Wie verhaftet wir noch im Denken des vergangenen Jahrhunderts sind, entlarvt einmal mehr der grandiose Querdenker Yuval Noah Harari in seinem aktuellem Buch „Homo Deus“, übersetzt von Andreas Wirthensohn. Homo Deus, der Gott Mensch, könnte die Bezeichnung für den Nachkommen des Homo sapiens sein. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv, so wie die gesamte Intention des Buches: „Eine Geschichte von Morgen“.
Wer sich dem Buch widmet, bekommt heftige Denkanstöße zu den großen Fragen des 21. Jahrhunderts:
Was wird mit dem Arbeitsmarkt passieren, wenn künstliche Intelligenz einmal die Menschen bei den meisten kognitiven Aufgaben übertrifft? Welche politischen Auswirkungen wird eine massenhafte neue Klasse von wirtschaftlich nutzlosen Menschen haben? Was wird mit den Beziehungen, den Familien und den Rentenkassen passieren, wenn Nanotechnologie und regenerative Medizin 80 zum neuen 50 macht? Was wird mit der menschlichen Gesellschaft geschehen, wenn die Biotechnologie uns in die Lage versetzt, Designerbabys zu bekommen und für eine beispiellose Kluft zwischen Reich und Arm zu sorgen?
Und über allem schwebt noch die Frage: „was ginge, wenn überhaupt, verloren, wenn man bewusste Intelligenz durch überlegene nicht-bewusste Algorithmen ersetzt?“
Während Yuval Noah Harari in seinem ersten wachrüttelndem Werk „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ den Kränkungen der Menschheit eine weitere hinzufügte, indem er sehr klar das sozialdarwinistische Missverständnis aufklärte, dass eben nicht die Stärksten und Besten sich durchsetzen, sondern die sich am besten anpassen, also die Erfolgsgeschichte des Menschen letztlich eine Geschichte des Opportunismus ist, nimmt er nun die Rolle des Vordenkers ein. Doch hierfür blickt er einführend auch häufiger zurück. Und das mit einer bitteren, provozierenden These, auf die man sich einlassen sollte, um nicht schon von Beginn an nur durch eine Brille der Vorbehalte zu lesen:
„Um all das zu verstehen, müssen wir den Blick zurückwenden und nachfragen, wer Homo sapiens wirklich ist, wie der Humanismus zur vorherrschenden Weltreligion wurde und warum der Versuch, den humanistischen Traum zu verwirklichen, wahrscheinlich zu dessen Zerfall führen wird. Das ist der Grundriss dieses Buches.“

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Die alten Geiseln der Menschheit „Hunger, Krankheit und Krieg“ sind nunmehr fast besiegt. Eine neue menschliche Agenda steht auf dem Plan.
Was wir seit Jahrtausend fatalistisch als Schicksal hingenommen haben, wird angesichts der jüngsten Erfolge der Menschheit bald überwunden sein: Immer weniger Menschen sterben an Hunger, aufgrund von unheilbaren Krankheiten oder Kriegen. Die Fakten sind eindeutig:
„Zum ersten Mal in der Geschichte sterben mehr Menschen, weil sie zu viel essen und nicht weil sie zu wenig essen.“ „Im Jahr 2014 waren mehr als 2,1 Milliarden Menschen übergewichtig, während 850 Millionen an Unterernährung litten.“
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts rafften Epidemien noch Millionen von Menschen dahin. Heute gelingt es uns selbst bedenkliche neue Ausbrüche wie AIDS, SARS oder Ebola nach vergleichsweise wenigen 10.000 Opfern einzudämmen.
Und auch Opfer der Gewalt sinken kontinuierlich. 2012 war gar die Zahl der Suizide (800.000) weltweit höher als die der Opfer durch fremde Gewalt (120.000 Kriegsopfer, 500.000 Kriminalitätsopfer). „… so sank dieser Wert (der Gewaltopfer, Anm. von mir) im Laufe des 20. Jahrhunderts auf fünf Prozent und liegt Anfang des 21. Jahrhunderts weltweit bei nur noch einem Prozent.“
Auch wenn es weiterhin wünschenswert ist, die heute noch große Zahl an Opfern der drei Geiseln der Menschheit zu reduzieren, so wäre es doch auch angebracht, sich recht zufrieden mit den Wirkungen des Fortschritts im dritten Jahrtausend zu zeigen. Doch „Der menschliche Geist reagiert auf Errungenschaften in der Regel nicht mit Zufriedenheit, sondern mit dem Verlangen nach mehr.“
Und so verwundert es nicht, dass die Gier nach göttlicher Beherrschung unseres Lebens und letztlich sogar den Tod zu besiegen, weiter wächst. Doch besonders bei letzterem sitzen wir oft noch einem wissenschaftlichen Trugschluss auf: „In Wahrheit hat die moderne Medizin unsere natürliche Lebensspanne bislang nicht um ein einziges Jahr verlängert. Ihre größte Leistung war es, uns vor dem vorzeitigem Tod zu bewahren…“
Dennoch ist das Streben nach ewiger Jugend und einem kaum einheitlich zu definierenden Glück stetiger Antrieb, aber auch voller ethisch-moralischer Tücken. Am deutlichsten wird dies anhand des biotechnologischen Fortschritts und damit einhergehend der Wandel in der medizinischen Ethik. War diese noch bis vor wenigen Jahrzehnten beschränkt auf das Heilen einer Krankheit und die Vertreibung des Schmerzes, so erweitert sich heute das Gebiet auf körperliche und geistige Optimierung. Während man sich früher auf einen natürlichen Zustand von „Gesund“ einigen konnte, ist dies heute eine ideologische Ansicht. Warum soll man nicht pränatal gentechnisch optimieren und kritisch selektieren? Ja, muss man es nicht sogar, um seine Kinder nicht gesellschaftlich zu benachteiligen? So, wie Eltern heute nicht mehr den Verzicht auf einen Sturzhelm verantworten können oder sich verpflichtet fühlen, pharmazeutische Mittel gegen das Zappelphilipp-Syndrom einzusetzen.
Doch selbst diese Zerreißprobe der Menschheit, welche ethischen Normen in der Medizin und Gentechnologie sich zukünftig etablieren, wird sie überstehen. Es ist nur leider zu befürchten, dass sie in einer inhumanen Klassen- wenn nicht gar Rassengesellschaft endet.
Die Erfolgsgeschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte der Datenverarbeitung.
Eigentlich ist die Erfolgsgeschichte der Menschheit eine Geschichte von Übereinkünften an Glaube und Gesetz und der wachsenden Datenverarbeitung. Beginnend mit der Erfindung der Schrift und aktuell sich zuspitzend in einer anbrechenden Ideologie des Dataismus, deren Folgen wir noch nicht absehen können. Erst mittels Datensammlungen, robusten und sicheren Datenträgern sowie deren vervielfältigten Verbreitung, ließen sich Systeme entwickeln, um eine Gesellschaft von Millionen Menschen zu steuern und zu führen.
„Die Sapiens beherrschen die Welt, weil nur sie ein intersubjektives Sinngeflecht erzeugen können: ein Geflecht aus Gesetzen, Kräften, Wesenheiten und Orten, die nur in ihrer gemeinsamen Fantasie existieren.“
Man kann es auch als sinngebende Mythen bezeichnen, die die Menschen zu herrschenden Gesellschaften verbünden. Denn Menschen sind „nur dann wirklich massenhaft zu mobilisieren, wenn erfundene Mythen im Spiel sind. Hält man sich also an nichts als die Wirklichkeit, ohne ihr irgendwelche Fiktion beizumischen, werden einem nur wenige folgen.“ So dienen seit Jahrtausenden Glaubensideologien (mit und ohne Götter) als gesellschaftlicher Kitt. Aktuell leben wir noch unter dem Mythos des Humanismus.
„Die moderne Geschichte sollte man deshalb besser als einen Prozess betrachten, bei dem eine Übereinkunft zwischen Wissenschaft und einer bestimmten Religion – nämlich dem Humanismus – formuliert wurde. Die moderne Gesellschaft glaubt an humanistische Dogmen und nutzt die Wissenschaft nicht, um diese Dogmen in Frage zu stellen, sondern um sie zu implementieren.“
Das vergangene Jahrhundert war denn ein humanistisches, dass drei Ausprägungen entwickelte: den liberalen Humanismus, den sozialistischen Humanismus und den evolutionären Humanismus. Letzterer gipfelte in der rassistischen Weltanschauung der Nazis. Diese Richtung des Humanismus ist jedoch nicht endgültig und dankbar in der historischen Sackgasse geblieben, sondern setzt sich solange fort, wie das sozialdarwinistische Missverständnis Aufrecht erhalten wird.
Um nun aber auf den Zug in die Zukunft aufspringen zu können und nicht abgehängt zu werden, muss man die Technologie des 21. Jahrhunderts und ganz besonders die Wirkungskraft von Biotechnologie und Computeralgorithmen verstehen.
Der Untergang des Homo sapiens wird wohl nicht durch einen technologischen Golem eingeläutet. „Die Algorithmen werden nicht aufbegehren und uns versklaven. Vielmehr werden sie Entscheidungen für uns so gut treffen, dass wir verrückt wären, ihrem Rat nicht zu folgen.“ Wer es noch nicht gemerkt hat, wird es zunehmend realisieren müssen. In keinem Bereich unseres Lebens werden wir in absehbarer Zeit kognitiv „bessere“ Entscheidungen fällen als es eine Software kann. Und in fielen Bereichen werden wir da auch nicht mehr wählen können.
Algorithmus ist heute das, was wir früher Schicksal nannten.
Beginnen wir bei der Selbstoptimierung mittels stetig gemessener Daten und daraus abzuleitenden empfohlener körperlicher und geistiger Aktivitäten. Die werden uns von vielen Institutionen (Staat, Versicherungen, Schulen, Arbeitgeber etc.) aufgezwungen und nur wenige werden sich dauerhaft Sanktionen leisten können. Unsere Geldgeschäfte geben wir schon heute meist freiwillig ab. Die Partnerwahl findet gegenwärtig schon vorher (Singlebörsen) und nachher (Online-Check) mittels Algorithmen begeistert statt.
Unsere Berufswahl wird einhergehen mit einer Chancenanalyse, der eine KI-Kandidatenauswahl folgt, die jede Personalabteilung einer Software überlassen muss, da die letztlich fairer beurteilt als jeder Mensch und so auch politisch korrekter ist. Der ist nämlich Geschlecht, Äußeres und sexuelle Orientierung schnuppe, wenn sie staatlich geprüft auch so programmiert wird. Fraglich nur noch, welche Berufe wir letztlich noch ausüben, wenn eine Software das deutlich besser und effektiver kann. Schon heute wird sichtbar, dass sich viele Jobs primär einem sentimentalen Festhalten an sozialen Interaktionen verdanken. Kein Mensch muss heute noch in den stationären Handel, ins Reisebüro, zur Bank oder in den Buchhandel. Auch der Gang zum Arzt, zum Rechtsanwalt und in die Apotheke ließe sich überwiegend ersparen. Und bald kann man auch viele „kreative“ Berufsbilder zu den prekären zählen. Wirkungsvolle Werbung oder erfolgreiche Unterhaltungsformate werden in absehbarer Zeit günstiger und erfolgversprechender von einer Software kreiert.
Nachdem wir alle das irgendwann „akzeptiert“ haben, können wir getrost auch unsere politischen Entscheidungen den Algorithmen überlassen. Wie jeder Wahl-o-mat-Nutzer heute schon weiß, wählen die nämlich deutlich vernünftiger nach unseren wirklichen Einstellungen und sind nicht belastet von einer früheren ideologischen Prägung.
Was einige freuen wird: auch der Liberalismus ist bald tot.
Das widerspricht doch alles unserem Ideal von einer Gesellschaft, die sich aus willensfreien Individuen rekrutiert? Ja, „Liberale schätzen die Freiheit so sehr, weil sie glauben, Menschen würden über einen freien Willen verfügen.“ Doch wissenschaftlich lässt sich kein freier Wille attestieren. Entweder Determinismus oder Zufälligkeit bestimmen unsere Beweggründe. Das heilige Wort „Freiheit“ erweist sich, genauso wie die Seele, als leerer Begriff, der keine erkennbare Bedeutung hat. Der freie Wille existiert nur in den imaginären Geschichten, die wir Menschen erfunden haben.
„Der Liberalismus wird an dem Tag zusammenbrechen, an dem das System mich besser kennt als ich mich selbst. Und das ist weniger schwierig, als es vielleicht klingt, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen sich selbst nicht besonders gut kennen.“ Schon heute haben Versuche zutage gebracht, dass wenn wir heute ca. 300 Mal etwas auf Facebook geliked haben, der Facebook-Algorithmus unsere Meinungen und Wünsche besser vorhersagen kann als unser Partner.
Ernüchternd ist auch der Verweis von Yuval Noah Harari auf David Cope, Professor für Musikwissenschaft, der mittels seinem Programm EMI auch die Hoffnung ersterben lässt, dass die Kunst noch ein kreativer Hort der Menschheit ist, in den ihr eine bewusstlose künstliche Intelligenz nicht folgen kann. Das Programm schreibt nämlich Musik, die selbst Kenner nicht von Kompositionen Bachs oder Vivaldi unterscheiden können, und das selbst Haikus zu dichten vermag. Interessant, dass David Cope und EMI in Deutschland nahezu unbekannt sind.
Dennoch nimmt Harari an, dass einige Menschen nicht vollends zu entschlüsseln sind und über „unerhörte Fähigkeiten und beispiellose Kreativität verfügen“ werden, die sie zu einer kleinen und privilegierten Elite machen. Vielleicht ist ja einer von uns dabei.
Und der überwiegende Rest? „Menschen müssen etwas tun, sonst werden sie verrückt. Was werden sie den ganzen Tag machen? Eine Möglichkeit wären Drogen und Computerspiele.“
Offenbar sollten wir uns schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, dass unsere Zukunft euphemistisch betrachtet ein „Peter-Pan-Dasein“ werden könnte. Da können sich sicher einige mit anfreunden.
Ebenso begeistert von „Homo Deus“ und „Der kleinen Geschichte der Menschheit war“ Bingereader und Bücherkatertee
Und hier ein spannendes Interview mit Yuval Noah Harari in der Wirtschaftswoche.
Nachtrag: Da ich im Anschluss auf diesen Beitrag auf eine Interview der Zeit mit dem Philosophen Byung-Chul Han gestossen wurde, möchte ich noch eine Ergänzung zum „Geist“ machen, dem Harari ein ganzes Kapitel gewidmet hat, was ich aber hier nicht auch noch berücksichtigen wollte.
Han erklärt folgendes: Intelligenz ist intel-legere, ein Dazwischenlesen, eine Unterscheidung. Intelligenz ist eine Tätigkeit des Unterscheidens innerhalb eines Systems. Intelligenz kann kein neues System, keine neue Sprache entwickeln. Der Geist ist etwas ganz anderes als Intelligenz. Ich glaube nicht , dass ein sehr intelligenter Computer den menschlichen Geist kopieren könnte. Man kann eine total intelligente Maschine entwerfen, aber die Maschine wird nie eine neue Sprache, etwas ganz anderes erfinden, das glaube ich nicht. Eine Maschine hat keinen Geist. Keine Maschine kann mehr hervorbringen, als sie aufgenommen hat. Gerade darin besteht das Wunder des Lebens, dass es mehr hervorbringen kann, als es aufgenommen hat, und etwas ganz anderes hervorbringt, als das, was es aufgenommen hat. Das ist das Leben. Leben ist Geist. Darin unterscheidet es sich von der Maschine. (Hervorhebung von mir) Aber dieses Leben ist da bedroht, wo alles maschinell wird, wo alles von Algorithmen beherrscht wird. Der unsterbliche, maschinelle Mensch, der den Posthumanisten wie Ray Kurzweil vorschwebt, wird kein Mensch mehr sein. Vielleicht werden wir irgendwann mithilfe von Technik Unsterblichkeit erlangen können, dafür werden wir das Leben verlieren. Wir werden Unsterblichkeit erreichen um den Preis des Lebens.
Harari verweist in seinem Buch jedoch auf ein Problem: Der Geist hat nämlich das naturwissenschaftliche Problem, dass man ihn nicht verorten kann. Wo steckt er denn, wenn er nicht im Hirn steckt? Wenn er aber doch im Hirn steckt, ist er wiederum nur das Produkt eines Algorithmus. Ähnliches gilt für das Bewusstsein, dass zudem aus naturwissenschaftlicher Sicht eigentlich keinen Nutzen hat. Deshalb spricht Harari von bewusstloser künstlicher Intelligenz, die bei eigentlich allen uns vorstellbaren kognitiven Prozessen bald überlegen ist. Es ist das Fatale, dass es uns schwerlich gelingt, das Leben, wie wir es heute kennen und wie wir es naturwissenschaftlich durchschauen, nicht als Ablauf eines algorithmischen Programms zu akzeptieren. Also letztlich müssen wir entscheiden (was natürlich paradox ist, da wir ja nicht entscheiden, sondern unser Programm so abläuft), bei unseren Mythen stehen zu bleiben oder der Ernüchterung Platz machen, dass wir nun mal (fast) alle berechenbar sind. Im Prinzip eröffnet das wieder eine plausiblere Vorstellung eines ausserweltlichen Ursprungs, also eines „Software-Demirugen“. Auf der Strecke bleiben wir naiven Humanisten, die der Illusion verfallen waren oder noch sind, über einen freien Willen und einen originellen Geist zu verfügen.