
Seit gut vier Jahren habe ich hier nichts mehr geschrieben. Und jetzt gleich das: ich mag Thea Dorn und ich mag Juli Zeh. Es sind zwei Menschen, deren Klugheit, Eloquenz, Ernsthaftigkeit und deren feinen Sinn dafür, wann man spöttisch sein darf, ich sehr schätze und mag. Zwei Menschen, mit denen ich jederzeit gerne – ganz Klischee – am Esstisch bei Rotwein über Gott (vielleicht weniger) und die Welt (gerne mehr) reden würde.
Warum ich beide erwähne, obwohl der Anlass meines Beitrages das neue Buch „Trost“ von Thea Dorn ist? Weil offenbar beide befreundet sind und aufeinander gerne Bezug nehmen. So hat Juli Zeh dem Buch „Trost“ einen empfehlenden Klappentext geschenkt und Thea Dorn hat in ihrem Zeit-Essay „Es gibt Schlimmeres als den Tod. Den elenden Tod“ auf Juli Zehs 2017 erschienenen Essay „Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit.“ verwiesen. Letzterer ist ein interessanter Essay, dessen Titel schon als „Zitat“ gehandelt wird, was man aber meines Erachtens völlig missversteht, wenn man den Kontext, also den Essay nicht kennt.
Was beide zudem verbindet sind ihre öffentlich gemachten Bedenken zum politischen und gesellschaftlichen Mehrheitsverhalten in Zeiten der Pandemie. So findet man sie auch beide als Autorinnen in dem Zeit-Bezahlbeitrag „Alternativlos gibt’s nicht“ im November 2020 als man noch über mögliche Maßnahmen zur bevorstehenden zweiten Welle nachdachte.
Zu Beginn der Pandemie in 2020 erinnere ich mich an Juli Zehs Appell an die Freiheit und Achtung der Bürgerrechte. Sie war da ja nicht alleine, sondern unter vielen Intellektuellen, deren Diskursbeiträge mich maßlos enttäuschten. Ständig wurde auf Metaebene über abstrakte Vorbehalte und Bedenken gegenüber politischen Eingriffen lamentiert und dabei das Pathos der Freiheit bemüht. Dieses Pathos triefte nur so vom bürgerlichen Kitsch eines leidvollen, jahrhundertelangem Befreiungskampfes und dessen mit Qual, Blut und Opfern abgerungenen bürgerlichen Rechte nun gefährdet seien. Ein völlig verklärtes, ahistorisches Bild, das seit Jahrzehnten durch unsere Geschichtsbücher kolportiert wird. Mehr dazu schrieb ich damals hier auf Facebook.
Ja, ich war und bin noch immer enttäuscht von vielen von mir geachteten Intellektuellen. Kaum einer/einem gelang es oder war erst gar nicht bereit, die ideologische Brille angesichts der Pandemie-Dilemmata abzusetzen und sich selbstkritisch zu quälen, tief zu schürfen und dort zu graben, wohin die angelesene Weisheit bislang nicht hingeführt hat. Das noch niemand sofort Antworten auf die vielen akuten, existentiellen Fragen hat, ist für mich kein Grund zur Enttäuschung. Aber das sich fast keiner diese Fragen gestellt hat, das tut verdammt weh.
Als Thea Dorn ihren Essay „Es gibt Schlimmeres als den Tod. Den elenden Tod“ veröffentlichte, schöpfte ich doch etwas Hoffnung. Denn sie stellte eine Frage in den Raum, die nun jeden betraf und der zugleich jeder ausgewichen war: Was, wenn einer meiner liebsten Menschen schwer erkrankt und ich ihn nicht mehr in den Tod begleiten kann, ihn nicht begleiten darf, ja, es mir selbst auf eigenes Risiko trotzdem verboten ist, ihn zu begleiten? Dieses Szenario greift jeden an, der damit ernsthaft konfrontiert wird. Daneben sind all die Unannehmlichkeiten des Abstandhaltens, der mobilen Einschränkungen oder der Home-Office und Home-Schooling-Belastungen unerheblich. Selbst materielle Existenzängste verblassen dagegen, wenn der Fall akut eintritt.
Mich trieb das auch konkret um. Denn es wäre ein elender, unwürdiger Tod, wenn meine überachtzigjährige Mutter, die 450 KM von mir entfernt wohnt, plötzlich mit COVID im Sterben läge und ich sie nicht besuchen und begleiten dürfte. Ja, ich mag es mir nicht ausdenken. Aber ich gebe zu: ich muss. Meiner Mutter zuliebe, mir zuliebe und all jenen zuliebe, denen dieses grausame Schicksal widerfahren ist wie Edda hier in ihrem Beitrag schildert „Meine Eltern sind tot, gestorben an Corona“ oder vielleicht noch widerfährt.
Mit dem Essay hatte jetzt also Thea Dorn endlich eine der Fragen öffentlich gestellt, die es zu beantworten gilt. Und wer nach Antworten auf solche existenziellen Fragen sucht, hofft auf große Geister und weise Menschen, die ihn auf dem Weg dahin begleiten, anregen und unterstützen können. Doch die Resonanz blieb völlig aus. Und der Essay von Thea Dorn war bestenfalls auch nur ein ganz großes Fragezeichen.
Nebenbei missfiel mir darin die gesellschaftspolitische Stichelei (Verzicht auf Lifestyle) und Verurteilung der mehrheitlichen Akzeptanz der vergleichsweise harmlosen, kurzzeitig abverlangten politischen Maßnahmen (der Essay ist am 8. April 2020 geschrieben), die Thea Dorn als „Unterwerfung“ benennt. Zu dieser Zeit auch ein Phänomen bei vielen kritischen Stimmen aus dem intellektuellen Milieu. Die Pandemie legt das schon immer gelebte „Social Distancing“ des selbsternannten „Freigeister-Milieus“ offen. Denn das unterstellt traditionell einer großen Mehrheit der Gesellschaft Opportunismus und Duckmäusertum. Wenn diese Mehrheit dann große Akzeptanz für politische Maßnahmen zeigt, ist das reflexhaft schon per se verdächtig.
Kaum jemand aus diesem Milieu gab sich die Mühe, diese Duldung als beeindruckenden Erfolg einer aufgeklärten Gesellschaft zu betrachten. Ich war auf jeden Fall überrascht und bin es immer noch, dass fast 80% diesen einschneidenden Verzicht und die wachsenden Belastungen bis heute mittragen und in den sozialen Medien aktiv verteidigen. Und das obwohl wir wissen, dass das Risiko von der Pandemie persönlich betroffen zu sein, relativ gering ist. Die Mehrheit ist zu spürbarem Verzicht und Opfern zugunsten einer kleinen Minderheit bereit. Das ist für mich sehr beeindruckend gelebte Empathie und moderne Demokratie. Hut ab! Das hatte ich mit meinem vorurteilenden Bild einer Ego-Gesellschaft so nicht erwartet und freue mich, eines Besseren belehrt worden zu sein.
Dennoch waren Thea Dorns Verweise in ihrem Essay auf den historischen Umgang mit dem Tod, ihre persönliche Erfahrung mit dem Tod ihrer krebskranken Mutter und ihrer Suche nach Trost in der Philosophie für mich bedenkenswert.
Gerne hätte ich mich – mit wem auch immer – über die plötzliche, intellektuelle Verklärung der Todeserfahrung unserer Vorfahren ausgetauscht: Der Mensch der Moderne sei doch verweichlicht und weiche dem Tod und der Todeserfahrung heute nur noch stetig aus, während unsere Urahnen noch tagtäglich damit konfrontiert waren und sich mannhaft seiner stetigen Anwesenheit gestellt hätten. Ein Bild, das ich für ähnlich verkitscht halte, wie das von der heroisch erkämpften Freiheit. Die Tatsache, dass wir heute die Todesangst, wenn man sie überhaupt hat, weit nach hinten schiebt, verdankt sich dem Fortschritt, getrieben aus der Todes- und Leiderfahrungen in der Vergangenheit. Das gilt nicht nur für den Bereich der Medizin, sondern für alle Bereiche: Gesetzgebung, technische und soziale Sicherheiten und politische Friedensbemühungen.
Heute erreicht in unserer Wohlstandsgesellschaft die Mehrheit ein biblisches Alter. Ich bin mir da nicht so sicher, ob die Angst vor dem eigenen Tod heute noch so verbreitet ist. Im Gegenteil: ab einem gewissen Alter sieht man ihm gelassener entgegen und manch eine(r) ersehnt ihn irgendwann. Und das nicht zwingend aus Leidensgründen, sondern einfach aus Lebensmüdigkeit. Spielt dieser Gedanke aktuell in der Pandemie eine Rolle? Ja, denn der Virus schafft mit seiner selektiven Gefährdung eine weiteres Dilemma: Während die Jungen um ihre Alten bangen, sehen viele Alte die Gefahr gelassen und möchten gar nicht der Grund für die riesige ökonomische und gesellschaftliche Misere sein. Und dabei spielt es keine Rolle, ob sie vorerkrankt oder gesund sind. Auch das Dilemma nimmt Thea Dorn in ihrem Corona-Buch auf.

Der Essay ist der Vorbote dessen gewesen, was nun fertig gelesen auf meinem Tisch liegt: die Briefnovelle „Trost“. Die Idee, die der Erzählung zugrunde liegt, ist die schon im Essay inhärente Frage: Findet man Trost in der Philosophie? Sie wurde literarisch zwar charmant aufgegriffen und in eine schöne verlegerische Form gebracht. Doch schon die Konstellation der Figuren lässt mich als Mann bedauernd gelangweilt sein. Ein nah an der Hysterie agierende Frau sucht Rat und Trost bei einem stoisch ruhigen, fast gänzlich schweigenden Mann. Die Konstellation wäre vielleicht amüsant gewesen, wenn man als fiktive Romanidee „Sokrates allein mit seiner Frau Xanthippe beim Shutdown im Home-Office.“ gewählt hätte. Doch dem ist bei „Trost“ leider nicht so.
Johanna, Mitte 40, Feuilleton-Redakteurin bei einer Zeitung in Berlin, ist rasend wütend und untröstlich. Ihre lebensfrohe, agile 84jährige Mutter starb gerade den Seuchentod. Sie konnte sie in der Klinik nicht mehr sehen, besuchen, begleiten und hadert nun mit allem, nur nicht mit sich selbst, dass das so geschehen konnte.
Johanna hat einen alten Freund aus Studienzeiten: Ihr damaliger Dozent für Philosophie, im Buch nur Max, lebt seit längerer Zeit ein fernes Inseldasein, abgewendet von der hiesigen Welt, ohne Anschluss an die Medien und schreibt ab und an Bildpostkarten. Diese sind im Buch – Vorder- und Rückseite – original abgebildet. Eine dieser Postkarten eröffnet die Erzählung und stellt die berühmtberüchtigte Frage
„Liebe Freundin, wie geht es dir?“
Johanna, die immer mit Briefen antwortet, nimmt diese Frage dankend auf und berichtet mit aller frischen Wut, Empörung und Raserei von den unfassbaren Ereignissen um den Tod ihrer Mutter. Und deutlich wird bald eins: In dieser Lebenssituation findet sie keine tröstenden Gedanken aus ihrer akademischen Vergangenheit, die sie mit Max so verbindet. Diese Vergangenheit bekommt deshalb auch gleich im ersten Brief mal ihr Fett weg:
„Aber ich schreibe hier keine Doktorarbeit. Ich will von dem altklugen Scheiß, den ich fabriziert habe, als ich noch vollkommen ahnungslos gewesen bin, was Verzweiflung ist, nichts mehr wissen!“
Das ruft Max auf den Plan, doch in beharrlich stoischer Ruhe verbleibend, sendet er nur eine weitere Bildpost mit der Frage:
„Liebe Freundin, bist du bei Trost?“
Mit dieser vieldeutigen Provokation nimmt nun die Erzählung einen ziemlich erwartungsgemäßen Verlauf. Es folgen weitere Tiraden von Johanna, die sich zunächst nicht ernst genommen fühlt, dann jedoch das Bildmotiv: Pietro Perugino, Madonna mit Kind mit Johannes dem Täufer und dem heiligem Sebastian als tiefsinnigen Denkanstoß ihres Freundes versteht. So kommt sie auf die Fragen:
„Steckt nicht in jedem traumverlorenen Märtyrer ein Verräter? Weil er aufgehört hat, gegen das Leid in der Welt zu rebellieren?“
Es ist nicht uninteressant, den Fortgang der Geschichte zu lesen. Es folgen bemerkenswerte Bezüge auf Sokrates und andere philosophische Geister und nach 120 Seiten landet man beim bitteren Stoiker Seneca, der für solche Wut und Flennerei von Johanna keinerlei Verständnis gezeigt hätte.
Wie gesagt, die ganze Erzählung ist die literarische Verarbeitung des genannten Essays und birgt dabei – neben sicher anregenden Zitaten und Bezügen auf vergangene Geistesgrößen – jedoch die Gefahr, in vielem noch weit mehr missverstanden und böswillig missbraucht zu werden. Johanna mag zwar keine sympathische Identifikationsfigur sein – das ist einzig die Tote in der Erzählung, die Mutter, von der man im Verlauf der Geschichte zunehmend überzeugt ist, dass sie die Konsequenz ihres Laissez-faire im Umgang mit dem Virus nicht bereut hätte – doch Leser:innen von Johannas frustrierten Rundumschläge könnten doch oft denken: „Da hat sie recht!“.
Der gläubige Mensch fühlt sich bestätigt, wenn er die Religionsverachtung der Ungläubigen als mental schwächendes Erbe der Aufklärung erklärt bekommt, die die vorgebliche „Komödie der Jenseitsverheißung durch die Farce ewigen Dieseitsversprechen ersetzt“ hat.
Der Skeptiker der Corona-Maßnahmen jubelt, wenn er rhetorische Fragen wie diese liest: „Erleben wir nicht gerade, wie das scheinbar Vernünftige ins Absurde umschlägt, wenn ganze Gesellschaften sich und ihren Mitgliedern aus Angst vor dem Tod das Leben verbietet?“
Und immer wieder gibt es für den sich selbst erhebenden gebildeten Geist Bemerkungen zu lesen, die dieser gern nickend quittiert, weil es seine herablassende Sicht auf den einfachen Plebs bestätigt: „Die Leute wissen instinktiv, dass ihnen nichts anderes übrigbleibt als zu regredieren. Sie backen Kuchen und mampfen Spaghetti, weil es sie in ihre Kindheit zurückversetzt.“
Derlei findet man vieles in den Tiraden der Johanna und es schließt sich die oft gestellte Frage an, ob Johanna ein literarisches Alter Ego von Thea Dorn sei. Doch lohnt es sich, darüber zu mutmaßen? Ich finde nicht. Vielmehr beschäftigt mich die trostlose Erkenntnis aus „Trost“, die auch zum Buch mein kurzes Fazit für Nervöse ist:
Auch die literarische Beschäftigung mit den vielen ethischen, moralischen und existenziellen Fragen zur Pandemie und Krise wird hier ideologisch verharrend und undialektisch fortgeführt, wie zuvor schon der enttäuschende, intellektuelle Diskurs in den Medien.
Es ist sicher nicht zu erwarten, dass die Pandemie große Literatur befördert – ich kenne ja auch keinen Jahrhundertroman, der die spanische Grippe thematisch im Zentrum hätte –, jedoch die aktuelle Chance, zumindest dem Zeitgeist was zum Nachdenken und debattieren zu geben, wird von Thea Dorn nicht genutzt. Wer gerne ausführlicher und noch mehr auf den Inhalt des Buches eingegangen wissen will, dem empfehle ich die hervorragende, aktuelle Besprechung von Peter Hintz auf 54Books.de.
Zu viele Unterstellungen liegen m. E. der Intention der Erzählung zugrunde. Besonders der Tenor, unsere Gesellschaft sei nicht stoisch genug, unvermeidbares Leid zu ertragen, und sei zu feige sich mit dem Tod und der todbringenden Natur zu konfrontieren, verdreht die offensichtlichen Tatsachen. Die Menschen zeigen sich mehrheitlich bereit, alles zu ertragen, um sich eben nicht schicksalsergeben dem Tod geschlagen zu geben. Wobei es den meisten gar nicht um ihren eigenen Tod geht, sondern um den Schutz einer Minderheit, die die Folgen einer Infektion besonders fürchten müssen.
Bislang verlassen in unserer zivilen Gemeinschaft nur wenige das leckende Schiff, obwohl viele wissen, dass sie schwimmend das rettende Ufer erreichen könnten. Die überwältigende Mehrheit tut dennoch alles, um das Leck wieder zu schließen und das Wasser unermüdlich zu schöpfen, um auch die Schwachen und Nichtschwimmer nicht allein ihrem Schicksal zu überlassen. Dieses Bild bislang so mitzuerleben und ein Teil davon zu sein, ist für mich auch ein solidarisches Glück, das wir hoffentlich in ein paar Jahren entspannt rückblickend feiern werden.
Nun ja, die Bedrohung durch den Tod scheint mir universeller. Covid fokussiert uns auf den Tod, daneben, davor, war das Verdrängen einfacher. Die Schwachen, die Nichtschwimmer , waren die ein Thema? Die Toten im Mittelmeer, die Opfer unseres “ kultivierten “ Lebens?