Hat die Demokratie abgewirtschaftet?

Vorbemerkung: „Hat die Demokratie abgewirtschaftet?“ ist eine Frage, die sich mir aktuell stellt, angesichts einer subjektiven Bestandsanalyse. Diese habe ich in einen Essay gepackt, zu dem ich von der Hertie Stiftung und ihrem Essay-Wettbewerb „Demokratie und Wirtschaft“ angeregt wurde. Die Ausgangsfragestellung war:


IN WELCHEM VERHÄLTNIS STEHEN DEMOKRATIE UND WIRTSCHAFT? WAS VERBINDET DIE BEIDEN SPHÄREN, WAS TRENNT SIE? WIE SIEHT EIN ZUSAMMENSPIEL AUS, DAS DER GESAMTEN GESELLSCHAFT NÜTZT?


Mein Beitrag hat keine Preiswürdigung bekommen – das zu erwarten, wäre auch zu vermessen gewesen. Dennoch will ich ihn nicht unveröffentlicht lassen. Vielleicht regt er doch an, mit mir weiter nach Antworten zu suchen.

Hat die Demokratie abgewirtschaftet?

Ist Demokratie ein Managementtool, mit dem sich Krisen erfolgreich bewältigen lassen? Oder ist sie gar ein auslaufendes Geschäftsmodell, dem die „Disruption“ droht? Was verdankt die Wirtschaft der Demokratie und was kann sie zu ihrem Erhalt beitragen?     

Betrachten wir es doch mal frei von aller Sentimentalität und verorten Wirtschaft und Demokratie in der Maslowschen Bedürfnispyramide. Da stünde die Wirtschaft am Fuße der „physiologischen“ Bedürfnisse und die Demokratie befände sich – je nach kulturellem oder politischem Hintergrund – eventuell ganz oben bei der Selbstverwirklichung. Wirtschaft ist existentiell, Demokratie hingegen ein umstrittenes, gesellschaftspolitisches Ideal. Und das nicht nur geopolitisch. Auch in demokratischen Gesellschaften schwelt in vielen Köpfen weiterhin Schillers „Demokratie sei „die Herrschaft der Feigen und der Dummen“ (Fiesco).

Historisch ist die Demokratie – vom Prototyp der griechischen Antike abgesehen – eine junge staatspolitische Form. Wirtschaft hingegen war schon von Anbeginn essenziell für das gesellschaftliche Leben. Die Aufgabe hat uns die Natur gestellt, zumindest in jahreszeitlich geprägten Hemisphären. Das lernen wir von Kindesbeinen an aus Geschichten und Fabeln wie „Die Grille und die Ameise“ von Jean de La Fontaine.

Der Wirtschaft kann die Demokratie gleichgültig sein, wie der Ameise die hungernde Grille. Deshalb ist sie jedoch keine Antagonistin, wie es einige politische Ideologien unterstellen. Weltweit gedeiht sie – mit wenigen experimentellen Ausnahmen – unter allen politischen Staatsformen. Sie ist die gesellschaftliche Basis, die das Fressen organisiert. Die Moral kommt bekanntlich erst danach. Selbst die heutige Wirtschaft baut nicht auf demokratische Prinzipien. Eine demokratische Unternehmensführung ist kaum vorstellbar. Die wenigen Versuche mit solch geführten Wirtschaftskollektiven (Kibbutz) bleiben meist auf dem Level einer Selbstversorger-Kommune stecken.

Die gekaufte Demokratie 

Strenggenommen gibt es einen demokratischen Ausgangspunkt in der freien Wirtschaft, der in keiner Staatsform so basisdemokratisch gegeben ist: der Unternehmensanteil. Der Erwerb von Stimmrechten ist einzig an eingesetztem Kapital geknüpft. Je höher meine Anteile, desto gewichtiger mein Votum. Dies ist ein für jeden nachvollziehbares Mehrheitsprinzip. Während in den demokratisch gewählten Regierungen die Meritokratie vorherrscht, man sich also erst seine Meriten verdient haben muss, bevor man im Staat lenken darf, ist dies in der Wirtschaft nicht zwingend vorgesehen. Hier kann sich jeder seinen Einfluss auf die Unternehmenslenkung erkaufen, unabhängig von seinen Befähigungen. Geld regiert also nicht die Welt, aber immer die Wirtschaft.

Während man wohl zweifelsfrei herleiten kann, dass die Wirtschaft die Demokratie nicht braucht, wird es spekulativ bei der Frage, ob die Wirtschaft dennoch von demokratischen Staatsformen mehr als von anderen profitiere. Hier kann man nur plausible Thesen sammeln und sie den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zur Prüfung überlassen. Eine These liegt besonders nahe: Die Wirtschaft profitiert überproportional von einem demokratischen Konsum. 

Demokratischer Konsum

Was soll das sein? Laut Google ist es eine ehemalige DDR-Punk-Band der 80er. Den Begriff hat sich bislang niemand in den Sozialwissenschaften angeeignet. Dabei liegt er doch mit der Einführung der Massenproduktion nahe. Vielleicht weil ihr prominentester Begründer offen dem Faschismus nahestand: Henry Ford

Ford hat als erster ökonomisch erkannt, dass die Teilhabe seiner Belegschaft am Konsum der selbst produzierten Ware ein weitaus profitableres Geschäftsmodell ist als Luxus für wenige zu schaffen, die es sich leisten können. Und so leitete er vor gut einem Jahrhundert eine unblutige Revolution ein. Nicht nur, dass er die Preise für sein T-Modell halbierte, sondern zugleich auch die Löhne der Belegschaft verdoppelte. Erstmals wurde deutlich, dass ein Zeitalter angebrochen war, dass Allen Teilhabe an allem zusicherte, was produziert wird. Produkte wurden nicht nur billiger, sondern auch massig hergestellt.

Konsumfreiheit mit beschränkter Haftung

Doch nicht nur dies zeichnet den demokratischen Konsum aus. Weitaus bedeutsamer ist die freie Wahl der Konsumenten. In einer Demokratie fallen soziokulturelle Schranken. Mode steht plötzlich jedem zu, Urlaub hat jeder verdient, ein eigenes Haus sowieso. Selbst die Emanzipation und der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten werden – zumindest, wenn es zum Konsum beiträgt – gerne von der Wirtschaft aktiv unterstützt. Edward Bernays, der geniale Begründer der professionellen Öffentlichkeitsarbeit, ließ in den 30iger die Zigarette zur „Fackel der Freiheit“ erklären. Dieses Symbol nahmen die Feministinnen dankend auf und zeigten sich provokativ beim Rauchen in der Öffentlichkeit. 

In einem demokratischen Staat herrscht „Konsumfreiheit“. Und die gilt auch für viele Produkte, die wissentlich dem Einzelnen eher schaden und die Gemeinschaft gesamt belasten. Den Konsum kaum staatlich zu reglementieren oder gar zu zensieren, zahlte sich bislang aus. Die Bilanz war bis heute wirtschaftlich immens positiv, so dass man die Nachteile in Kauf nimmt und die Schäden vergesellschaftet. Konsumlenkungssteuern sind da nur ein politisches Feigenblatt. Nicht zuletzt trägt auch schädlicher Konsum zu prosperierenden, neuen Wirtschaftszweigen bei, wie beispielsweise die Versicherungs-, Medizin- und Pharma- oder die Entsorgungs-Branche.

Auch eine wirtschaftlich florierende Kultur- und Medienbranche ist nur in demokratischen Staatsgebilden denkbar. Dort, wo Medien und Kultur staatliche Repressionen fürchten müssen, werden nur wenige privat investieren. Hingegen lassen unzensierte Entfaltungsmöglichkeiten die unternehmerische Kreativität explodieren. Und die sichern nur Demokratien.

Bildungsinflation

Mit „den (wirtschaftlich) unbegrenzten Möglichkeiten“ geht auch eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung einher. Kaum jemand will sich mehr mit dem Status quo abfinden. Besonders wenn es um die gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten der eigenen Kinder geht. Die Bereitschaft in Bildung und Ausbildung zu investieren – nicht nur Geld, sondern auch viel Zeit – wächst enorm. In vor- und nicht-demokratischen Gesellschaften haben Eltern eher Bedenken, ihre Kinder zu akademisieren. Die Wirtschaft profitiert von einem großen Pool an Akademikern. Besonders, wenn er so groß wird, dass das Angebot deutlich größer als die Nachfrage ist. Und an diesen Kipppunkt sind wir auch schon angelangt.

Die Demokratie in der Krise 

Was Wirtschaft und Demokratie eint ist ihr Planungshorizont. Der geht selten über ein paar Jahre hinaus. Bislang hat sich dies als gangbar gezeigt. Die Symptome der zu bewältigenden Krisen ließen sich immer kurzfristig lindern. Doch die Ursachen blieben oft unbehandelt. In der Wirtschaft rächt sich das durch die sogenannte „Disruption“. Die freie Wahl der Kunden und Konsumenten führt zur Abwahl von Produkten, Dienstleistungen, Branchen und ganzen Wirtschaftszweigen, macht sie obsolet. Dabei ist nicht zwingend immer das Bessere der Feind des Guten, oft ist es einfach nur das Billigere und Bequemere. Möglich ist dies, weil die gesellschaftlichen Gesamtkosten nicht internalisiert sind. Im Bereich der Ökologie haben wir das allmählich verstanden, in vielen anderen Bereichen noch nicht. Und verstehen heißt noch nicht handeln. Das Handeln gegen die Ursachen vieler Krisen wäre die primäre Aufgabe der Politik. Die Frage ist nun, ob die Demokratie ein gutes Krisenmanagement ermöglicht. Die Wirtschaft gibt darauf keine Antwort, denn in ihr ist Demokratie kein Managementtool.

Droht der Demokratie die Insolvenz?

Die aktuelle Behandlung der Pandemie und der seit Jahrzehnten bekannten ökologischen Krise stellen der Demokratie ein miserables Arbeitszeugnis aus. Denn zweifellos führen uns die gegenwärtigen globalen Krisen und Herausforderungen mehr und mehr die Schwächen demokratischer Regierungsformen vor Augen. Und autokratisch geführte Länder feixen angesichts ihrer Überlegenheit, der Pandemie deutlich besser Herr zu werden. Die wesentliche Schwäche der Demokratie erwächst aus der zunehmenden Komplexität zur Entscheidungsfindung. Demokratie bedeutet, divergierende Interessen von vielen gesellschaftlichen Gruppen bis hin zum einzelnen Staatsangehörigem zu berücksichtigen und zu harmonisieren. Dies erfordert abgewogene Regeln und Gesetze. Und das braucht Zeit. Zudem werden diese nicht autokratisch einfach geändert, sondern sie werden ständig erweitert – in der Wirtschaft sind dies Workarounds. Von Jahr zu Jahr wächst in den demokratischen Gemeinschaften das unüberschaubare Gestrüpp der Gesetzgebung und der damit verbundenen Bürokratie. In der Wirtschaft würde man nun radikal fordern, die Prozesse wieder zu verschlanken, in der Demokratie ließe sich das kaum durchsetzen.

Und auch die sichtbar werdenden sozialen Verwerfungen, die die Globalisierung seit Beginn des dritten Jahrtausends mit sich bringen, kann die Demokratie bislang nicht befriedigenden managen. Der Arbeitsmarkt teilt sich mehr und mehr in gut bezahlte Spezialisten und kaum wertgeschätzte Dienstleister. Es wachsen Berufsfelder, in denen sich die Produktivität der dort Tätigen nicht steigern und auch kaum effizienter gestalten lässt: Care-, Service- und Dienstleistungen, die nicht komplex sind, aber persönlich erbracht werden müssen. Für diese wachsenden Berufsfelder braucht es keine Leute mit langjähriger, akademischer Ausbildung, sondern einzig nur stoische Menschen, die keine Karriereambitionen haben und sich mit ebenso geringem Gehalt wie gesellschaftlicher Anerkennung arrangieren können. Bislang rekrutieren wir diese Menschen aus Niedriglohn-Ländern.

Doch nicht nur in diesen Dienstleistungssektoren, in denen Menschen Menschen dienen, wächst ein neues Proletariat heran, sondern auch bei den vielen sogenannten kreativen Berufen. Erschwerend kommt dort das Dilemma hinzu, dass akademisch gut Ausgebildete kein adäquates, von ihnen erhofftes Einkommen mehr erzielen können. Anschaulich wird dies in den Berufen der Inhalte-Kreation. Hier wird die Leistung seit Jahren immer weiter entwertet. Millionen kosten- und rechtefreie Bilder gibt es im Web zum Download. Und schon heute bekommt man einen 1.000-Wörter-Textbeitrag in guter inhaltlicher und stilistischer Qualität, zudem noch SEO optimiert, auf Online-Anbieterseiten ab € 35,–. Ein solcher Essay wie dieser hier wird seinem Verfasser zukünftig bestenfalls 5 bis 6 Cent pro Wort einbringen – das wären ca. € 80,–. 

Diese unweigerliche Schere auf dem Arbeitsmarkt birgt enormen gesellschaftspolitischen Sprengstoff. Denn in Zukunft geht es nicht mehr allein um eine gerechte Entlohnung, sondern darum, dass Arbeit vielen Menschen kein Selbstwertgefühl verschafft. Gegen die Lohnschere ließe sich mit staatlicher Alimentierung angehen. Doch gegen fehlende gesellschaftliche Anerkennung und dem damit verbundenen Gefühl der Minderwertigkeit und Scham hilft auch keine monetäre staatliche Aufstockung. Mit welchen Mitteln wir uns gegen diesen Keil in die Gesellschaft stemmen können, wissen wir heute nicht. Es ist ein Problem, das die ökonomische Dynamik schafft und für das die Wirtschaft und keine Regierungsform bislang eine Lösung hat. Es ist die offene Flanke für den aufstrebenden Populismus und die Gefahr der Insolvenz der Demokratie.

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