Aufklären lässt sich nur, wer aufgeklärt werden will.

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Nur ein aufgeklärter Geist, kann auch ein freier Geist sein. Nach Jean-Jaques Rousseau könne der Mensch zwar auch zur Freiheit gezwungen werden, doch in Bezug auf die Ausbildung eines freien Geistes widerspricht dies der Prämisse der Aufklärung, wie Kant sie etwas hölzern, jedoch eindeutig erklärt:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Für uns Deutsche ist meist Immanuel Kant der geistige Vater der Aufklärung. Doch als er 1784 diese Antwort veröffentlichte, war ein Vordenker seit acht Jahren tot, über den Kant bekannte, dass dieser ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer“ erweckt habe: der Moralphilosoph David Hume (1711 – 1776).

Der Schotte Hume ist einer der bedeutendste Vertreter der schottischen Aufklärung, die Mitte des 18. Jahrhunderts Edinburgh und Glasgow zu einem intellektuellen Zentrum von Freidenkern machte. Neben Hume zählt sein langjähriger, enger Freund Adam Smith (1723 – 1790) zu den auch international sehr einflussreichen schottischen Denkern dieser Zeit.

david_hume-bioBeide bzw. ihre wesentlichsten Thesen und ihre Einflüsse auf das moderne Denken sind mir über Sekundärliteratur bekannt. Doch muss ich bekennen, keine Originalwerke von ihnen je in die Hand genommen zu haben. Im Falle von Adam Smith wird sich das umgehend ändern. Dank der aktuellen, hervorragend verfassten Biografie von Gerhard Streminger. Und ebenso werde ich mich hoffentlich bald auch der vorhergehenden Biografie über „David Hume“ von Gerhard Streminger widmen können.

Während letztere knapp 800 Seiten umfasst, ist es dem Autor nun gelungen, Leben, Denken und Bedeutung des Urvaters der modernen Ökonomie Adam Smith auf wenig mehr als 200 Seiten zu verdichten. Und selbst eine kritische Würdigung seiner Thesen sowie der neuzeitlichen, ideologischen Interpretationen findet in dem Werk Raum. Wer also sein Bild vom vorgeblich geistigen Vater der neoliberalistischen Denke erweitern und gegebenenfalls korrigieren möchte, findet hier eine ideale Lektüre.

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Schämt Euch!

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Dieses Buch könnte ein Anfang sein. Mit der „Rückkehr nach Reims“ legt Didier Eribon ein Bekenntnis ab, dem viele Erkenntnisse folgen könnten. Doch lese ich in den Feuilletons und Blogs die zahlreichen, begeisterten Besprechungen, so gewinne ich den Eindruck, dass dieses Buch von allen Lesern zustimmend und befriedigt geschlossen worden ist

Didier Eribon (Interview), geboren 1953, wird verehrt als einer der es geschafft hat, in Frankreich: aus einfachsten, proletarischen Verhältnissen stammend, früh sich zu seiner Homosexualität bekennend und politisch unerschütterlich bis heute sozialistisch, ist er in Paris als bedeutender Intellektueller etabliert. Neben seiner akademischen Arbeit als Soziologe, wurde er international für seine Biografie über Foucault gerühmt, die jedoch auf Deutsch vergriffen ist (Laut Suhrkamp wieder lieferbar: 06.12.2016.)

Didier Eribon war mir zuvor unbekannt. Nimmt man den deutschen Wikipedia-Eintrag als Gradmesser seiner internationalen Bedeutung, so muss mir das nicht allzu unangenehm sein. Deutlich umfangreicher ist der französische Eintrag. Trotz stetigem Bedeutungsverlust umweht Personen in Frankreich, die man als „Intellektuelle“ bezeichnet, noch immer eine popikonische Aura.

Warum hat mich dieses Buch so unbefriedigt zurückgelassen? Und zwar so unbefriedigend wie eine Zigarette, über deren Genuss Oscar Wilde einmal treffend schrieb: Eine Zigarette ist das vollendete Beispiel eines vollendeten Genusses. Sie ist köstlich und lässt einen unbefriedigt.

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„Liest Du noch Hesse?“

Hesse-BiografieDiese Frage – von einem Unterton begleitet, der einem sagen soll, dass man wohl beim Literaturgeschmack in der literarischen Adoleszenz stehen geblieben sei – stellt sich öfter, wenn Besuchern die 20bändige Hesse-Gesamtausgabe ins Auge fällt. Und ich gebe zu, dass ich sie zunächst aus Dankbarkeit an Hesse erworben habe. Doch auch der Wunsch, einiges wirklich mal wieder in die Hand zu nehmen, ist noch ernsthaft. Denn Hermann Hesse ist nun mal – neben Frisch, Salinger und Proust – einer der Schriftsteller, der mir den Zugang zu Literatur verschafft hat. Und damit steh ich ja nicht alleine. Eher wohl in einer sehr konventionellen Tradition vergangener und zukünftiger Lesergenerationen. Und ebenso konventionell scheint es zu sein, dass das Lesen von Hesse beginnend mit der Vollendung des 20sten Lebensjahr zunehmend belächelt wird. Warum eigentlich?
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Stürmt die Buchhandlung! Botho Strauss „Herkunft“ befühlen, beschnuppern und lesen!

FotoIch muss Abbitte leisten. In der Vergangenheit habe ich doch zu leichtfertig propagiert, dass es beim Buch nicht darauf ankäme, ob digital oder gedruckt, sondern auf den Inhalt. Für 99% der Bücher trifft das meines Erachtens immer noch zu. Doch mit „Herkunft“ von Botho Strauss widerlegen Autor und Verleger die 100%-These.

Die schlicht-edle Leinenhaptik des Buches versetzt mich augenblicklich in den Zeitraum zurück, in den ich mit dem Aufschlagen dann knapp 100 Seiten lang einreisen darf. Und auch der Geruch sowie die Farbe intensivieren die Empfindung eines Zeitsprunges. Der smaragdgrüne Einband erinnert mich an die Stoffbezüge einiger Sitzmöbel meiner Großeltern und deren Freunde. Strich man mit der Hand darüber, vermittelten sie einem eher Robustheit als Kuscheligkeit.

Das schmale, jedoch gewichtige Buch in der Hand zu befühlen, zu streicheln und zu beschnuppern war sicher das gewünschte und von mir auch wunderbar geschätzte Vorspiel zu Botho Strauss Erinnerungen an seine Herkunft, an denen er uns darauffolgend dann teilhaben lässt.

Und was diese Teilhabe betrifft, fällt es mir sehr schwer, meine hymnische Begeisterung zu zügeln. Vor kurzem erst ereiferte ich mit einigen Bloggern über die Frage „Was ist große Literatur?“. Nun halte ich mit diesem schmalen Bändchen etwas in den Händen, von dem ich mit voller Inbrunst der Überzeugung sage: Das da! Und das sage ich besonders auch, weil ich bislang Botho Strauss zwar geschätzt habe, aber er mir dennoch nicht als einer der ersten als Beispiel in den Sinn gekommen wäre. Bislang finde ich weitgehend Bestätigendes in den wenigen Rezensionen der Feuilletons, so z.B. aktuell in der Literaturbeilage der Zeit von Ijoma Mangold, in der SZ und in der Welt von Wolfgang Büscher.

Bitte, lest „Herkunft“ noch auf dem Weg zur Buchmesse! Hat sich ja erledigt.

Wenn dieses wunderbare Kleinod an Erinnerungsliteratur nicht ein hörbares begeistertes Aufatmen und großes Echo in den Gängen der Messe erzeugt, dann verstehe ich die Bücherwelt nicht mehr. Ein schöneres und überzeugenderes Geschenk für die Liebhaber des Buches aus der vordigitalen Welt kann kein Autor machen.

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Kolonnade in Bad Ems in der der „Knabe Botho“ auch gern wandelte.

Der Anlass: Der Groll der Jugend über einen verbitterten, sich seinen erzkonservativen Werten gegenüber verpflichtet fühlenden Vater – wie auch ich ihn gegenüber meinem kleinbürgerlich und kleingeistig empfundenen Großvater verspürte – will nach über 50 Jahren noch erklärt sein. Doch mehr und mehr drängt sich der Respekt vor der bewahrten Haltung eines Mannes vor, den das Schicksal durch Kriegsversehrung im ersten Weltkrieg und den kompletten Verlust der materiell großbürgerlichen Existenz durch den zweiten Weltkrieg bedrückt hat und den man ja auch geliebt hat und der einen auch das hat werden lassen, was man heute ist.

„Ohne Dich wäre ich nicht ich.“ ließ ich auf der Todesanzeige meiner Großmutter hinzufügen, die für mich, der ich vaterlos aufwuchs, eine zweite Mutter war. Ihr danke ich sehr – trotz ihrer biederen, ähnlich kriegsverbitterten Lebensweise – für ihre mir entgegengebrachte Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit. Ihr Mann, mein Stiefgroßvater, den ich als Vaterfigur bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr erlebte, war mir ähnlich nah und dennoch fern, wie der Vater, den Botho Strauss portraitiert. Doch während Strauss nun rückschauend mehr und mehr dessen sonderliches Wesen entschuldigt, kann ich bis heute meinem jahrzehntelang bei Neckermann in immer gleichbleibender Position arbeitenden, kleinmütigen Großvater nicht verzeihen.

Bad Ems, Kursaal; Architekt: J.G.Gutensohn

Kurhaus, Bad Ems

Botho Strauss schildert eine provinzielle bürgerliche Kulisse in Bad Ems, in der er aufwuchs und in der man das „Hut ziehen“ vor anderen noch wörtlich nahm. Dabei vermittelt er den Eindruck, in sehr spürbarer, materieller Bescheidenheit aufgewachsen zu sein. Diese sei der Erfolglosigkeit seines freiberuflichen Vaters geschuldet, die er nach der Flucht in den Westen mit 60 Jahren begann. Ein „bescheidenes Leben“ ist sehr relativ, wie sich anhand der Tatsache erläutern lässt, dass die Familie Strauss zu dritt in einer 7 Zimmer Wohnung mit Dienstmädchen lebte und der Vater dem Sohn beispielsweise DM 10,- für jede Doppelstunde Altgriechisch zahlt, die der Sohn auf dem neusprachlichem Gymnasium freiwillig belegt. Strauss bezeichnet dies dann recht humorig als „die wohl nützlichste und ertragreichste Investition meines Lebens.“

Aber die konkreten, biografischen Fakten sind in dem Einblick in seine Erinnerungswelt unerheblich. Es ist die beeindruckende dichterische Sprache, die sich schlafwandlerisch auf dem Grat zwischen heute ältlich und damals fast Avantgarde bewegt. Und es ist eine, ja ich finde betörende, eigenwillige ästhetische Form, seine Erinnerung zu fassen, zu fesseln und zu deuten.

Sprachlich lockt Strauss zum einen gerne in die Zeit zurück, wenn er zum Beispiel schreibt:

„Wie schimpflich aber, daß(!) ich mich so genierte, wenn ich ihm mit meinen Kameraden auf dem Schulweg begegnete, wenn er mir entgegenkam auf dem Rückweg von seinem Morgenspaziergang und ich nicht wagte, ihn unbefangen zu grüßen.“

Zum anderen versteht er es aber auch ebenso lakonisch als auch melancholisch einen sehr berührenden Sachverhalt neuzeitlich zu beschreiben:

„Morgen wird die Wohnung der Eltern aufgelöst. Morgen wird meine Kindheit entrümpelt.“

Und zum selben Thema an anderer Stelle, die dem Buch denn auch seinen Titel gab:

„Die Auflösung der Wohnung zieht aus jedem Winkel, jedem Gegenstand Herkunft hervor.“

Und es finden sich viele Einsichten über die Kindheit und Jugend, die man nur im vorgerücktem Alter gewinnt:

„Man erinnert sich einer Zeit, da man noch den Schutz der Zukunft genoß (!): die Dinge, wie man ihnen auch begegnete, sie standen bevor.“

Sowie:

„Nie hast du Unglück so hart und pur empfunden wie in der Unruhe und Quere des Aufwachens.“

Und an anderer Stelle etwas allgemein Lebensphilosophisches:

„Immer formt Schicksal eine tiefere Einsicht, als die Intelligenten, die seine Macht nie zu spüren bekamen, sie für sich in Anspruch nehmen dürfen.“

Mir sehr zu Herzen ging Botho Strauss Erinnerungen an die Hände des Vaters, wie er sie bewegte und welche Haltung Hände und Gestus vermitteln. Die sehr detaillierte Behandlung des Themas „Hände“ kulminiert am Ende in der Feststellung:

„Heute sind Hände nicht sehr gefestigt, … scheinen (…) sich zu schämen und werden schnell unruhig.“

Eine Beobachtung, die ich nicht gleich bestätigen würde wollen, jedoch für durchaus plausibel erachte.

Nicht zuletzt gibt Botho Strauss auch seinen zukünftigen Biografen deutliche Hinweise auf die Trigger, die ihn in seiner Jugend zur Literatur und Theater sich hinwenden ließen. Denn seinem Elternhaus verdankt er das nur sehr bedingt. Weit mehr Einfluss hat ein Lehrer namens Telkrath, dessen „ästhetische Erziehung ich genoß und der mich vom „Bravo“-Leser (Hört, hört!) zum „Tristan“-Schwärmer veredelte.“

Und er bläst ein wenig in das Horn der Kritiker, die ihm eine gewissen reaktionären, machtopportunistischen Zug zusprechen – doch meines Erachtens sich sehr souverän einer solchen politisch gewollten Zuordnung entziehend:

„Vielleicht weil ich nie ein fröhlicher Waisenknabe der Rebellion war, der den Vater los sein wollte und dem sein Lebtag der Wutschweiß ausbricht, wenn ihm Macht als Machtperson begegnet, neige ich zu der Ansicht, daß Macht vielen, die sie nicht besitzen, das Leben besser sichert als Macht, in die sich viele teilen. Aber das sagt jemand, dem Autorität immer nur genützt hat, dem in Erziehung und Beruf Vorbild, Meisterschaft und Anführung selbstverständlich waren und den sie immer nur gefördert und niemals unterdrückt haben.“

Allen jungen Menschen, die derzeit noch auf der Suche nach herausragender Literatur sind bitte ich, diesem Buch mit Wohlwollen zu begegnen und sich auf den manchmal etwas irritierend ältlichen Stil einzulassen. Vielleicht lädt euch diese das letzte Kapitel einleitende Textpassage ein, das Buch zu lesen

„Zähmung der Erinnerung, Dressur der Wehmut ist unvermeidlich, wenn man etwa einem jungen und unbekannten Menschen etwas von früher erzählen will. Eigentlich gelangt man ja nur nach Hause in verschwommenen, undisziplinierten Empfindungen. Fügt sich die Erinnerung, so schwindet sie schon.“

Zum Schluss verspreche ich jedem, der dieses Buch liest, dass er noch nie eine so beeindruckend literarische Beschreibung eines Briefbeschwerers gelesen hat, die zukünftig exemplarisch – ob akademisch oder künstlerisch – für viele zukünftige Generationen sein wird, die sich mit dem Schreiben befassen. Eben große Literatur.

Nachtrag: weitere Rezensionen, die ich bislang finden konnte:

Bei Lesarten das andere Literaturmagazin.

Der Vater der Blogosphäre: Michael de Montaigne.

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Eines ist Sarah Bakewell mit „Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten“ wunderbar gelungen: uns Lesern den Menschen, Schriftsteller, Ab-und-an-Philosophen, Diplomat, Denker und Plauderer Michel de Montaigne überaus sympathisch zu machen. Seit Jahrhunderten dient dieser geistreiche und belesene Franzose aus dem 16. Jahrhundert gerne als Untermaurer unserer gesammelten Lebensweisheiten. Eine für Literaturfreunde passende und von manchen auch dankbar ehrlich übernommene:

„Lies viel, vergiss das meiste wieder, und sei schwer von Begriff!“

Foto 1-1Besonders beeindruckend ist, dass er schon zu seinen Lebzeiten hohe Anerkennung erfuhr. Und zwar nicht nur für seine politischen und diplomatischen Leistungen als Bürgermeister und politischer Berater in sehr unruhigen Zeiten, sondern auch für sein literarisches, progressives Werk, den „Essais“. Diese literarische Form, als deren Urheber Montaigne gilt, ist uns in heutigen Bloggerzeiten sehr sympathisch. Enthebt sie uns doch von lästiger Recherche und ermöglicht sie uns auf einem einzigen Gedanken fußend, unsere weiteren Überlegungen dazu schweifen zu lassen. Es sollte dem Essayisten jedoch letztlich gelingen, entweder klug oder zumindest recht belesen wirkend, diesen Gedanken originell und/oder erschöpfend zu behandeln. Montaigne gelang dies offenbar schon anerkannter Maßen in der Einschätzung seiner Zeitgenossen.

Interessant ist zudem – wie uns Sarah Bakewell wissen lässt – das Montaigne schon damals ein Anhänger von „Updates“ war. Seine Essais bearbeitete er immer weiter, schuf weitere Versionen, so dass man heute von den Essai-Versionen 1.0 bis 4.0 zu seinen Lebzeiten sprechen könnte und zudem sich die Versionen der Herausgeber, Übersetzer und Remixer in den folgenden Jahrhunderten dann als Versionen 3.1, 3.2 und ff. bezeichnen ließen.

Spannend ist auch, wer alles in den vergangenen Jahrhunderten Montaigne als seinen Geistesbruder entdeckte. Aber auch, wer sehr hart mit ihm ins Gericht ging. Von den begeisterten Montaigne Lesern fand Gustave Flaubert sehr schöne empfehlende Worte:

„Lesen Sie ihn nicht, wie die Kinder lesen, um sich zu vergnügen, noch wie die Ehrgeizigen lesen, um sich zu bilden. Nein, lesen Sie, um zu leben.“

Friedrich Nietzsche wurde gar enthusiastisch, wenn er von dem Franzosen sprach: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.“

Zu seinen ersten harten Richtern zählte Blaise Pascal und Nicolas Malebranche, wie Sarah Bakewell schilderte. Pascal wird dafür denn auch später von Voltaire gerügt, der Montaigne sehr schätzte. Viele weitere Geistesgrößen zählt Bakewell auf, die in die Begeisterung für Montaigne einstimmen.

Essais_Montaigne

An dieser Stelle bekenne ich, dass ich die Essais bis heute nicht gelesen habe. Michel de Montaigne war mir bis dato ebenso nur als gern zitierter, geistreicher Mann bekannt, über dessen Leben und Werk ich nur wenig Wikipedia wusste, jedoch zuvor schon wenigstens, dass wir ihm die literarische Gattung „Essay“ verdanken. Sarah Bakewells Idee, mir diesen Mann und seine Gedanken über 20 Antworten auf die Frage aller Lebensfragen nahezubringen, verlockte mich sofort. Und – soweit ich dies beurteilen kann, ohne die „Primärliteratur“ zu kennen – ist ihr hier ein Zugang gelungen, der allen im Leben Sinn und Antwort-Suchenden großes Vergnügen und ebenso tiefe Erkenntnis verschafft.

Die Kapitel sind oftmals mit recht schlichten Antworten auf die immer wieder gestellte Frage „Wie soll ich leben?“ überschrieben, wie z. B. „Lebe den Augenblick!“, „Finde das rechte Maß!“ oder „Schau dir die Welt an!“. Doch Bakewell behandelt das sich dahinter verbergende Credo zwanzigmal sehr gekonnt und tief schürfend und schafft es dabei sowohl die Biografie Montaignes als auch dessen Werkentstehung chronologisch zu erzählen. Dass dies durchweg gelingt, fand ich genial, insbesondere da ich zu keinem Zeitpunkt den Eindruck hatte, dass sie sich irgendwann zur Geisel ihrer Idee gemacht hätte.

Es kribbelt nun in den Fingern, einige Episoden und beeindruckende Beschreibungen von Sarah Bakewell nachzuerzählen. Beispielsweise von der ausschließlichen Erziehung in lateinischer Sprache in seinen ersten fünf Lebensjahren, die Montaigne auch im Nachhinein goutiert, obwohl seine Eltern die Sprache selbst nicht beherrschten. Oder über seinen Skeptizismus, der ihn lehrte, nichts wirklich ernst zu nehmen und dem Leben und den Menschen mit Gelassenheit entgegen zu treten oder seine eigenwillige Art, Italien zu bereisen, die weit weniger ein Entdeckungsreise von Kunst und Kultur war, sondern ein fasziniert sein von fremden Sitten und Gebräuchen. Doch weiteres würde den selbstgesteckten Rahmen hier sprengen.

Ich schließe meine Empfehlung lieber damit ab, mitzuteilen, dass nun die Essais auf meinem Tisch liegen und ich mich auf den hoffentlich bald kommenden Abend freue, wenn ich mich ihnen widmen werde.

Foto 3Ach, ja und ein P.S. an alle Buch– und Katzenliebhaber: Montaigne ist auch berühmt für den einfühlsamen tierischen Perspektivenwechsel mit seiner Katze, den wohl jeder Katzenhalter nachvollziehen kann:

„Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?“

„Es gibt kein Schicksal, das nicht durch Verachtung überwunden werden kann.“

image-9Diese von Iris Radisch zitierte Bemerkung Albert Camus, die er anlässlich des bevorstehenden Einmarsch der Deutschen in Paris gemacht habe, erfasst für mich, was ich in meiner Jugend aus seinen gelesenen Werken für mein Leben mitgenommen habe. Und das war fast vierzig Jahre danach, Ende der Siebziger. Eine Biografie von Camus zu lesen war somit für mich auch das Befassen mit meiner eigenen Biografie.

Warum liest man wohl Autorenbiografien? Sicher häufig aus dem oben genannten Grund: weil der Autor wie ein guter Bekannter, einflussreicher Lehrer oder gar Freund ins eigene Leben trat. Wenn ich heute in meinem Regal auf die roten Rücken der Rowohlt Taschenbuchausgaben von „Der Fremde“, „Die Pest“ oder „Sisyphos“ blicke, dann kann ich mich einer gewissen Sentimentalität nicht erwehren. Camus war damals einer der Autoren, der mich nach einer politischen Erweckungsphase erstmals auch zum Zweifler jeglicher Ideologien machte. Mit ihm begann meine Ernüchterung, die auf die anfänglich euphorische Suche nach Sinn und Glück versprechenden Lebensentwürfen folgte und mein Leben lang anhielt. Camus hatte also einen nennenswerten Einfluss auf meine Persönlichkeitsentwicklung.

Ebenso darf man sich fragen, warum schreibt jemand eine Autorenbiografie? Wohl überwiegend aus den selben Gründen, warum sie viele Leser lesen. Man kann also etwas vereinfacht konstatieren, dass sich beim Lesen einer Autorenbiografie zwei Seelenverwandte zusammenfinden, die über vergangene Zeiten mit einem gemeinsamen Freund plaudern. Iris Radisch hat also eingeladen und es waren schöne Stunden, die ich mit ihr und ihren Erzählungen über Albert genossen habe. Viel Unbekanntes, Interessantes und auch Amüsantes erfuhr ich über Albert. Und wie ich von einer integren Freundin erwartet habe, erfuhr ich nichts, was meinen Camus in ein zweifelhaftes Licht setzen würde. Wieder Zuhause vor dem Regal keimt dann auch die Lust, den alten Freund wieder zu treffen. Mehr habe ich von diesen gemeinsamen Stunden nicht erhofft.