Männerphantasien: Das Märchen von der willfährigen Gräfin.

IMG_9518Paul Theroux liebt das Reisen und davon kann man ja bekanntlich viel erzählen. Das machte er jahrzehntelang so erfolgreich, dass er jetzt als distinguierter, älterer Herr von über 60 Jahren weltbekannt ist und eigentlich niemandem mehr seine literarischen Künste beweisen müsste. Doch irgendwann dachte er wohl an all die Leser, die sich für Reiseliteratur wenig erwärmen, und ersann eine Geschichte, die auch Reiseliteratur unlustige Leser heiß auf ihn machen und Lust bereiten könnte. Und auch das ist ihm gelungen. Weiterlesen

Lasst uns große Reden schwingen!

IMG_9438Wenn man so eine beeindruckende Lektüre über den „Mythos Redemacht“ gelesen hat, ist man versucht anstatt eines Resümees, doch gleich eine Rede aufzusetzen. Doch ich halte der Versuchung stand und hoffe, dass sie noch anlässlich eines Buchpreises von einem veritablen Laudator folgt. Karl-Heinz Göttert, emeritierter Professor für ältere deutsche Literatur, führt uns Leser – nicht professoral, sondern im essayistischem Stil – in ein selten von uns durchdrungenes Phänomen ein, unserer Faszination von beeindruckenden, charismatischen Rednern.

Große Reden? Ist das denn ein zeitgemäßes, ein heute noch relevantes Thema? Weiterlesen

Was erlauben BILD. Houellebecq wie Flasche leer? Ich habe fertig.

Unterwerfung-FertigEs gab in der ersten Woche nach Erscheinen des Romans „Unterwerfung“ schon zahlreiche Kommentare und Rezensionen zu lesen. Auf dem Blog „Lustauflesen“ von Jochen Kienbaum, der sich meinem Wunsch nach Social-Reading anschloss, erschien nun Mitte der Woche sein Resümee. Da konnte ich alles nur nickend unterstreichen. Danke dafür. Den Vogel schoss für mich die BILD mit ihrem Fazit zur Lektüre ab:

„Jede Zeit hat die Bücher, die sie verdient. „Unterwerfung“ heißt das Buch der Stunde. Es ist eine Art YouPorn fürs Hirn, ein „Shades of Grey“ für Intellektuelle. Man muss darüber Bescheid wissen, ob man will oder nicht.“

Ich gestehe, dass ich Michel Houellebecqs schon vor diesem Roman in die Ecke der zynisch-miesepetrigen Intellektuellen einquartierte, die zwar jaulen und bellen, jedoch kaum beißen können. Und auch „Unterwerfung“ konnte mich da nicht vom Gegenteil überzeugen. Dass aber das größte Boulevardblatt Deutschlands, dessen Redaktion sich conditio sine qua non nur aus Zynikern zusammensetzen kann, einzig das oben Genannte am Roman bemerkenswert findet, das zeigt mir doch, dass dort wohl jegliches geistreiche Denken abhanden gekommen ist. Weiterlesen

Das Leben – eine unvollendete Symphonie.

IMG_8597Als ich die letzte Seite des Romans „Der Grund“ beendete, nein besser: ausklingen lies, empfand ich diesen Moment wie das Ende eines fulminanten Konzertabends. Nach dem letzten Akkord ist man noch eine empfundene kleine Ewigkeit entrückt bis man sich innerlich rüttelt und einen furiosen Applaus anstimmt. Anne von Canal hat nicht einfach einen Roman geschrieben, sie hat eine tief bewegende Lebensgeschichte komponiert.

Die Analogie zur Musik liegt zwar recht nahe – denn sie ist im Roman ein wesentliches durchgängiges Element – jedoch ist die Kenntnis über und Leidenschaft für Musik keine Grundbedingung für den Leser. Wissend, dass nur ca. ein Drittel der Menschen sich von Musik wirklich ergreifen lassen, die Mehrheit jedoch Musik bestenfalls als dekorative Geräuschkulisse schätzt, wäre dies auch schon ein erhebliches Ausschlusskriterium. Weiterlesen

Berge & mehr, wie z. B. ein ganzes Leben.

LuisTrenker

Ausschnitt aus Luis Trenker Film „Duell in den Bergen“

Der Kurztext für Nervöse, die wissen wollen, ob Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“ lesenswert ist, lautet: Ja, aber nicht für Euch.

Die beschriebene Lebensgeschichte des Sonderlings Andreas Egger, der Anfangs des 20. Jahrhunderts als Waisenkind in die Berge zu verwandten Bergbauern entsendet wird und dort auch knapp achtzig Jahre später unbemerkt stirbt, kann wohl nur wertschätzen wer noch zur Hingabe fähig ist. Ich weiß, „Hingabe“ ist ein antiquiertes Wort, das heute allenfalls noch in Werbetexten für esoterische Äthermusik angewendet wird. Hingabe meinte einmal die Fähigkeit, sich mit allen Sinnen voll und ganz auf etwas einzulassen, sich von Raum und Zeit entrückt einer Sache gänzlich zu widmen. Das ist in unseren Multitasking geschulten Zeiten viel abverlangt. Weiterlesen

Social Reading. Was ist das denn für `nen neumodischer Kram?

IMG_0736Es ist vorbei. Zumindest die Premiere des SZ-Lesesalons. Dirk von Gehlen hatte eingeladen und mehr als gedacht wollten dabei sein, sodass man die Liste der Gäste per Los auf Hundert beschränkt hatte. Ich war einer davon.

Ja, letztlich waren wir – zumindest nach meinem Gefühl – Gäste. Gäste einer Veranstaltung, bei der wir uns selbst bewirteten (ich meist mit einem Glas Rotwein) und mit Laptop oder Tablet auf dem Schoß aktiver Teil eines interessanten Experimentes der Süddeutschen Zeitung waren: dem Verfassen einer Buchrezension unter Teilnahme von hundert kritisch kommentierenden Lesern.

Zaungäste gab es keine. Denn nur wir konnten auf die Plattform DBook zugreifen, auf der wir dann gemeinsam lesend das neue Opus von Chris Anderson„Makers“ absatz- und kapitelweise kommentierten. Das begann sehr munter. Deutlich mehr Onliner als man gemeinhin bei solchen Aktivitäten vermutet, machten ausführliche Randbemerkungen. Sie waren durchweg anregend und geistreich, selten ideologisch schattiert oder gar polemisch. Letzteres war nach längerer Lektüre gar nicht so einfach.

Literatursalon2Nach wenigen Kapiteln kamen wir Gastleser ziemlich einhellig überein, dass dieses Buch bzw. dieser digitale Text schwach ist. Ich finde es typisch amerikanisch-enthusiastisch verfasst. Und es dient meines Erachtens einzig zur Vermarktung einer kaum fundierten These. In Zukunft würden tausende von kreativen Köpfen am PC alleine und in virtuellen Netzwerken weltweit vereint die Dinge des Lebens entwerfen und im besten Fall auch gleich am heimischen 3-D-Drucker produzieren. Das ganze läutet für Chris Anderson gleich nichts Geringeres als die 4. industrielle Revolution ein. Wie sich schon Jahre zuvor die Longtail-Theorie von Anderson im nachhinein als kaum ökonomisch relevant erwiesen hat, so erachte ich auch diese These für viel zu steil.

Etwas Polemik muss ich hier schon vorwegnehmen. Dieses Buch sollte meines Erachtens in Baumärkten und bei Elektronik Conrad vertrieben werden. Es wäre ein ideales Weihnachtspräsent für die Stammkundschaft. Vor den Projektmeistern und Tüftlern habe ich großen Respekt. Nach der Lektüre werden sie womöglich dieses erhebende, pathetische Gefühl ihres Tuns tatsächlich verspüren, das uns Hornbach seit Jahren über die Werbung penetriert. Doch bei mir persönlich regte sich da nichts.

MakersUnter den Gästen des SZ-Lesesalons wuchs im Verlauf der Lesung der Anteil derer der die gemeinsamen Randbemerkungen interessanter fand als das Buch. Einige wurden recht deutlich und erklärten nach Beenden des ersten Teils, dass sie alleine jetzt das Buch bestenfalls noch quergelesen hätten, aber wahrscheinlicher doch eher endgültig zugeklappt. Ob sich einige „französisch“ aus dem Salon verabschiedeten, vermag ich nicht zu beurteilen.

Die bis zum Schluss dabei geblieben sind gaben alle ihr bestes, um zu einer unterhaltsamen und anregenden Veranstaltung beizutragen. Doch das war gar nicht so einfach, wie sich das mancher erhofft hat. Die Plattform ermöglicht nur ein chronologisches Kommentieren und – wohl der Übersicht halber – keinen direkten Bezug bzw. keine Antwort auf einen bestehenden Kommentar. Dies führte dann doch eher zum Monologisieren.

Betrachtet man die Rolle des Gastgebers Dirk von Gehlen, so war es für ihn meines Erachtens eine enorme Herausforderung, dem Wunsch nach Gehör gerecht zu werden. Als Hausherr der Veranstaltung ist man ja immer bemüht, allen Gästen die gleiche Beachtung zukommen zu lassen. Eine diffizile und manchmal undankbare Situation.

Auch wenn am Ende der Veranstaltung die aktive Teilnehmerzahl schwand so bildeten die Übriggebliebenen dann aber auch den harten Kern. Wir waren die, die sich im wahren Leben zum Ende einer Party gerne in der Küche einnisten und noch stundenlang Weltbewegendes initiieren möchten. Doch der Gastgeber hatte einen Job zu erledigen. Und den erfüllte er dann doch weit gehend allein.

Der wohl etwas unbefriedigende Alleingang des Verfassens einer Kritik behagte nicht allen, obwohl es rückblickend sicher kaum einen gangbareren Weg gegeben hätte. Auch wenn wir den Text kommentieren konnten – umformulieren, ergänzen und redigieren können ihn weder hundert oder auch nur zehn Teilnehmer meines Erachtens nicht.

Es ist wohl müßig zu spekulieren, ob nicht hundert individuell verfasste Kritiken ergiebiger wären? Wenn überhaupt, dann wohl nur, wenn auch unabhängig voneinander gelesen wird. Denn das gemeinsame Kommentieren entwickelt unvermeidlich eine gruppendynamische Tendenz, sodass die Meinungsvielfalt sich zunehmend einschränkt. Das ist für mich sicher der kritischste Aspekt bei dieser neumodischen Art des social readings.

Aber es gibt noch andere Spielarten, die man z. B. auf goodreads oder wattpad verfolgen kann. Auf letzterem finden sich viele (junge) Autoren, die zum Mitlesen, Liken und Kommentieren ihrer Geschichten einladen, die sie netzoffen Stück für Stück verfassen. Jochen Möller lud mich einmal dazu ein. Es ist ein interessantes Konzept und illustriert ein wenig die Zukunft der Literaturformen und derer Entstehungen, die Dirk von Gehlen in seinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar“ vorstellt.

Abschließend stelle ich für mich fest: so ein Salon in der virtuellen Welt ist eine feine Sache. Für mich jedoch Sachbüchern vorbehalten. Belletristisches werde ich bis auf weiteres noch alleine lesen und resümieren.

Über eine Gästeliste hätte ich mich noch gefreut, auf der man sich optional etwas näher vorstellen kann. Denn es waren doch viele interessante Leute im Salon mit denen man gerne in losem oder näherem Kontakt bleiben würde. Vielleicht kann man das noch im Nachhinein einrichten und für die Zukunft ergänzen, z. B. mit einer Twitterliste bei Dirk von Gehlen.

Der SZ, Dirk von Gehlen und Fortuna danke ich noch mal herzlich, dass ich bei dieser Premiere dabei sein konnte. Und allen anderen Teilnehmern für ihre interessanten Beiträge.

Die Rezension erschien in der SZ vom Freitag, dem 14. November, und findet sich online hier.

Die Kurzbeurteilungen einiger Teilnehmer findet man hier

Und über seine Sicht des Experiments spricht Dirk von Gehlen hier.

Nachtrag vom 18.11. die NZZ berichtet über das Experiment und dem aus Ihrer Sicht denn doch eher enttäuschendem Endergebnis, der gedruckten Rezension in der SZ. Sie spiegelt damit sicherlich wider, was wohl viele Leser und auch Teilnehmer dachten: irgendwie hatten wir am Ende mehr erwartet.

Was man aber konkret mehr erwarten könnte und ob das dann für die Leser der abschliessenden Rezension noch relevant ist, darüber müsste man sich sicher noch mal intensiver austauschen.

„Stoner“, der liebenswürdige Purist.

Bildschirmfoto 2014-10-27 um 12.44.54Wäre es eine Biografie, so müsste man sie als Widerspruch zu Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschem“ lesen. Denn vieles Entscheidende im Leben der Romanfigur läuft falsch: Ehe, Karriere, Vaterschaft, Freundschaft und Liebschaft. Doch Stoner bleibt sich treu und zeigt Haltung gegenüber allen, die ihm nicht wohlwollen. Sicher wundert man sich über viele seiner Lebensentscheidungen, die einmal getroffen auch nicht mehr revidiert werden. Jegliche Chance, auszubrechen, einen Neuanfang zu wagen, erwägt er nüchtern und entscheidet sich immer für den bekannten Status quo. Er repräsentiert damit den Typ Mensch, der es vorzieht, sich in seinen bekannten unglücklichen Umständen einzurichten anstatt etwas zu wagen und die Chance auf das Glück zu ergreifen. Positiv umschrieben, sind es Menschen mit sehr bescheidenen Erwartungen an das Leben. Ein sicher nicht seltener Zeitgenosse – damals wie heute. Doch ist das falsch gelebt?

Rückblickend könnte Stoner dies vermuten lassen. Denn wirklich zufrieden ist er mit dem nicht, was er am Ende seines Lebens erreicht hat. Und auch der Leser könnte einstimmen. Denn der Roman löst nichts davon ein, was man gemeinhin von einem Roman erhofft: die persönliche Entwicklung und Reifung des Protagonisten aufgrund außergewöhnlicher Lebensumstände und Schicksalseinflüsse, aus denen am Ende entweder ein tragischer oder ein geläuterter Held erwächst. Bei Stoner empfindet man fast umgekehrt. Alle und alles um ihn herum wandelt sich, nur er nicht.

Author John Williams

Author John Williams

Und dies ist für mich das Überraschende am späten Erfolg des Romans. Es wäre viel leichter zu erklären, warum er bislang keine größere Leserbegeisterung fand als nachzuvollziehen, warum er jetzt so enthusiastisch (Spiegel, Die Zeit, NZZ) aufgenommen wird. Sicher, in Form und Stil ist der Roman herausragend, einmalig puristisch und damit vorbildlich für alle angehenden Autoren. Ein perfektes Studienobjekt für kreatives Schreiben. Schon dafür gebührt ihm große Beachtung. Doch die Geschichte müsste Lektoren zurückschrecken lassen und den Leser am Ende frustrieren – denn wer wünscht sich schon ein Buch zu lesen das sich der Ereignislosigkeit eines ganz durchschnittlichen Lebens widmet?

Da das offensichtlich nicht so ist, lässt sich vielleicht vermuten, dass heute – also fast 50 Jahre nach Ersterscheinen des Buches – doch einige Menschen mehr akzeptieren, auch mit dem erreichten Mittelmaß im Leben und in ihrer Gesellschaft zufrieden zu sein. Und sie erkennen in der Figur Stoner an, dass es nicht der sichtbare Status ist, nicht der Habitus, der eine für uns interessante Persönlichkeit ausmacht, sondern vermehrt ihre Haltung, Charakter, Güte, Toleranz, Empathie – vorausgesetzt, wir lenken unsere Aufmerksamkeit darauf. Dies tut John Williams in seinem Roman und lässt uns viel in das Innere des Helden „Stoner“ blicken, zum Beispiel über seine Erkenntnisse die Liebe betreffend:

„Als William Stoner sehr jung war, hatte er die Liebe für einen vollkommenen Seinszustand gehalten, zu dem Zugang fand, wer Glück hatte. Als er erwachsen wurde, sagte er sich, die Liebe sei der Himmel einer falschen Religion, dem man mit belustigter Ungläubigkeit, vage vertrauter Verachtung und verlegener Sehnsucht entgegen sehen sollte. Nun begann er zu begreifen, dass die Liebe weder Gnade noch Illusion war; vielmehr hielt er sie für einen Akt der Menschwerdung, einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte.“

Man findet viele solcher betörenden Stellen im Roman und beendet das Buch mit dem Gefühl intensiv am Leben eines sehr liebenswürdigen Menschen teilgehabt zu haben. Das ist für mich hohe Kunst des Erzählens.

Es freut mich, dass es auch anderen Bloggern ähnlich ergangenen ist: Feiner Reiner Buchstoff, Glanz und Elend, Buzzaldrins, aus.gelesen, kapri-ziös.