Der prosaische, deutsche Titel des Romans „Der Geschichtenverkäufer“ von Jostein Gaarder deutet an, wie wenig heldenhaft die Geschichte ist: die Lebensbeichte eines Verkäufers, eines Verkäufers von Geschichten. Sicher, es ist nicht mal eine sinngemäße Übersetzung des Titels ins Deutsche, doch offenbar fand ihn der Lektor oder wer sonst im Verlag recht treffend. Hieße der Titel „Der Geschichtenhändler“ oder „Der Geschichtenerfinder“, ich hätte eine andere Vorstellung des Helden konnotiert. Aber das hätte dann auch nicht dem entsprochen, was ich beim Lesen des Romans empfand. Für mich erzählt er weder sprachlich noch inhaltlich eine besonders ambitionierte Geschichte – doch liegt darin Kalkül?
Der Held Petter resümiert über sein menschlich doch recht armes Leben, das er nun knapp 50 Jahre in sehr selbstgefälliger Trunkenheit gelebt hat, da ihm das Schicksal – neben Empathie und schneller Auffassungsgabe – auch die Begabung zu großer Fantasie zuteilte. Dieses Talent baut er nicht aus, sondern es reicht ihm, um sich schon früh eine sehr auskömmliche berufliche Existenz aufzubauen, die darin besteht, einer wachsenden Zahl von Autoren seine Ideen, Plots und Synopsen zu verkaufen und auch an den Tantiemen der daraus nicht selten entstehenden Besteller zu partizipieren.
Diese doch recht hanebüchene Grundidee des Romans legitimiert der Held und damit wohl auch der Autor mit einem landläufigen Klischee, an dem sicher auch etwas Wahres ist:
„Schon damals – und seither immer mehr – habe ich es komisch gefunden, dass unsere Kultur Menschen en Masse hervorbringt, die schreiben können und wollen, aber nichts zu sagen haben. Warum wollen sie schreiben, wenn sie offen und ehrlich zugegeben, dass es nichts gibt, was sie vermitteln könnten?“
Doch im weiteren Verlauf der Geschichte, die uns einen recht unsympathischen, einzelgängerischen Snob als Helden präsentiert, wird das Klischee wieder etwas relativiert – bedingt durch den immensen Einfluss des Helden auf die aktuelle Literatur:
„Doch das Problem war nicht nur, dass zu viele schlechte Bücher geschrieben wurden; das Problem war auch, dass es zu viele gute Bücher gab. Wir gehören einer Sippe an, die mit Wörtern um sich wirft. Wir produzieren mehr Kultur, als wir verdauen können.“
Allein stehend sind die beiden Zitate schlau und spiegeln ein reales Phänomen. Solche Sätze verführen sicher deshalb auch einige dazu, diesen Roman als Satire des aktuellen Literaturbetriebs zu lesen. Da kann ich nur einstimmen, wenn es die Doppelbödigkeit meint. Denn die Satire erkenne ich hier weit weniger in den Klischees von einfallslosen Autoren, sondern weit mehr in der hier verbreiteten Naivität, dass herausragende Literatur auf einer einzigartigen Idee und entsprechendem Plot fuße. Dieser Gedanke ist so albern wie die häufige Laienreaktion auf moderne Kunst: das hätte ich auch gekonnt. Die Kunst beginnt dort, wo der Held Petter aufhört: bei der ebenso originären wie mühsamen Arbeit, aus einer schnellen Skizze ein beachtliches Werk zu schaffen.
Im Roman ist die sehr junge Vaterschaft Petters eine sehr deutliche Metapher für seine bequeme und sich völlig selbstüberschätzende Vorstellung seines Beitrags zu den literarischen Werken, die auf seinen Ideen beruhen. Er befruchtet auf ausdrücklichem Wunsch seine 10 Jahre ältere Freundin Maria, wohl wissend, dass er auf die Entwicklung des Kindes nie Einfluss haben wird. Auf die Werke, die sich aus Petters „befruchtenden“ Ideen entwickeln, erhebt er jedoch den albernen Anspruch wie ein Erzeuger, der sein Kind erst im erwachsenen Alter kennenlernt und sich dann als stolzer Vater geriert.
Ich empfinde diesen Roman als literarischen Streich eines sehr cleveren Autors, der sich ab und an ins Fäustchen lachte als er Kritiken lesen durfte, die sich begeistert über seine gelungene Profanisierung des Literaturbetriebes freuten. Denn er selbst weiß sehr gut, dass Meisterwerke der Literatur nicht entstehen, weil dem Autor mal eine tolle Idee zugeflogen ist. Den deutlichsten Hinweis erbringt Jostein Gaarder in der doch ansonsten recht unverfrorenen Adaption des Plots von Max Frischs „Homo Faber“. Und für diesen von mir unterstellten „Geniestreich“ muss ich ihn loben. Doch ich mag mich irren.