Besichtigung einer besonderen Lebenswürdigkeit: Zuhause

zuhause

„Das Zuhause ist kein Paradies, aus dem wir vertrieben wurden. Dieses Paradies hat nie existiert. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutete nicht, nach einer besseren Stadt Ausschau zu halten, nach einem schöneren Landstrich, einem anderen Land. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden, an dem wir ankommen – und dieser Ort wird zuallererst ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen.“

Als ich vor einiger Zeit dieses Zitat aus dem Essay „Zuhause“ von Daniel Schreiber auf Facebook veröffentlichte, bekam es jede Menge „gelikte“ Zustimmung, aber auch einige kritische Kommentare mit dem Tenor, dies sei doch ein hohler Gemeinplatz in der Tonalität eines Kalenderspruchs. Auch dieses Urteil mag ich jedem Einzelnen zugestehen. Denn wenn mir der feinsinnige essayistische Versuch Daniel Schreibers, die vielstimmigen Vorstellungen über den Begriff „Zuhause“ zu harmonisieren, etwas verdeutlichte, dann, dass dies nicht gelingt und es über die Konnotationen des Wortes „Zuhause“ kaum ein Konsens gibt.

Daniel Schreiber, Kunstkritiker und heute überwiegend in Berlin lebend, erhielt für sein 2014 erschienenen Essay „Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“ viel begeisterte Resonanz. Schreibend näherte er sich damals seiner eigenen „Ernüchterung“ an und bot offenbar vielen einen Anlass über den eigenen Alkoholgebrauch und dessen gesellschaftlicher Ambivalenz nachzudenken. Ab und an nörgelte einer, er schreibe zu seicht und manche fanden ihn zu missionarisch, was damals auch als einziges in einer ansonsten begeisterten Kritik in der Zeit angemerkt wurde:

„Daniel Schreibers harsche Kritik an der in puncto Alkohol verlogenen deutschen Gesellschaft ist diskussionsfähig, sein mitunter ein klein wenig missionarisches Lob der Abstinenz wohl nicht die stärkste Seite von Nüchtern.“

Da ich diesen Essay (noch) nicht gelesen habe, vermag ich ihn nicht zu beurteilen. Doch in die induktive Falle, also aus einem persönlichen Erfahrungsschatz Verallgemeinerungen abzuleiten, tappt der Autor auch manchmal in seinem aktuellen Essay. Doch das tut der gedanklichen Anregung des Themas keinen Abbruch, im Gegenteil. Man klopft stetig seine Thesen mit den eigenen Ansichten ab. So z. B., wenn er einen ersten Abgrenzungsversuch zwischen „Heimat“ und „Zuhause“ beschreibt:

„In der Regel gibt es Heimat nur dann, wenn man glaubt, sie verloren zu haben (oder fürchtet, dass sie von Fremden okkupiert werde. Anm. von mir). Auch die derzeitige Renaissance des Begriffs dürfte mit diesem Paradox zu tun haben. Heimatgefühle, mit ihrem Schwerpunkt auf einer kollektiven, angeblich von allen geteilten Identität, sind nicht das Gleiche wie das Gefühl des Zuhauseseins.“

In einem aktuellen Artikel im Tagesspiegel geht Daniel Schreiber auf den Begriff „Heimat“ expliziter ein als in seinem Essay, wo er ihn mit dem Begriff „Zuhause“ nicht zwingend verbunden sieht. Im Artikel erörtert er den Begriff „Heimat“ exakt so wie ich es für den Begriff „Zuhause“ auch zu bedenken gebe:

„Doch selbsterklärend, das ist dieses Wort gerade nicht. Wir haben den Eindruck, dass wir alle wissen, was damit gemeint ist. Aber in Wahrheit stellt sich jeder von uns etwas anderes darunter vor. Würden Sie 100 Menschen fragen, was Heimat für sie bedeute und welche Gefühle, Erinnerungen oder intellektuelle Assoziationen sie damit verbinden, bekämen Sie 100t verschiedene Antworten.“

Daniel Schreibers persönliche Biografie verschafft ihm einen Ausgangspunkt, der ihm die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Zuhause“ fast wörtlich in die Wiege legt. Denn entgegen wohl einer überwiegenden Mehrheit verbindet er mit seinem ersten Zuhause nur die Tristesse seiner Kindheit in der „grauen“ Provinz von Mecklenburg-Vorpommern. Seine schon als Kind offensichtlich werdende homosexuelle Orientierung macht ihm den dortigen Schulbesuch zur Hölle der Scham. So erinnert der Werdegang von Daniel Schreiber an die Lebensgeschichte des französischen Soziologen Didier Eribon (den er auch erwähnt). Auch er flieht aus der beklemmenden Provinz in die Metropole, die mit ihrer Freiheit der Anonymität lockt und die heterogene Auswahl aller sozialen Milieus bietet. Nach vielen intensiven Lebensjahren in New York, London und Berlin erfasst ihn jedoch eine tiefe Depression darüber, noch nirgendwo wirklich angekommen und zuhause zu sein. Er beginnt sein vergangenes Leben zu resümieren und auch über seine Herkunft nachzusinnen, die wir gerne pathetisch und verklärend als unsere Wurzeln bezeichnen:

„Die Welt unserer Kindheit scheint etwas zu sein, das uns in unseren Grundfesten ausmacht, und vielleicht ist diese Welt gerade deshalb für viele Menschen das Objekt einer unerfüllbaren Sehnsucht.“

Wenn Daniel Schreiber zu Beginn erläutert, was ihn bewegt habe, über das „Zuhause“ zu sinnieren, dann glaubt man zunächst einfach an eine Midlifecrisis des 1977 geborenen Singles. Weit weniger scheint er konkret einen Lebensort zu vermissen und ebenso wenig erkennt man einen wachsenden Wunsch zu innerer Einkehr nach jahrzehntelangem Vagabundieren. Alles, was man zunächst zwischen den Zeilen zu lesen glaubt, ist das Vermissen von menschlicher Geborgenheit. Doch der Essay entwickelt seine Stärke aus seiner Dialektik. Von Kapitel zu Kapitel fügt er Aspekte des Themas hinzu, die zu allgemeinerer Anschauung einladen.

Obwohl mein einführendes Zitat schon früh im Essay fällt und man annehmen sollte, dass das konkrete, materielle Zuhause somit unwesentlich für das vermisste Gefühl von „Zuhause sein“ sei, nimmt Daniel Schreiber diese Nebensächlichkeit doch wieder auf. Einerseits beschreibt er zum Ende des Essays, wie das liebevolle Einrichten seiner Berliner Wohnung, die er zunächst monatelang im desolaten Zustand belassen hatte, ein wichtiger Bestandteil seiner persönlichen Therapie wurde. Anderseits benennt er aber auch die harte These von Vilém Flusser – die ich selbst sofort unterschreibe –, mit der dieser sich kritisch über das banale, rührselige Gefühl des Zuhause auslässt:

„Es binde Menschen an die Dinge, die sie umgeben, es verleihe diesen Dingen die Aura von etwas Heiligem. Diese Art der Verklärung, so Flusser, setze vor allem durch einen Prozess der Gewöhnung ein, einer Gewöhnung, die nicht unbedingt bewussten Regeln folge. … für ihn blieb das Gefühl des Zuhauses etwas, das einen betäubte und blind machte, das die Sinne abstumpfte und einen zurückwarf auf einen kleiner werdenden Horizont.“

Diese angemahnte, weil doch biedere Geisteshaltung gegenüber dem Zuhause ist sicher provokant. Ich zähle mich zu jenen, die auf solch ein materielles Zuhause jederzeit verzichten könnten. Nicht, dass ich mich nicht in meinem jetzigen Zuhause wohlfühle und es mir auch entsprechend einrichte, doch ich bin sehr dankbar dafür, dass ich an nichts hänge und auch nichts davon an mir hängt. Es ist ein wichtiger Aspekt meiner gefühlten Freiheit.

Dennoch bin auch ich eingeschränkt, wenn ich einen anderen Ort suchen müsste, an dem ich leben will. Denn eine Bedingung ist für mich sehr bestimmend, die auch von Daniel Schreiber intensiv gewürdigt wird:

„Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hat dargelegt, dass es unmöglich für uns ist, Welt und Wirklichkeit unabhängig von unserer Sprache wahrzunehmen.“

Für viele zunächst überraschend entdeckt Daniel Schreiber sein fehlendes „Heimatgefühl“ durch sein ambivalentes Verhältnis zur deutschen Muttersprache:

„Deutsch, die Sprache meiner Kindheit und Jugend, wird für mich immer auch die Sprache von Grausamkeit und Missachtung sein.“

Fast befreiend erlernte und vertiefte er das Englische intensiv. Nach sechs Jahren in New York ist er offensichtlich dann auch in der Sprache angekommen:

„Es war das Zuhause der Sprache, die über Jahre wachsende, beruhigende Sicherheit, die ich spürte, wenn ich Englisch hörte, sprach oder las.“ Und im weiteren führt er einen sehr interessanten Aspekt hinzu: „Ich bin mir heute … ziemlich sicher, dass ich meine Psychoanalyse niemals hätte auf Deutsch beginnen können.“

Eine bedenkenswerte Annahme, die mich über viele Schicksale grübeln lässt, denen es einerseits nicht vergönnt war, neben ihrer Muttersprache eine weitere Sprache zu erlernen, und bei denen ebenfalls die Muttersprache mit Grauen und Diskriminierung assoziiert war.

Mir selbst ist es nicht vergönnt, mich in einer zweiten Sprache „Zuhause“ zu fühlen. Fremde Sprachen sind mir die einzigen Grenzen auf der Welt. Diese Grenzen irgendwann technisch oder einheitssprachlich zu überwinden, ist für mich eine der schönsten Utopien. Darüber hinaus ist Zuhause für mich überwiegend dieser im Eingangszitat angesprochene innere Ort, an dem ich mich mal mehr, mal weniger wohlfühle.

Es gab und gibt keinen geografischen Ort für mich, den ich mit dem Gefühl der Verlustangst verbinde. Noch weniger würde ich mit dem Begriff „Heimat“ irgendeinen Sehnsuchtsort bezeichnen. Meine „Geburtsheimat“ habe ich ohne Weh und Ach verlassen. Nie hat mich Wehmut nach diesem oder einem anderen vergangenen Wohnort übermannt, sondern immer nur nach einem Milieu. Und dieser mir doch sehr bedeutsam scheinende Aspekt des Zuhause Fühlens fehlt mir explizit im Essay von Daniel Schreiber.

Dass kulturelle Identitäten über Milieus gebildet werden und deshalb heute kaum noch an nationalen Grenzen orientiert sind, einzig noch an sprachlichen, wird meines Erachtens in vielen Diskursen über Identität, Heimat und Zuhause ausgeblendet. Wir suchen heute doch keine geografische Heimat mehr, sondern eine geistige. Wir fremdeln heute doch nicht mehr gegenüber unterschiedlichen Nationalitäten oder Ethnien, sondern Weltansichten. Mir ist doch der kultivierte, liberale und weltoffene Chinese, Mexikaner oder Marokkaner zehnmal näher als der kleinbürgerliche, in seinem wohligen Nest hockende Nachbar, der samstäglich sein Auto putzt und am Häuschen bohrt und schraubt, am Sonntag zur Messe geht und immer Mittwochsabends mit seinen Kumpels am Stammtisch seine Doppelkopfrunde kloppt.

Mit beiden Typen komme ich gut aus, doch mit ersteren würde ich mich lieber an einen Tisch setzen, weil wir mehr gemeinsame Themen finden werden, unser Humor eher übereinstimmt und wir einen vergleichbaren Lebensstil haben. Und genauso bin ich überzeugt, dass sich auch der Farmer aus Wisconsin mit dem Bergbauern aus der Schweiz und dem Viehzüchter aus Usbekistan zusammenfände, wenn die Sprache sie nicht hemmen würde. Und alle drei würden wohl eher eine übereinstimmende Vorstellung von „Heimat“ und „Zuhause“ haben als ich mit ihnen.

Doch gleich welches Milieu, jeder sollte vielleicht mal über sein Verständnis von „Zuhause“ und „Heimat“ so kritisch und intensiv reflektieren, wie es Daniel Schreiber in seinem Essay sehr anregend tut. Vielleicht stutzt mancher über seine bislang so festen Annahmen und erkennt, dass Ansichten über „Zuhause“ und „Heimat“ nicht immer in Übereinstimmung gebracht werden müssen, um neidlos, friedlich und angenehm nebeneinander leben zu können. Und manch anderer Rastloser findet vielleicht Anregungen zu einem Trip an einen bislang ihm noch gänzlich verborgenen Ort.

4 Gedanken zu “Besichtigung einer besonderen Lebenswürdigkeit: Zuhause

  1. Auch ich fand Schreibers Essay sehr anregend und viele Aspekte, die er unterbringt, haben mich zum Nachdenken gebracht. Mir hat auch gerade seine persönliche Herangehensweise sehr gefallen und die Beschreibung des Prozesses, den er durchgemacht hat. „Nüchtern“ möchte ich nun auch noch lesen.

  2. Ich schätze Daniel Schreiber sehr und möchte auch dieses Buch unbedingt noch lesen. Insbesondere der Aspekt sich in einer fremden Sprache mehr zu Hause zu fühlen, finde ich spannend, denn da geht es mir genau so. Ich kann mich in Englisch deutlich besser ausdrücken, besser denken etc.
    Didier Eribon habe ich auch noch auf meiner Liste, vielleicht lese ich die beiden in Kombination. Mal schauen.
    So long ;)

  3. (…)Vielleicht stutzt mancher über seine bislang so festen Annahmen und erkennt, dass Ansichten über „Zuhause“ und „Heimat“ nicht immer in Übereinstimmung gebracht werden müssen, um neidlos, friedlich und angenehm nebeneinander leben zu können. Und manch anderer Rastloser findet vielleicht Anregungen zu einem Trip an einen bislang ihm noch gänzlich verborgenen Ort. Ein sehr lesenswerter Artikel über ein wichtiges Thema. Danke.

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