im nächsten Schritt dann die Überlegungen, welche Rolle bei terroristischen Anschlägen neben Presse und Internet natürlich der Staat und seine verschiedenen Organe spielen. Ich habe also versucht, daraus eine Geschichte zu machen, ich erzähle sie über einen Kameramann, der die Hintergründe des Terroranschlags beleuchten will und dadurch eine Perspektive hat, wie wir alle sie haben könnten. Er sieht vieles nur als Video, und trotz der räumlichen, zeitlichen Distanz zum Geschehen, nimmt es ihn mit. Eben weil er weiß, dass es real ist, ungeschnitten, nicht manipuliert.

Der Kameramann ist meine Hauptfigur, er heißt Niall Stuart. Er nimmt uns mit in die Geschichte. Er beginnt mit etwas ganz Krassem: Er filmt einen Mord statt wegzulaufen.

Ich höre immer wieder: Sowas würde niemand tun. Doch, sowas machen Leute. Nicht nur bei Lee Rigby sind sie stehen geblieben und haben gefilmt. Und dann werde ich gefragt: Was hätte ich getan? Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre ich weggelaufen, ich denke immer von mir, ich sei feige. Vielleicht hätte ich es auch gefilmt oder wäre einfach nur stehengeblieben. Ich weiß es nicht. Weiß es irgendjemand sicher, was er oder sie getan hätte? Niall jedenfalls – filmt. Und das verändert sein Leben. Das ist der Einstieg in die Geschichte.

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6 Gedanken zu “Thriller-Reality-Show oder wenn der Amoklauf zum Live-Event wird

  1. Das Buch will ich unbedingt noch lesen; Zoe Becks Erläuterungen zum Entstehungsprozess – und deine ergänzenden Gedanken – sind ebenso spannend wie klug, wie die meisten von uns beschäftigt auch mich dieser Gewaltvoyeurismus – nicht zuletzt in meiner Tätigkeit in einer Literaturagentur, die auf Spannungsliteratur spezialisiert ist.

  2. Ich schließe mich Juttas Meinung an: ein kluger Beitrag, ei n nachdenkenswerter Beitrag – und durch die vielen Links auch ein Beitrag, der zur weiteren Recherche verleitet.
    Viele Grüße, Claudia

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