Selten habe ich mir mit der Einschätzung eines Romans so schwer getan, wie diesem. Mit großem Respekt bin ich an die Lektüre gegangen. Mit 88 Jahren noch mal so ein Buch zu schreiben, das beeindruckt und fordert Hochachtung. Doch als Leser so voreingenommen zu sein, verklärt sicher den Blick. Deshalb habe ich eine gute Woche Abstand genommen, bevor ich noch mal über „Alles, was ist“ resümierte.
Es findet sich ein Absatz nach gut dreiviertel des Romans, in dem James Salter die „herausragenden“ Lebensereignisse – mit Ausnahme der jugendlichen Kriegserfahrung – seiner Zentralfigur Philip Bowmann zusammenfasst:
„Er war sich nicht sicher, was sie und ihn betraf. Er war zu alt, um zu heiraten. Er wollte keinen späten, sentimentalen Kompromiss. Dafür hatte er zu viel erlebt. Er hatte einmal geheiratet, mit ganzem Herzen, und sich geirrt. Er hatte sich unfassbar in eine Frau in London verliebt, und es war irgendwie verblasst. Wie vom Schicksal getroffen hatte er eines Abends in der romantischsten Begegnung seines Lebens eine Frau kennengelernt und war hintergangen worden. Er glaubte an die Liebe – er hatte das immer getan –, aber jetzt war es wohl zu spät. Vielleicht konnten sie für immer so weitermachen, wie ein Leben in der Kunst. Anna, so nannte er sie, Anna, bitte komm. Setz dich neben mich.“
Wenn das alles ist, was ein langes Leben an Höhepunkten zu bieten hatte, wäre es wohl des Erzählens nicht wert. Oder doch? Irritierend ist, dass die Folgen von Ereignissen, die in anderen Romanen einen zentralen Wendepunkt markieren, bei James Salter nicht der Rede wert sind. Bestes Beispiel ist das erschütternde Schicksal eines Kollegen und Freundes, das in einer Nebenepisode zwar detailliert beschrieben wird, jedoch im Nachhinein keine Relevanz im Leben des Freundes erlangt: der Tod dessen Frau und 10jährigen Sohnes bei einem Zugunglück.
Eigentlich ist nichts Bedeutendes der Rede im Roman wert – weder gesellschaftliche Ereignisse noch Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen. Einzige Ausnahme bilden die oben zitierten Frauen im Leben Bowmanns. Doch auch hier bleiben deren Charaktere interpretationsbedürftig. Hingegen werden die sexuellen Erfahrungen sehr plastisch und dezidiert erinnert. Die erotischen Momentaufnahmen und die Eindrücke des Krieges sind offenbar in Bowmanns Leben die prägenden gewesen. Ist das alles, was ist?
Letztlich versöhnte mich eine Analogie mit meiner mir bislang nicht zu erklärenden Faszination des Buches: es ist weit mehr ein Sittengemälde als eine Erzählung. Der Roman wirkt letztlich auf mich wie einige Bilder von Edward Hopper. Dessen Motive sind vordergründig ja schlicht, eindeutig und für viele sehr dekorativ. Doch versetzt man sich in die Szenen, so ist es ernüchternd, teils bitter zu erkennen, was am Ende – eines Tages, einer Begegnung, einer Beziehung oder eines Lebens – übrig bleibt: jeder Mensch kehrt letztlich in sich zurück und zieht einsam Bilanz. Was unterm Strich dabei für ihn rauskommt, kann nur er individuell Wert schätzen. Ebenso das Fazit nach der Lektüre des Romans.