Eine gute Freundin klagte einmal über eine Eigenart von mir, von der ich nicht einzuschätzen weiß, ob ich mich dafür immer gleich im Vorfeld entschuldigen soll: „Ich sei oft grausam ehrlich.“ Solch selbstkritische Überlegungen macht sich Sibylle Berg sicher kaum (noch). Das lässt zumindest der Sarkasmus vermuten, den sie in ihren Spiegel-Kolumnen oder in ihren Tweets versprüht und den ich gerade auch in ihrem Roman mit teils masochistischem Genuss gelesen habe.
Zugegeben, ich nehme vieles nicht so ernst, erachte einiges nicht als so bedeutungsvoll wie meine Umgebung und mache mich auch gerne mal über eigentlich liebenswürdige Konventionen lustig. Eine klassische ist ja die romantisierte, große Liebe, der wir trotz gefühlt geringer Wahrscheinlichkeit dann doch einige Male in der ersten Lebenshälfte begegnen. Dann – ab etwa dem vierzigsten Lebensjahr – sinkt die Wahrscheinlichkeit drastisch.
Kam es früher in trauter Runde zu diesem Thema, so gab ich gerne etwas süffisant meine ergrübelte philosophische Erkenntnis dazu zum Besten – mit einem Inselgleichnis:
Wenn man zehn Frauen und zehn Männer einer Generation zufällig zusammenstellen und auf einer Insel aussetzen würde, könne man wohl mit einer 90%igen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich nach einem Jahr acht bis neun Paare gefunden haben – denn das Schicksal sei in solch extremen Situationen doch gnädig. Man widersprach mir selten, wollte das Thema dann aber auch nicht weiter vertiefen.
Schade, eigentlich. Denn das Ausmalen der nachfolgenden Jahre in diesem Biotop wäre sicher sehr faszinierend und variantenreich. Denn nicht so klar vorhersehbar sind z.B. die Fraktionsbildungen, die Festigkeit der Beziehungen und eben das Paarverhalten nach langjährigem Zusammenleben. Letzterem widmet sich die scharf beobachtende Ethnologin bürgerlicher Wohlstandspaare Sibylle Berg. Ihre langjährigen Studien flossen aktuell in eine romanhaft verfasste Polemik über das leben und lieben lassen eines kinderlosen Endvierziger Bohème-Paares.
Mit Rasmus und Chloe werden wir mit Stereotypen konfrontiert, deren exemplarisches Lebensdrama uns Identifikationsmaterial bietet wie clever erstellte Horoskope, vorausgesetzt wir sind annähernd im gleichen Alter und stammen aus dem gleichen Milieu.
Sibylle Berg hat einen feinen Häppchen-Roman zubereitet. Immer drei bis vier Seiten Fingerfood-Kapitel, von denen man wenigstens eins noch vor dem Schlafen schafft. Statt auf Cliffhanger setzt sie auf Neugier weckende Kapitelüberschriften wie „Chloe stellt sich tot“, „Chloe denkt über Sex nach, während sie Sex hat“ oder „Rasmus denkt über kauende Menschen nach“. Ab und an sind diese Kapitel dann so bitter, so gallig, dass man sich daran fast verschluckt und daraufhin etwas länger hüstelt. Am besten stellt man immer ein Gläschen Champagner oder Portwein zum Lesen bereit.
Gleich zum Einstieg weiß man, was einen in diesem Buch nicht begegnen wird: liebevolle Euphemismen über das Sexualverhalten von Paaren, die seit Jahren schon ungehemmt voreinander auf der Kloschüssel sitzen. Auch Paare, die kaum noch miteinander reden, weil sie schon alles übereinander wissen. Und Paare, die auf kleine Gesten des Partners wie pawlowsche Hunde reagieren – zumindest fast:
„Rasmus beginnt meinen Nacken zu massieren. Das bedeutet: Er ist in sexueller Stimmung und wird, meine ausbleibende körperliche Reaktion ignorierend, sein Glied, dieses Körperteil, das Unruhe in unsere Liebe bringt, in mich stecken, ein kleiner Schmerz und der überwältigende Wunsch nach Kaffee.“
Was Chloe sich nicht eingestehen mag: Rasmus ist nicht ignorant. Er bemerkt durchaus, dass Chloe nicht bei der Sache ist, aber er hat resigniert.
„Ich habe mich damals gegen den Sex entschieden und für die Liebe. Sieg der Vernunft über die Begierde. Heute haben wir Sex, wenn ich morgens hart bin, weil die Blase auf meine Prostata drückt.“
Es ist ihm klar, dass es ihm zu keinem Zeitpunkt ihrer Beziehung gelungen war, ein befriedigender Sexpartner für seine Frau zu sein. Und Chloe sieht den Akt, der in „immer größer werdenden Abständen“ vollzogen wird, als Ding an, das man durchziehen muss. Ihr Fazit danach:
„Wir sind schnell, präzise, wir schweigen. Seltsam, haben wir doch nie über uns gelacht beim Sex. Oder miteinander. Oder überhaupt. Wir lachen sonst viel. Wir halten uns so fest und streicheln uns, wir beschützen uns, und warum nur, warum nur müssen wir ficken, als ob wir Fremde wären.“
Solch existentielle Fragen, die viel zu selten in der Literatur gestellt und beantwortet werden, finden wir noch mehr in dem Roman „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“. Ein Roman, in dem es auch sehr, sehr lustig zugeht – wenn man den Humor dafür mitbringt. Man muss als Frau, als Mann, als Feministin, als Hetero, als Homo, als Jude, als Eltern, als Veganer oder einfach als verkanntes Genie auch über sich selbst lachen können.
„Fast begrüßt man den Moment mit Freude, an dem man versteht, dass es einem zu nichts Großem langen wird. Es schockiert mich nicht mehr zu begreifen, dass ich einer bin, bei dessen Anblick chinesische Menschen sagen: Die sehen ja irgendwie alle gleich aus.“
Und weiter:
Dann ist die These falsch, dass es Kunst braucht, um zu überleben. Es braucht Unterhaltung, um die Menschen von der Depression abzuhalten. Und Farbergé-Eier, die Oligarchen mit Golfschlägern über das Grün hauen.“
Und mich erwischte Sibylle Berg z. B. mit diesem Fazit Chloes über ihr Leben:
„Theoretisch hätte ich immer gerne etwas gewollt. Revolutionen anführen oder transhumanistische Versuche oder eine große Kunst. Praktisch gab es aber immer ein interessantes Buch, das ich erst noch zu Ende lesen wollte.“
Man mag Sibylle Berg vorwerfen, dass sie in diesem Buch öfter in die Klamottenkiste der bildungsbürgerlichen Klischees greift. Und dass sie immer alles so runterziehen muss. Und überhaupt ist sie immer so negativ. Die weidet sich doch am üblen Bashing der Verspießerung der Generation 40+. Und daran ist ja einzig das Wort „Bashing“ neu.
Früher – vor 40+ – kübelten wir Häme über bausparende und riesternde Biedermänner und lachten über Harderer oder Deix Cartoons (Deix ist leider vor wenigen Wochen gestorben). Heute rocken es Autorinnen wie Sibylle Berg oder Yasmina Reza. Doch ich gestehe, es ist für mich neu, die Sicht der Dinge aus der Perspektive der Betroffenen zu erfahren und sie aus der des Betroffenen zu lesen. Und ich gebe zu, dass es mich einige Überwindung gekostet hat, den Roman zu lesen. Eher drei Houellebecq am Stück als einen Sibylle Berg, dachte ich zunächst. Doch jetzt? Ich könnte noch einen vertragen.
Als ich das Buch ausgelesen hatte, dachte ich: ein Super-Knaller für Singles. Wer da noch Sehnsucht nach einer/m Partner/in hat… Aber es ist natürlich mehr. Weil eine Beziehung immer diese guten, aber – glaube ich zumindest – auch immer diese unsäglich abgründigen Seiten hat. Man kann jemanden lieben und gleichzeitig ziemlich Kacke finden und man kann sich gewöhnen und mögen und gemeinsam zu Tode langweilen. Das ist alles wahr und ich denke, wir kennen das alle, aber Sibylle Berg schreibt das so schnoddrig selbstverständlich und gleichzeitig mit so einer Nachsicht, was uns Menschenkinder angeht, dass es staunen macht. Ich fühlte mich nach dem Buch nicht gerade in bester Feierlaune, aber irgendwie besser gewappnet, was die gute alte Realität angeht. Danke für Deine Rezension!
Lieber Thomas Brasch, danke für die kritische Würdigung des Berg-Romans. Es ist für mich ihr erster Roman, indem ich ihren Zynismus ertragen konnte, weil ich den Paarkonflikt und das Resonieren über das Verhältnis von Liebe und Sex unterhaltsam fand und des Nachdenkens im Paar und der gemeinsamen Lesung für würdig befunden habe. Dann hat es mich aber auch gereizt, mich mit einer Mediation in den Dreier einzumischen. die Personen haben in mir ihr Eigenleben entfaltet und da war doch einiges möglich in der menage á trois http://literarische-mediation.de/mediation-roman-sibylle-berg/ Sozusagen ein Bonustrack zum Roman gegen den schalen Nachgeschmack, nachdem ich mich ertappt fühlte.
Danke für diese Besprechung. Angesichts des Literaturdschungels mit seiner Vielzahl an Büchern, ist es gut, wenn Schneisen geschlagen werden. Was lesen, was nicht? Eine Frage der Zeitökonomie auch. Doch lieber Jean Paul und Flaubert oder was Neues?
Nach Deiner Kritik zumindest weiß ich, weshalb ich Sibylle Berg nicht lesen möchte, freue mich aber schon auf den nächsten Houellebecq.
Ich könnte einen empfehlen… (eigentlich alle bisher von ihr gelesenen: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2015/09/03/die-fahrt/ & https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2015/05/16/sibylle-berg/ )
Finde nebenbei, dass auch mit 40+ das Lachen über Deix Cartoons noch möglich ist, wenn auch mit leichter Resignation.
Schöne Rezension!
Habe bisher noch nichts von Sybille Berg gelesen. Klingt aber gut. Danke für die interessant geschriebene Rezension und den Literaturtipp.
Verzeihung: „Sibylle“ (ich glaube, im Deutschen schreibt man´s auch oft andersherum…)
Danke, Deine Rezension macht neugierig…