Schämt Euch!

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Dieses Buch könnte ein Anfang sein. Mit der „Rückkehr nach Reims“ legt Didier Eribon ein Bekenntnis ab, dem viele Erkenntnisse folgen könnten. Doch lese ich in den Feuilletons und Blogs die zahlreichen, begeisterten Besprechungen, so gewinne ich den Eindruck, dass dieses Buch von allen Lesern zustimmend und befriedigt geschlossen worden ist

Didier Eribon (Interview), geboren 1953, wird verehrt als einer der es geschafft hat, in Frankreich: aus einfachsten, proletarischen Verhältnissen stammend, früh sich zu seiner Homosexualität bekennend und politisch unerschütterlich bis heute sozialistisch, ist er in Paris als bedeutender Intellektueller etabliert. Neben seiner akademischen Arbeit als Soziologe, wurde er international für seine Biografie über Foucault gerühmt, die jedoch auf Deutsch vergriffen ist (Laut Suhrkamp wieder lieferbar: 06.12.2016.)

Didier Eribon war mir zuvor unbekannt. Nimmt man den deutschen Wikipedia-Eintrag als Gradmesser seiner internationalen Bedeutung, so muss mir das nicht allzu unangenehm sein. Deutlich umfangreicher ist der französische Eintrag. Trotz stetigem Bedeutungsverlust umweht Personen in Frankreich, die man als „Intellektuelle“ bezeichnet, noch immer eine popikonische Aura.

Warum hat mich dieses Buch so unbefriedigt zurückgelassen? Und zwar so unbefriedigend wie eine Zigarette, über deren Genuss Oscar Wilde einmal treffend schrieb: Eine Zigarette ist das vollendete Beispiel eines vollendeten Genusses. Sie ist köstlich und lässt einen unbefriedigt.

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Ja, Gila Lustiger, wir alle befinden uns in fragwürdiger Gesellschaft

IMG_1653Ist das Zufall? In jüngster Zeit überzeugten mich – mit Ausnahme von Houellebecq – ausschließlich Gesellschaftsromane von Autorinnen. Zunächst Karine Tuil mit „Die Gierigen“ , dann Zoë Beck mit „Schwarzblende“ und jetzt auch Gila Lustiger mit „Die Schuld der Anderen“. Zudem gelingt letzteren auch noch die Kunst, ihre Erzählungen in eine überzeugende kriminalistische Rahmenhandlung zu packen. Daran ist ein Großer, Louis Begley, gänzlich gescheitert und auch der neue Martin Suter „Montecristo“ kann da nicht wirklich überzeugen.

Eine weitere Übereinstimmung findet sich in den Werken von Zoë Beck, Gila Lustiger und Martin Suter: die ermittelnde Hauptfigur ist jeweils ein Journalist. Angesichts der immer vehementer werdenden Medienschelte und des attestierten kontinuierlichen Verlust an Glaubwürdigkeit, könnte man vermuten, dass die Autoren einen Beitrag zur Verbesserung der journalistischen Reputation leisten wollten. Doch hat man die Romane gelesen, kann man die Vermutung wieder einpacken. Zwar gelingt es allen Hauptfiguren die miesen Komplotte gänzlich aufzudecken, doch die Konsequenzen daraus überzeugen nur Fatalisten.

Ein Kriminalroman, der die Welt erklärt.“ ist das begeisterte Fazit von Denis Scheck über „Die Schuld der Anderen“. Da möchte ich einstimmen, doch muss ich einschränken, dass nur dem etwas erklärt wird, der kein unverrückbares Weltbild vor sich herträgt.

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Neid und Missgunst für € 19,95

IMG_8587Selten dürfte es heute einem Autor (oder seinem Lektor) noch gelingen, einen so knappen Buchtitel zu finden, der nicht schon zigfach belegt ist und zugleich den Zeitgeist so tief berührt. Perfekte Vermarktungsaussichten für ein Buch, sollte man meinen. Es verwundert auch kaum, dass in den bislang wenigen Besprechungen von „Die Gierigen„gerne von einem fulminanten Gesellschaftsroman und grandiosem Sittengemälde unserer Zeit gesprochen wird, der die aktuellen Geiseln unserer Gesellschaft „Neid, Geld, Gier & Macht“ mitreißend thematisiert.

Ja, das gelingt Karine Tuil – wie ich finde – außergewöhnlich gut und sehr lesenswert. Doch das Sujet ist nicht aktuell, sondern ein zeitloses, das seit Jahrhunderten in vielen Romanen dankbar aufgriffen wird. Und das bestätigt die Autorin auch gerne selbst. In einem Interview, das man aber besser erst nach der Lektüre anschauen sollte, wenn man nicht schon den ganz Plot im voraus kennen möchte, verweist Karine Tuil auf Balzacs Romanfigur Eugène de Rastignac. Er stünde Pate für ihren Romanheld Samir. Der sei der Karrierist unsere Zeit. „Er ist ambitioniert, im guten Sinne, aber eben auch Opportunist, weil er lügt und betrügt, um nach oben zu kommen.“

Trotz der guten Voraussetzungen bezweifle ich, dass der Roman in Deutschland sonderlich beachtet und viel gelesen wird. Die Romangeschichte ist zwar nicht kompliziert, aber durchaus komplex. Das muss nicht schädlich für den Erfolg sein, jedoch in diesem Fall hat der Roman mindestens eine Ebene, mit der wir uns in Deutschland sehr schwer tun: innere und äußere Konflikte von Juden und Moslems. Jedoch kommt es nicht zum Clash der Kulturen, sondern zu individuellen Schicksalsdramen, für die der ethnisch-religiöse Hintergrund nur ein unerwünschtes Erbe ist.

Das Grundgerüst des Romans ist ebenso erfolgsversprechend wie stereotyp: eine Dreiecksbeziehung zweier Männer und einer Frau. Deren Liebesgeschichte, die in der Jugend beginnt und sich in unerfüllter Sehnsucht über Jahre bewahrt, dürfte zumindest Leser(innen) von Liebesromanen rühren. Der introvertierte, selbstzweiflerische und dennoch von einer Schriftstellerkarriere träumende Samuel – Adoptivsohn jüdischer Eltern – lebt in einer Beziehung mit der ebenso beeindruckend schönen wie uneitlen Nina. Die beiden befreunden sich mit Samir an, Sohn einer muslimischen Witwe und älterer Halbbruder eines „Bastards“, gezeugt von einem französischen Politiker, der die in seinem Haus angestellte Mutter verführte. Der ungeliebte und unbeachtete Halbbruder ist im Verlauf des Romans der Auslöser des ewig drohenden Unheils.

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Die Autorin, die auch Figur des Romans sein könnte: Karine Tuil

Samir ist in den berühmt berüchtigten Banlieues aufgewachsen und von den Jugenderinnerung – wie er später einmal Nina gegenüber gesteht – sehr traumatisiert. Samir ist aber eine herausragende Ausnahme: er wirkt nicht nur charismatisch auf Frauen und Männer, sondern ist hochintelligent und diszipliniert genug, um ein Jurastudium summa cum laude zu absolvieren. Doch zuvor geht die Dreiecksfreundschaft an seiner unbeherrschten Begierde und Ninas fehlendem „Nein“ zugrunde.

Während Samuel seine tödlich verunglückten Eltern in Israel beerdigt landen die anderen beiden im Bett. Nach einem dramatischen Suizidversuch Samuels, entscheidet sich Nina, bei Samuel zu bleiben. Fortan trennen sich die Lebenswege des Paares und Samirs für zwanzig Jahre. Doch beide Männer vereint eine schicksalsbestimmende Lebensentscheidung: um ihre berufliche Zukunft zu sichern, verleugnen sie ihre ethnisch-religiöse Herkunft.

Samir geht sogar soweit, sich der Biografie Samuels zu bedienen und sich bei Eintritt in eine Anwaltskanzlei als Jude auszugeben. Auf dieser anfänglich vielleicht noch verzeihlichen Lebenslüge baut dann aber die gesamte atemberaubende Karriere Samirs auf. Er geht nach New York, heiratet die Tochter eines superreichen und mächtigen Juden, wird zweifacher Vater und ein höchst respektierter Rechtsanwalt. Währenddessen arbeitet Samuel als Sozialarbeiter und Nina modelt als Kataloghausfrau.

Schicksalhaft, wie es nun mal ein Romanleben vorsieht, begegnen sich die drei dann nach 20 Jahren wieder und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Denn wie ein im Buch zitiertes jüdisches Sprichwort sagt: „Mit der Lüge kommst Du durch die ganze Welt – aber nicht wieder zurück!“ Am Ende des Romans ist man dann etwas atemlos von der dramatischen Zuspitzung der Ereignisse und sehr beeindruckt wie es Karine Tuil gelingt so viele Themen, wie das Schreiben, bürgerliche Bigotterie, Haben und Sein, Al Khaida, Sexismus, Extremismus, amerikanische Terror-Hysterie und, und, und so plausibel in einem Roman zu verweben.

Doch der Roman hat mich nicht nur mitgerissen, sondern auch an einigen Stellen verärgert. Zunächst war ich über die ersten 150 Seiten völlig irritiert, wie man so klischeehaft Juden und Moslems schildern kann. Besonders das beschriebene Milieu der jüdischen Anwälte und amerikanischen, reichen Juden wäre meines Erachtens einem deutschen Schriftsteller im Feuilleton um die Ohren geschlagen worden – und bis zur Mitte des Romans dachte ich auch mit Recht. Doch im weiteren Verlauf habe ich es als gewollte Provokation interpretiert. Denn der ethnische Konflikt wird dann aktiv aufgegriffen und von den Romanfiguren heftig thematisiert. Er gipfelt für mich in einer Passage als Samir seinem ehemaligen jüdischen Protegé und Anwaltspartner Pierre nach 20 Jahren erstmals seine Lebenslüge beichtet und mit seiner Diskriminierung als arabisch stämmiger Franzose zu rechtfertigen versucht. Pierre ist diese Haltung ein Gräuel und erwidert:

„Du redest wie einer, der sich nichts zutraut, du hast eine Sklavenmentalität. Eine solche Sichtweise ist engstirnig, kleinlich … sie geht davon aus, dass man immer das Opfer seiner Herkunft, seiner Geschichte und Erziehung bleibt. Das ist falsch. Alles im Leben ist eine Frage von Entschlossenheit und Absicht.“

Und im weiterem Gespräch erklärt Pierre – die mir sympathischste Figur im Roman – denn auch seine selbstkritische Ansicht über die ewige Opferhaltung der Juden aber auch der Moslems:

„Die Wahrheit ist, dass die Araber sich ewig gedemütigt und die Juden sich ewig verfolgt fühlen. Die Wahrheit ist, dass die Araber sich benehmen, als wollte man sie immerfort unterdrücken und kolonisieren, und die Juden, als wären sie ständig von Ausrottung bedroht. Beide Gruppen müssen mit ihrer Vergangenheit leben und das Beste daraus machen, und manchmal führt dies zu einem regelrechtem Opferwettbewerb: Wer hat am meisten gelitten? Wer leidet heute noch am meisten? … Das ist erbärmlich und unwürdig und macht mich traurig.“

Das sind Monologe, die wohl kaum ein nichtjüdischer deutscher Autor seine Romanfiguren halten ließ. Und es sind Gespräche und Klischees über die man in Deutschland zumindest pikiert wäre.

BalzacOldGoriot02Mein Unmut über das stereotype Bild von erfolgreichen Juden beruhigt sich im Laufe des Romans. Aber das Bild der Frau in diesem Roman lies mich bis zum Schluss etwas ratlos zurück. Da bin ich wohl auch einem Klischee über die Franzosen aufgesessen. Denn hier hätte ich mir von einer französischen Autorin mehr Typen erwartet. Doch die einzigen Frauen die in diesem Roman eine Rolle spielen, erscheinen schicksalsergeben, antriebslos und bequem. Sie dienen dankbar als Staffage in einer etwas antiquiert wirkenden Macho-Gesellschaft, in der einzig materieller Wohlstand und gesellschaftlicher Status Anerkennung findet. So könnte Samir seine Ehe mit der reichen Jüdin Ruth im selben Wortsinn erklären wie schon Eugène de Rastignac bei Balzac:

„Deine Frau voll Liebe führt zu nichts, eine Frau der großen Gesellschaft zu allem, sie ist der Diamant, mit dem ein Mann alle Fensterscheiben durchschneiden kann, wenn er nicht den goldenen Schlüssel besitzt, vor dem sich alle Türen öffnen.“ (Honoré de Balzac: “Die Entmündigung”)

Und Nina, die zu Beginn als selbstbewusste, realitätsnahe und robuste Persönlichkeit erscheint, lässt sich als 40jährige Frau auf ein Mätressen-Schicksal ein und fordert zu guter Letzt gar ein Kind als Pfand für die Liebe. Man kann diese Naivität als Leser eigentlich nur noch ertragen, wenn man sie als Warnung der Autorin versteht. Doch bitte, welche Leserin eines solchen Romans wird so ein Appell benötigen?

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Der nächste Roman, auf den ich mich freue.

Trotz dieser von mir empfundenen Schwächen der Figuren, die mir auch etwas zu „dick aufgetragen“ sind (Samir ein unwiderstehlicher, hochintelligenter Womanizer, Nina eine umwerfende Schönheit, die alle anderen Frauen in den Schatten stellt und Samuel, der sein Selbstmitleid klischeegerecht sublimiert und sich als herausragender Autor entpuppt) erachte ich „Die Gierigen“ als einen starken Roman. Ein Roman, dessen Anspruch ich besonders schätze und von dessen Sujet ich mir auch mehr deutsche Romane wünschen würde. Vielleicht suche ich an der falschen Stelle, doch immer wenn es um solch überbordende Gesellschaftsromane geht, finde ich in deutschen Feuilletons überwiegend amerikanische Romanautor(innen) und diesmal auch eine Französin als Empfehlung. Nachtrag: es freut mich beim Blog Durchleser auf eine weitere begeisterte Rezension hinzuweisen.

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Der Roman, der mich in diesem Jahr bisher am meisten beeindruckt hat.

Der nächste Roman, von dem ich mir ähnlich viel erhoffe, liegt schon parat. Und wieder ist es eine Autorin: Meg Wolitzer mit „Die Interessanten“. Wenn auch dieser Roman mich überzeugt, ist 2014 für mich das große Jahr der Autorinnen. Alles überragend bislang Donna Tart mit „Der Distelfink“. Der Roman hat mich so beeindruckt, dass es mir bisher nicht gelang, eine befriedigende Rezension dazu zu schreiben.

Der Vater der Blogosphäre: Michael de Montaigne.

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Eines ist Sarah Bakewell mit „Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten“ wunderbar gelungen: uns Lesern den Menschen, Schriftsteller, Ab-und-an-Philosophen, Diplomat, Denker und Plauderer Michel de Montaigne überaus sympathisch zu machen. Seit Jahrhunderten dient dieser geistreiche und belesene Franzose aus dem 16. Jahrhundert gerne als Untermaurer unserer gesammelten Lebensweisheiten. Eine für Literaturfreunde passende und von manchen auch dankbar ehrlich übernommene:

„Lies viel, vergiss das meiste wieder, und sei schwer von Begriff!“

Foto 1-1Besonders beeindruckend ist, dass er schon zu seinen Lebzeiten hohe Anerkennung erfuhr. Und zwar nicht nur für seine politischen und diplomatischen Leistungen als Bürgermeister und politischer Berater in sehr unruhigen Zeiten, sondern auch für sein literarisches, progressives Werk, den „Essais“. Diese literarische Form, als deren Urheber Montaigne gilt, ist uns in heutigen Bloggerzeiten sehr sympathisch. Enthebt sie uns doch von lästiger Recherche und ermöglicht sie uns auf einem einzigen Gedanken fußend, unsere weiteren Überlegungen dazu schweifen zu lassen. Es sollte dem Essayisten jedoch letztlich gelingen, entweder klug oder zumindest recht belesen wirkend, diesen Gedanken originell und/oder erschöpfend zu behandeln. Montaigne gelang dies offenbar schon anerkannter Maßen in der Einschätzung seiner Zeitgenossen.

Interessant ist zudem – wie uns Sarah Bakewell wissen lässt – das Montaigne schon damals ein Anhänger von „Updates“ war. Seine Essais bearbeitete er immer weiter, schuf weitere Versionen, so dass man heute von den Essai-Versionen 1.0 bis 4.0 zu seinen Lebzeiten sprechen könnte und zudem sich die Versionen der Herausgeber, Übersetzer und Remixer in den folgenden Jahrhunderten dann als Versionen 3.1, 3.2 und ff. bezeichnen ließen.

Spannend ist auch, wer alles in den vergangenen Jahrhunderten Montaigne als seinen Geistesbruder entdeckte. Aber auch, wer sehr hart mit ihm ins Gericht ging. Von den begeisterten Montaigne Lesern fand Gustave Flaubert sehr schöne empfehlende Worte:

„Lesen Sie ihn nicht, wie die Kinder lesen, um sich zu vergnügen, noch wie die Ehrgeizigen lesen, um sich zu bilden. Nein, lesen Sie, um zu leben.“

Friedrich Nietzsche wurde gar enthusiastisch, wenn er von dem Franzosen sprach: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.“

Zu seinen ersten harten Richtern zählte Blaise Pascal und Nicolas Malebranche, wie Sarah Bakewell schilderte. Pascal wird dafür denn auch später von Voltaire gerügt, der Montaigne sehr schätzte. Viele weitere Geistesgrößen zählt Bakewell auf, die in die Begeisterung für Montaigne einstimmen.

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An dieser Stelle bekenne ich, dass ich die Essais bis heute nicht gelesen habe. Michel de Montaigne war mir bis dato ebenso nur als gern zitierter, geistreicher Mann bekannt, über dessen Leben und Werk ich nur wenig Wikipedia wusste, jedoch zuvor schon wenigstens, dass wir ihm die literarische Gattung „Essay“ verdanken. Sarah Bakewells Idee, mir diesen Mann und seine Gedanken über 20 Antworten auf die Frage aller Lebensfragen nahezubringen, verlockte mich sofort. Und – soweit ich dies beurteilen kann, ohne die „Primärliteratur“ zu kennen – ist ihr hier ein Zugang gelungen, der allen im Leben Sinn und Antwort-Suchenden großes Vergnügen und ebenso tiefe Erkenntnis verschafft.

Die Kapitel sind oftmals mit recht schlichten Antworten auf die immer wieder gestellte Frage „Wie soll ich leben?“ überschrieben, wie z. B. „Lebe den Augenblick!“, „Finde das rechte Maß!“ oder „Schau dir die Welt an!“. Doch Bakewell behandelt das sich dahinter verbergende Credo zwanzigmal sehr gekonnt und tief schürfend und schafft es dabei sowohl die Biografie Montaignes als auch dessen Werkentstehung chronologisch zu erzählen. Dass dies durchweg gelingt, fand ich genial, insbesondere da ich zu keinem Zeitpunkt den Eindruck hatte, dass sie sich irgendwann zur Geisel ihrer Idee gemacht hätte.

Es kribbelt nun in den Fingern, einige Episoden und beeindruckende Beschreibungen von Sarah Bakewell nachzuerzählen. Beispielsweise von der ausschließlichen Erziehung in lateinischer Sprache in seinen ersten fünf Lebensjahren, die Montaigne auch im Nachhinein goutiert, obwohl seine Eltern die Sprache selbst nicht beherrschten. Oder über seinen Skeptizismus, der ihn lehrte, nichts wirklich ernst zu nehmen und dem Leben und den Menschen mit Gelassenheit entgegen zu treten oder seine eigenwillige Art, Italien zu bereisen, die weit weniger ein Entdeckungsreise von Kunst und Kultur war, sondern ein fasziniert sein von fremden Sitten und Gebräuchen. Doch weiteres würde den selbstgesteckten Rahmen hier sprengen.

Ich schließe meine Empfehlung lieber damit ab, mitzuteilen, dass nun die Essais auf meinem Tisch liegen und ich mich auf den hoffentlich bald kommenden Abend freue, wenn ich mich ihnen widmen werde.

Foto 3Ach, ja und ein P.S. an alle Buch– und Katzenliebhaber: Montaigne ist auch berühmt für den einfühlsamen tierischen Perspektivenwechsel mit seiner Katze, den wohl jeder Katzenhalter nachvollziehen kann:

„Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?“