Der Begriff „Postdemokratie“ ist ein konnotatives Füllhorn für ein aktuelles Lebensgefühl vieler aus der Generation 45+: chronischer Politikverdruss verbunden mit Schüben wehmütig verklärender Erinnerungen an eine politisch engagierte Blütezeit. Schon bevor man auch nur eine Seite des Essays von Colin Crouch gelesen hat, glaubt man zu wissen, was drinnen steht. Colin Crouch bedient mit diesem 2004 in England erschienen Beitrag (2008 übersetzt von Nikolaus Gramm) die Erwartungen des vermeintlich links intellektuellen edition suhrkamp Lesers perfekt.
Ja klar, denkt der Altlinke, der etablierte Ex-Sponti, der ehemals Friedensbewegte oder der Wald- und Wiesenretter, ja, wir leben heute in der Epoche der Postdemokratie, geprägt vom Rückzug ins Private, einer wachsenden Nichtwählergruppe, einer unpolitischen Jugend, steigender Korruption, maßlosem Lobbyismus, Parteien- und Mediendemokratie. Und wie gerne lamentiere man über die heutige „Empörungsgesellschaft“, die auf allen Kanälen ihren Unmut postet und tweetet, sich als Wutbürger geriert, sich jedoch bei einem nachfolgenden „Engagiert Euch!“ schnell abwendet und zum nächsten Skandal zappt.
Originell ist Colin Crouchs Diagnose nicht wirklich. Schon in den späten 1980er ist es offensichtlich, dass sich die westliche Wohlstandsgesellschaft zunehmend vom demokratischen Anspruch entfernt, die Politik aktiv mitgestalten zu wollen. Schon der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker warnte vor einer wachsenden Politikverdrossenheit, ausgelöst durch eine sich vom Volk immer mehr entfernende Parteiendemokratie.
Ich denke, dass das Attest „Politik- oder Parteienverdrossenheit“ heute dankbar von vielen Bürgern angenommen wird, jedoch das sinkende Interesse an Politik nur das Ergebnis ernüchternder, realpolitischer Erfahrungen in den vergangenen Jahrzehnten ist. Wer die Entwicklung der Parteienlandschaft, die verschiedenen Partei-Evolutionen und die Regierungspolitik seit Mitte der 70er verfolgt hat, setzt kaum noch Erwartungen in politische Veränderungsprozesse. Eine kurz aufflammende Begeisterung der Generation Praktikum für Liquid Democracy und das rasante Scheitern der Piratenpartei, bestärkt diese Haltung der Älteren sicher nur.
Doch vielleicht ist Colins Crouchs These neu:
„Der Begriff (Postdemokratie) bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, …, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagiert nur auf die Signale, die man ihnen gibt.“
Auch das ist altbekannte, von Neil Postman schon in den 1980er vorgebrachte Kritik an der Mediendemokratie. Mit Silvio Berlusconi wurde dann eine reale Fallstudie durchgeführt, die keine Zweifel mehr an der manipulativen Kraft der Medien aufkommen lässt. Doch im Weiteren geht Colin Crouch nicht mehr auf die Funktionen und Bedeutung der Medien in der Demokratie tiefer ein. Denn sie dienen seiner Ansicht nach nur als Mittel zum Zweck einer ökonomisch und politischen neoliberalen Elite, die unlauter ihren Vorteil sucht und die recht bald lernte, „wie man die Menschen auch unter den veränderten Bedingungen steuern und manipulieren konnte. Die Bürger wiederum verloren die Illusionen, sie waren zunehmend gelangweilt oder immer stärker mit den Problemen des Alltags beschäftigt.“
Auch wenn Colin Crouch selbst zwischendurch vermutet, dass das politische Engagement des Bürgers einfach nur zyklisch mit den Krisen, den gesellschaftlichen Umbrüchen und dem Zeitgeist mal steigt und fällt, so verharrt er bzw. der Tenor seines Essays bei der traditionellen Kernthese vieler Soziologen: das System krankt.
Für viele Soziologen ist die Gesellschaft a priori ein chronisch krankes System. Es kommt vielen gar nicht in den Sinn, dass das System einfach so ist wie es ist und die Gesellschaft sich darin mehrheitlich zufrieden einrichtet. Stereotyp und simpel begegnen einem in der Soziologie immer die gleichen Opferrollen – auch bei Colin Crouch. „Umso weniger man hat, desto benachteiligter ist man.“ lautet die Grundprämisse. Und willkürlich wird dann ein Schnittpunkt bei der Habenhöhe festgelegt, ab der man zur einflussreichen Elite zählt oder zur manipulierten Masse. Dieser Schnittpunkt liegt immer bei ca. 80% der Bevölkerung, gleich wie hoch das kumulierte finanzielle und geistige Kapital in der Gesellschaft ist und unabhängig davon, wie verteilt.
Für Soziologen wie Colin Crouch hat sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten offenbar kaum verändert. Die Tatsache, dass das Bildungsniveau weltweit in den vergangen Jahrzehnten exorbitant gestiegen ist, spielt in ihren Analysen kaum eine Rolle. Die Tatsache, dass in Deutschland heute fast 50% die Schule mit Hochschulreife beenden, ändert für Soziologen wie Colin Crouch nichts an ihrer These, dass eine große Mehrheit in der Gesellschaft benachteiligt ist. Sie reiben sich auch nicht verwundert die Augen darüber, dass trotz enorm beschleunigtem, ubiquitärem und hürdenfreiem Zugang an das Wissen der Welt, dass Interesse dafür und die Nutzung nicht gleichermaßen mitwächst. Sie ignorieren auch gerne, dass Milliarden Menschen tagtäglich weltweit basisdemokratisch darüber abstimmen, wie intensiv sie am gesellschaftspolitischen Meinungsbildungsprozess teilhaben wollen – mit ihrer Fernbedienung, ihrem Smartphone, am Zeitungskiosk, in der Buchhandlung etc..
Das Ergebnis dieser täglichen Volksabstimmung erachten viele Soziologen und Gesellschaftskritiker als manipuliert oder systembedingt. Also, bitte! Wir leben im Jahr 2015 und können nicht weiterhin so tun als wäre die breite Mehrheit unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft unmündige, unaufgeklärte, intellektuell minderbemittelte Menschen, die ihren Bürgerwillen nicht klar ausdrücken und durchsetzen könnten.
Doch Colin Crouch vertritt eher das Weltbild altvorderer Soziologen, nachdem die Gesellschaft mehrheitlich politisch infantil ist und sich noch immer nach einer paternalistischen Führung sehnt. So empfiehlt er am Ende seines Essays, dass Volksparteien den „Menschen eine Identität anbieten, eine Botschaft, die die Sorgen und Interessen der dadurch definierten Gruppe auf den Punkt bringt. Man muss darauf hinweisen, dass solche Identitäten nicht im essentialistischen Sinn gegeben sind und das vieles vom Geschick jener politischen „Unternehmer“ abhängt, die versuchen, diese Identitäten zu konstruieren und zu mobilisieren.“
Mir erschließt sich nach dieser Empfehlung nicht, wie so den postdemokratischen Tendenzen entgegen gewirkt wird.
„Wir leben im Jahr 2015 und können nicht weiterhin so tun als wäre die breite Mehrheit unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft unmündige, unaufgeklärte, intellektuell minderbemittelte Menschen, die ihren Bürgerwillen nicht klar ausdrücken und durchsetzen könnten.“ – ehrlich gesagt, bin ich mir da manchmal doch nicht ganz so sicher.
In der Schweiz gab es in den letzten Jahren einige Beispiele dagegen.
Es gibt Leute, die im Nachhinein sagen: Ich habe das Ausmass der Sache nicht erkannt.
– Wie auch, bei dem Instantscheiss welcher und serviert und aus Faulheit gelesen wird, weil es schwierig wird, sich in ein Thema zu vertiefen weil diese Themen sich in den Medien bewegen wie Quecksilber und weil manchmal die Vorlagen auch so komplex sind, dass man sich auch fragen muss: ist das nun wirklich Sache des Volkes dies zu bestimmen? Können wir das wirklich selber bestimmen? (mit dieser (Nicht-wirklich-) Informationsmöglichkeit?)
Was mich damals angefixt hat in Sachen Politik: die Möglichkeit für ein Jugendparlament in der Kleinstadt – wohl fühlte ich mich ernstgenommen, mit 17 ist das wohl noch wichtig. Ob das fehlt? Das ernstgenommen-werden? Vielleicht doch einfach die grosse Resignation – schade!
(Aus meiner „Politkarriere“ wurde dann nichts, ein Jahr bei den Jungsozialisten hat mir gereicht. Mittlerweile wüsste ich nicht mal mehr welcher Partei ich beitreten würde…)
Sorry, ein paar Tippfehler sowie wiederholende Worte… Diese Neuen Medien, eben, die verleiten einem zu Schnelligkeit, Korrekturlesen geht auch besser auf Papier – geben wir doch einfach mal die für ALLES schuld, oder?
Herzlichen Dank für die Kommentierung. Ja, es ist nicht selten frustrierend zu bemerken, wie bequem der „mündige“ Bürger es sich häufig macht – mich selbst eingeschlossen. Doch was ich erklären wollte, ist, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger im Westen heute über die Bildung, die Mittel und den Zugang verfügt, um sich selbst aufzuklären und entsprechende Einfluss zu nehmen.
Überlasse ich die Entscheidung anderen, so tue ich dies heute im Bewusstsein meine selbstverantworteten Bequemlichkeit.
Herr Brasch, Sie haben mich ertappt! Und Sie haben natürlich recht mit Ihrer Einsicht, die ist allerdings ernüchternd…
Zu dem Wörtchen „Post“ in der Verbindung mit Demokratie hat Ulrich Beck schon 1988 mit Gegengifte alles wesentliche aufgeschrieben. Eine „Postdemokratie“ die aus der noch nicht durchgesetzten Moderne und der Demokratie gedanklich hinausführt ist kurzum keine Demokratie mehr, sondern wird sprachlich schon heikel wobei mir die derzeitige Großkoalitionäre Symboldemokratie immer noch lieber ist, als eine linke oder rechte oder religiöse meist wegen des vormodernen Habitus primitiven Diktatur, mit der sich Menschen arrangieren müssen.
Das kleinere Übel, bleibt dennoch übel 😉