Wann immer ich auf die wachsende Schar von Kulturpessimisten treffe, die unsere Kultur für ebenso bedroht erachten wie unsere Natur, schüttelt es mich ein wenig. Nicht immer willkommen entgegne ich gerne: Unsere Generation wird sicherlich nicht zu der auserwählten zählen, die den Zenit der Kulturgeschichte erleben durfte. Noch viele weitere hunderte Jahre wird es unzählige Werke der Kunst, Musik und Literatur geben, die es wert sein werden, gesehen, gehört und gelesen zu werden.
Kultur ist traditionell schon immer bedroht. Und die Einschätzung über das Ausmaß ihrer Bedrohung korreliert sehr eng mit unserem Lebensalter und dem Durchschnittsalter der Gesellschaft. Wer über dieses Phänomen nicht staubtrocken belehrt oder bierernst am Stammtisch mosern möchte, dem lege ich das Buch „Die Invasion der Barbaren“ von Christian Demand ans Herz.
Christian Demand ist seit 2012 Herausgeber der Kulturzeitschrift „Merkur“ und dafür akademisch umfassend vorgebildet, auch wenn er sich in seiner Jugend begeistert dem Medium Fernsehen zuwandte. In aller Bescheidenheit fühle ich mich geistesverwand mit Christian Demand nachdem ich die sechs versammelten Essays und den abschließenden, sehr amüsanten und völlig frei nutzbaren Kunstkatalogtext las. Für letzteres lohnt es sich also schon mal für alle Galeristen und Kunstausstellungsinitiatoren das Buch zu erwerben.
Um an dem Buch ähnliches Vergnügen zu haben wie ich, ist es wohl hilfreich, eine Melange aus Intellektualität und Witz für möglich zu erachten und sie auch zu schätzen. Sein Stil ist wirklich geistreich und nicht vom Pathos eines Schöngeistes gefärbt. Sehr klar und nüchtern holt er die heilsversprechende Vergötterung kulturellen Schaffens auf den Erdboden. Der Erdboden ist es ja auch, dem wir das ursprüngliche Wort „Kultur“ verdanken: vor Jahrtausenden begannen die Menschen mit der Kultivierung der Natur. Natur und Kultur sind eben Antagonisten.
Kultur ist wider die Natur.
Um an dieser Stelle noch einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, möchte ich anmerken, dass weder Christian Demand noch ich gegen den Reichtum an Kultur, noch prinzipiell gegen eine subventionierte, mäzenatische bzw. private und staatliche geförderte Kultur argumentieren. Mir zumindest geht es vielmehr um mein Eingeständnis, dass ich die Vielfalt an Kultur, die ich genießen kann, als außerordentlichen individuellen Luxus empfinde. Sie ist mein Porsche, meine Rolex, mein Urlaub auf den Seychellen und darf damit ebenso mit Neid und Missgunst gestraft werden.
Mit dem Begriff „Kultur“ konnotiert die gebildete Gesellschaft reflexartig immer etwas immens Positives, Erhaltenswertes, ja Unverzichtbares. Daher wird das Kompositum „-kultur“ rhetorisch gerne von allen eingesetzt, um jeglichen Widerspruch ihres konservativen Wunsches dem Verdacht des Unkultivierten, Barbarischen und Zerstörerischen auszusetzen. Auch wenn der inflationäre Einsatz (Esskultur, Gesprächskultur, Briefkultur, Volkskultur, Filmkultur, Unternehmenskultur, Popkultur, Fernsehkultur, Wein- und Bierkultur, Druckmedienkultur, politische Kultur, Streitkultur, Spaßkultur Erinnerungskultur, Handwerkskultur, Konsumkultur, Spielekultur etc.) heute skeptisch stimmen müsste, kann der Bezeichner jedoch immer noch auf diese Finte setzen.
Dazu schreibt Christian Demand: „Man kann sich über Kulturfundamentalismus lustig machen, aber er bleibt eine ernste Sache, denn im Namen der Kultur werden Unfehlbarkeitsatteste ausgestellt, und man tut so, als werde der einzelne von seiner Kultur wie von einem gültigen Paraorganismus umschlossen.“
Heute ist die höchste Kunst in der Kunst die Überzeugungskunst.
Die neuere Kunstgeschichte und die zeitgenössische Kunstkritik verfügen über keinerlei objektive Normen und Kriterien, anhand deren sie ihren Gegenstand für Dritte nachvollziehbar beurteilen könnten. Einschätzung, Wertungen und Urteile nicht nur über die Qualität von Kunst, sondern, ob etwas überhaupt Kunst ist, sind völlig willkürlich und subjektiv. Unser etabliertes Verständnis von Kunst hat sich jeglichen normativen Festlegungen entzogen. Und was für die bildende Kunst im Besonderen gilt kann auch auf andere Metiers übertragen werden, wie z. B. die Literatur.
„Daß sich die Frage, was Kunst (oder Literatur, Hinzufügung von mir) ist, nicht mehr verbindlich beantworten läßt, gehört deshalb heute zur kunstphilosophischen Erstsemesterausstattung.“schreibt Christian Demand.
Kunst ist also das, was ich dazu erkläre. Heute ist die höchste Kunst in der Kunst die Überzeugungskunst.
Kultur ist identitätsstiftend. Das Pathos ist sympathisch, aber hohl.
Repräsentanten der Kunstpädagogik und andere Kunstexperten zeichnen sich denn auch oft durch überbordende, pathetische Rhetorik aus, wenn es um den Gegenstand ihrer Tätigkeit geht. Christian Demand zeigt dafür Verständnis, „Denn natürlich steigt die Versuchung, eine großsprecherische Außendarstellung zu wählen, je geringer die gesellschaftliche Grundakzeptanz einer Disziplin ist…“
Selten hängt die Latte der Notwendigkeit von Kunst und Kultur niedriger als die, die Rita Süssmuth einmal auflegte: „Die historische Erfahrung (lehrt), daß es nicht möglich ist, eine humane Gesellschaft, die sich der Wahrung der Menschenwürde und der Toleranz verpflichtet weiß, zu gewährleisten, wenn diese Gesellschaft auf den Ausdruck ihrer kulturellen Identität verzichten wolle.“
Dass dieses sympathische Pathos völlig hohl ist, beweist ja unsere deutsche Geschichte vor und nach 1933. Ein hochkultiviertes Volk, wie es die Deutschen vor der Naziregierung zweifelsohne waren, verfällt in wenigen Jahren in inhumanste und grausamste Barbarei. Auch ohne Adorno sollte danach jeder klar urteilende Mensch eingestehen, dass Kunst & Kultur zwar vieles im Leben Einzelner schöner, bewegender und geistreicher machen können, jedoch beides gesamtgesellschaftlich keinerlei prägenden Beitrag für mehr Humanität leistet.
Aber dieses Eingeständnis findet man in unserer Gesellschaft kaum. Vielmehr werden über viele Generationen hinweg die fast religiös anmutenden bildungsbürgerlichen Tugenden nach dem Gebot einer ästhetischen Erziehung gepflegt – „denn ästhetisch erzogene Menschen sind auf lange Sicht auch die besseren Mitmenschen.“
Daraus leitete die Politik und ein breites bildungsbürgerliches Spektrum von weit links bis weit rechts denn auch ihren für die Allgemeinheit recht kostspieligen „ästhetischen Fürsorge“ Auftrag ab. Wie üppig der im Bereich der bildenden Kunst dotiert ist, lässt sich leicht erahnen. Erstens gibt es seit 1950 das K7-Gesetz, das ca. 10.000 „Kunst am Bau“-Werke (hier der Festvortrag 2014 von Martin Seidel) mit bis zu 2% der Bausumme gefördert hat und zweitens gibt es das inflationäre Bedürfnis nach Musealem: 1998 gab es schon mehr als 5000 Museen in Deutschland. Heute sind es schon weit mehr als 6000. Neueröffnungen von ca. 1000 Museen innerhalb von 15 Jahren. Wow!
Dass dies Luxus ist, muss man sich zumindest eingestehen, wenn man mit Christan Demands Einschätzung überein ist: „Und am allerwenigsten gibt sie (die bildende Kunst, Anm. von mir) Anlass zu der Vermutung, der Kunst als solcher oder auch ihrer Rezeption eigneten per se gesamtgesellschaftlich segensreichere Kräfte als etwa Mode, Kino, Sport oder auch Popmusik.“ Aber sicher darf man sich auch weiterhin luxuriös empören, wie aktuell über den Verkauf der Warhol-Bilder in NRW.
Das Volk ist anspruchslos – schon seit 1749.
Christian Demand benennt auch die historische Kontinuität der Kritik, dass die epochale Qualität der Kunst kontinuierlich nachlasse, beginnenden mit dem Franzosen La Font de Saint-Yvenne, der schon 1749 beklagte, „daß die Malerei seiner Zeit einen Niedergang erlebe…“. Wie modern der Kritiker schon damals dachte, wird deutlich wenn Christian Demand erklärt:
„Deshalb tadelte er auch nicht so sehr die Produzenten, die schließlich nur auf die Nachfrage reagierten, er haderte vielmehr mit der Anspruchslosigkeit des zeitgenössischen Publikums.“
Einmal mehr zeigte sich die Willkür der Kunstbewertung an den Beispielen der Verpackungskunst von Christo. Während die Reichstagsverpackung, trotz erheblicher und kurios genommener Hürden, allgemein als herausragendes Kunstereignis in die deutsche Geschichte einfloss, wurde die kurz zuvor eingehüllte Pont Neuf als touristischer Nonsens von der feuilletonistischen Expertenkritik abgestraft.
Doch letztlich ist die qualitative Kritik von Kunst und Kultur sekundär, da sie endlos wäre, weil sie – wie anfänglich beschrieben – keine objektiven Kriterien hat. Das sollten wir spätestens seit Kant akzeptieren, an den Christian Demand erinnert. Er meinte dazu: die Beistimmung zu den eigenen ästhetischen Präferenzen kann man seinen Mitmenschen doch immer nur unverbindlich „ansinnen“.
Die Zerstörung von gesellschaftskritischer Kunst als gesellschaftskritischer Akt am Beispiel AI Weiwei Vase:
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