Eines ist Sarah Bakewell mit „Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten“ wunderbar gelungen: uns Lesern den Menschen, Schriftsteller, Ab-und-an-Philosophen, Diplomat, Denker und Plauderer Michel de Montaigne überaus sympathisch zu machen. Seit Jahrhunderten dient dieser geistreiche und belesene Franzose aus dem 16. Jahrhundert gerne als Untermaurer unserer gesammelten Lebensweisheiten. Eine für Literaturfreunde passende und von manchen auch dankbar ehrlich übernommene:
„Lies viel, vergiss das meiste wieder, und sei schwer von Begriff!“
Besonders beeindruckend ist, dass er schon zu seinen Lebzeiten hohe Anerkennung erfuhr. Und zwar nicht nur für seine politischen und diplomatischen Leistungen als Bürgermeister und politischer Berater in sehr unruhigen Zeiten, sondern auch für sein literarisches, progressives Werk, den „Essais“. Diese literarische Form, als deren Urheber Montaigne gilt, ist uns in heutigen Bloggerzeiten sehr sympathisch. Enthebt sie uns doch von lästiger Recherche und ermöglicht sie uns auf einem einzigen Gedanken fußend, unsere weiteren Überlegungen dazu schweifen zu lassen. Es sollte dem Essayisten jedoch letztlich gelingen, entweder klug oder zumindest recht belesen wirkend, diesen Gedanken originell und/oder erschöpfend zu behandeln. Montaigne gelang dies offenbar schon anerkannter Maßen in der Einschätzung seiner Zeitgenossen.
Interessant ist zudem – wie uns Sarah Bakewell wissen lässt – das Montaigne schon damals ein Anhänger von „Updates“ war. Seine Essais bearbeitete er immer weiter, schuf weitere Versionen, so dass man heute von den Essai-Versionen 1.0 bis 4.0 zu seinen Lebzeiten sprechen könnte und zudem sich die Versionen der Herausgeber, Übersetzer und Remixer in den folgenden Jahrhunderten dann als Versionen 3.1, 3.2 und ff. bezeichnen ließen.
Spannend ist auch, wer alles in den vergangenen Jahrhunderten Montaigne als seinen Geistesbruder entdeckte. Aber auch, wer sehr hart mit ihm ins Gericht ging. Von den begeisterten Montaigne Lesern fand Gustave Flaubert sehr schöne empfehlende Worte:
„Lesen Sie ihn nicht, wie die Kinder lesen, um sich zu vergnügen, noch wie die Ehrgeizigen lesen, um sich zu bilden. Nein, lesen Sie, um zu leben.“
Friedrich Nietzsche wurde gar enthusiastisch, wenn er von dem Franzosen sprach: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.“
Zu seinen ersten harten Richtern zählte Blaise Pascal und Nicolas Malebranche, wie Sarah Bakewell schilderte. Pascal wird dafür denn auch später von Voltaire gerügt, der Montaigne sehr schätzte. Viele weitere Geistesgrößen zählt Bakewell auf, die in die Begeisterung für Montaigne einstimmen.
An dieser Stelle bekenne ich, dass ich die Essais bis heute nicht gelesen habe. Michel de Montaigne war mir bis dato ebenso nur als gern zitierter, geistreicher Mann bekannt, über dessen Leben und Werk ich nur wenig Wikipedia wusste, jedoch zuvor schon wenigstens, dass wir ihm die literarische Gattung „Essay“ verdanken. Sarah Bakewells Idee, mir diesen Mann und seine Gedanken über 20 Antworten auf die Frage aller Lebensfragen nahezubringen, verlockte mich sofort. Und – soweit ich dies beurteilen kann, ohne die „Primärliteratur“ zu kennen – ist ihr hier ein Zugang gelungen, der allen im Leben Sinn und Antwort-Suchenden großes Vergnügen und ebenso tiefe Erkenntnis verschafft.
Die Kapitel sind oftmals mit recht schlichten Antworten auf die immer wieder gestellte Frage „Wie soll ich leben?“ überschrieben, wie z. B. „Lebe den Augenblick!“, „Finde das rechte Maß!“ oder „Schau dir die Welt an!“. Doch Bakewell behandelt das sich dahinter verbergende Credo zwanzigmal sehr gekonnt und tief schürfend und schafft es dabei sowohl die Biografie Montaignes als auch dessen Werkentstehung chronologisch zu erzählen. Dass dies durchweg gelingt, fand ich genial, insbesondere da ich zu keinem Zeitpunkt den Eindruck hatte, dass sie sich irgendwann zur Geisel ihrer Idee gemacht hätte.
Es kribbelt nun in den Fingern, einige Episoden und beeindruckende Beschreibungen von Sarah Bakewell nachzuerzählen. Beispielsweise von der ausschließlichen Erziehung in lateinischer Sprache in seinen ersten fünf Lebensjahren, die Montaigne auch im Nachhinein goutiert, obwohl seine Eltern die Sprache selbst nicht beherrschten. Oder über seinen Skeptizismus, der ihn lehrte, nichts wirklich ernst zu nehmen und dem Leben und den Menschen mit Gelassenheit entgegen zu treten oder seine eigenwillige Art, Italien zu bereisen, die weit weniger ein Entdeckungsreise von Kunst und Kultur war, sondern ein fasziniert sein von fremden Sitten und Gebräuchen. Doch weiteres würde den selbstgesteckten Rahmen hier sprengen.
Ich schließe meine Empfehlung lieber damit ab, mitzuteilen, dass nun die Essais auf meinem Tisch liegen und ich mich auf den hoffentlich bald kommenden Abend freue, wenn ich mich ihnen widmen werde.
Ach, ja und ein P.S. an alle Buch– und Katzenliebhaber: Montaigne ist auch berühmt für den einfühlsamen tierischen Perspektivenwechsel mit seiner Katze, den wohl jeder Katzenhalter nachvollziehen kann:
„Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?“