Ist Querdenken noch zu retten?

Als ich mich vor vielen Jahren als Unternehmensberater selbständig machte, kreierte ich mir eine Visitenkarte, auf der ich „Vordenken. Querdenken. Nachdenken.“ als beschreibende Quintessenz meiner Arbeitsweise aufdrucken ließ. Das mag mancher vielleicht nicht für besonders konkret und überzeugend erachten, doch für mich war es immer auch ein Leitfaden in meinem Leben. 

„Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“ 

Francis Picabia

Das Vordenken ist die euphorische, ungebremste erste Phase des Sammelns von Ideen und Lösungen oder auch der Meinungsbildung. Dann folgt die zweite Phase: das Querdenken. In ihr lag und liegt für mich die entscheidende Phase, um den Tunnelblick zu erweitern. Hier gilt es, sich selbst zu widerlegen, kritisch zu reflektieren, unbedachte Fragen, Einwände und Argumente zu sammeln und damit die erste, euphorische Sichtweise zu überprüfen. Erst danach trete ich in die dritte Phase des Nachdenkens ein, um eine Conclusio zu bilden, einen Konsens zu suchen, um dann auf noch bessere Ideen und Lösungen zu kommen oder meine Meinung und Ansichten zu äußern und zur Diskussion zu stellen. Im Idealfall ist es dann auch noch ein zyklischer, dialektischer Denkverlauf, der mit jeder neuen Erfahrung, jedem neuem Argument weiter rotiert.

So weit, so gut, mag jetzt mancher denken. Ja, so macht man das, so mach ich das auch. Ist doch lapidar. Und wäre das Querdenken in den vergangenen Monaten nicht so sehr in Misskredit geraten, würde ich mich jetzt dazu auch nicht explizit äußern, sondern hätte es als selbstverständlichen Teil jeder Meinungsbildung und jedem Prozess der Lösungsfindung unterstellt. Doch – wie zu erwarten – bin ich aktuell immer weniger davon überzeugt, dass das Querdenken und das daraus zwingend folgende Nachdenken, so wie ich es von mir erwarte, noch eine Selbstverständlichkeit ist.

Querdenken ist nur mehr Querulantentum

Es gibt das schöne, aber nicht wohlmeinende Wort „Querulant“. Wer ein Querulant ist, denkt offenbar auch quer. Doch er denkt nicht nur quer, er legt sich quer, bremst aus, lähmt den Betrieb. Auch wenn die Bezeichnung „Querulant“ in aktuellen Zeiträumen immer eine negative Bezeichnung ist, so ist sie rückblickend im historischen Kontext oftmals auch positiv zu bewerten. Denn wer würde nicht denen im Dritten Reich als Querulanten bezeichneten Menschen heute anerkennend auf die Schulter klopfen. Mit diesem heroischen Eigenbild des querulantischen Regimekritikers gingen und gehen viele derzeit auf die Straße, bezeichnen sich aber selbstredend lieber als Querdenker. Doch genau das sind sie eben nicht. Sie sind und bleiben „Querulanten“, weil sie sich dem dritten Schritt des Nachdenkens und dem Konsens suchen, verweigern. Denn der wäre – im Gegensatz zu einem totalitärem Staatsgebilde – in einer offenen, demokratischen Gesellschaft immer möglich. 

Sie beharren auf ihrer Querdenker-Stufe und kreiseln dort in stetiger Selbstvergewisserung. Sie suchen nicht nach Impulsen, die sie aus dieser Beharrung lösen könnte, sondern gefallen sich in der Attitüde, einfach Gegner zu sein. So wird aus anfänglicher Opposition letztlich nur nerviger Konformismus und Opportunismus im gesellschaftlichen Widerstand. Deshalb fühlen sich auch AfD-Sympathisanten sehr wohl in der Querdenker-Szene. Aber eben auch Esoteriker, Identitäre und Libertäre.

Für Querulanten ist „Konsenssuche“ Verrat an der Sache

Doch dieses Phänomen betrifft derzeit nicht nur die selbsternannten „Querdenker“, sondern fast alle, die sich irgendwann das Denken abnehmen lassen, weil sie eine Ideologie für sich gefunden haben. Diese Kippen einer differenten Meinung oder gesellschaftspolitischen Idee in ein ideologisches Glaubensbekenntnis durchzieht derzeit die gesamte Gesellschaft und macht das, was eine heterogene Gesellschaft benötigt, immer schwieriger: Konsens. 

Die Suche nach einem mehrheitsfähigen Konsens war früher der Kern demokratischer Politik. Es war wohl auch intuitiv der Primat bei der Wahlentscheidung vieler Bürger:innen. Deshalb gab es zu Beginn auch nur wenige Parteien. Mehr und mehr entwickelte sich aber ein Politikverständnis, das nicht zum Ziel hatte, für etwas zu sein, sondern immer mehr entschieden sich, primär gegen etwas zu sein. Denn „gegen etwas zu sein“ ist gedanklich und argumentativ häufig einfacher. Es befreit einen, sich der zunehmenden Komplexität und dem „Für und Wider“ widmen zu müssen. Gegen etwas zu sein, etwas zu verhindern, ist erst mal sicheres Terrain, denn man muss nicht etwas mitverantworten, dem man zugestimmt hat.

Viele Querdenker finden Nachdenken nicht der Mühe wert

Doch auch bei vielen, die aktiv für etwas plädieren, gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass sie im Querdenken verhaften und das Nachdenken der Mühe nicht wert finden. Mir fällt das derzeit beispielhaft bei diesen aktuellen Themen auf: 

  • Der Wunsch nach einem bedingungslosen Grundeinkommen: wahrlich ein hochkomplexes Thema, das stetig von den Befürwortern, ohne ökonomisch plausible Szenarien zu denken, als nicht nur möglich, sondern zwingend erklärt wird. Mit all meinen Kenntnissen über Markt und Ökonomie bin ich der Auffassung, dass sich ein wirkliches BGE nicht umsetzen lässt. Um jedoch einen Konsens anzubieten, habe ich dazu nur einen konstruktiven Wunsch, den aber die Verfechter des BGEs nie aufgreifen: Lasst uns als erstes eine bedingungslose Grundrente einführen, dann werden wir sehen, wie sich diese allmählich bis auf den Zeitpunkt der Geburt erweitern ließe.
  • Der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit: hier wird ein Framing betrieben, dass den Begriff „sozial“ moralisch erhöhen will, indem man den Eindruck vermittelt, dem Sozialen sei Gerechtigkeit inhärent. Also, wer mehr Soziales fordert, fordere immer auch eine gerechte Sache. Doch sozial und gerecht sind zwei unterschiedliche Schuhe. Ich wünsche mir sehr viel mehr soziales Verhalten dort, wo es bislang nur gerecht zugeht. Gerecht teilen ist, einen Apfel in gleichgroße Stücke zu zerlegen und zu verteilen. Sozial teilen heißt, den Apfel nach Bedürftigkeit zu teilen. In letzter Konsequenz also, wenn ich satt bin und mein Freund hungrig, überlasse ich ihm den Apfel. Gerecht ist das dann aber nicht. Es ist einzig sozial, und eben nur unter den von mir willkürlich festgelegten moralischen und ethischen Prinzipien. Es sind aber eben nur meine Prinzipien. Die sind sozialer, aber nicht gerechter, als wenn jemand entscheidet, den Apfel auch unter dieser Prämisse zu halbieren. Und hier liegt die Crux: Die Forderung nach mehr „Soziale Gerechtigkeit“ ist einfach nur Ausdruck eines moralischen Narzissmus.

Ein gutes Beispiel für den schwierigen Umgang mit dem „Querdenken“ ist offenbar Sahra Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“. Ich hab´s bislang nicht gelesen, jedoch viel darüber gelesen. Hier verhält es sich offenbar so, dass viele schon die Anregung, mal querzudenken, als Affront empfinden. Vielleicht ist das Buch überwiegend nur das Ergebnis eines Querdenkens und noch nicht genügend nachgedachter Konsens. Aber damit bleibt es immer noch eine relevante, wünschenswerte Einladung zum Quer- und Nachdenken. 

Das beste Beispiel für ein sehr erhellendes und sehr konstruktives Querdenken fand ich vor kurzem in dem Buch „Die Loyalitätsfalle“ von Rainer Hank, das ich hier ausführlich besprochen habe. Die Resonanz auf das Buch (und auch auf meinen Beitrag) ist vergleichsweise mau. Und darin liegt meines Erachtens ein weiteres Problem des konstruktiven, den eigenen Tunnelblick erweiternden Querdenkens. Das Ergebnis liegt vielen dann oft quer im Magen, stellt viele zuvor beruhigende Gewissheiten infrage, stößt unangenehm auf, führt also zu gedanklichem Sodbrennen. Solch einem Zustand weicht man dann doch lieber aus und widmet sich wieder schonenderer Kost. 

Dennoch hoffe ich, dass wir das konstruktive Querdenken noch retten werden und das fortschrittliche Nachdenken über Konsens wieder mehr Zustimmung findet. 

Bild von Pexels auf Pixabay 

Ein Gedanke zu “Ist Querdenken noch zu retten?

  1. Der Begriff Querdenken ist leider nicht mehr zu retten, verbrannt, wie man sagt. Was fast überall fehlt, ist die Fähigkeit und der Wille zur Differenzierung, zum ruhigen Betrachten und Bedenken eines Sachverhaltes von allen Seiten. War aber wahrscheinlich schon immer so, früher hat man nur (zum Glück?) nicht mitbekommen, was die Leute so von sich gegeben haben.

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