Nichts ist gesellschaftlich so „toxisch“ wie Loyalität

Rainer Hank Die Loyalitätsfalle

Für jeden von uns – wirklich für jeden – gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, das allen Gesetzen vorgelagert ist, ja das selbst vor unserer Ethik und Moral steht: das Gesetz der Loyalität. 

Der Wert „Loyalität“ hat sich seit Menschengedenken als Tugend in unserer Vorstellungswelt eingenistet. Gegen diese Tugend zu argumentieren, sie als fragwürdig zu erklären, sie als toxische Gesellschaftsdroge und als zähesten Gegner der Aufklärung und Autonomie zu entlarven, ist eine herkulische Aufgabe. 

Rainer Hank hat sich ihr gestellt und mit seinem Buch „Die Loyalitätsfalle“ einen Anfang gemacht. Doch die Resonanz in den Medien blieb bislang sehr verhalten, um nicht zu sagen kläglich. Vielleicht nicht verwunderlich, denn den guten Ruf der „Loyalität“ zu beschädigen ist Blasphemie. Dennoch sollte die knapp 180 Seiten-Lektüre für gesellschaftspolitisch Interessierte und Engagierte zum wichtigsten Sachbuch des Jahres werden. 

Souveränität schließt Loyalität aus

Wer sich souveräne, aufgeklärte und selbstbestimmte Bürger:innen wünscht und wer an der Aufdeckung eines Symptoms interessiert ist, was dies seit Anbeginn behindert, der wird nach dem Lesen des Buches „Heureka!“ rufen. Wenn wir neuerdings nach Giften in einer offenen Gesellschaft suchen, dann steht „Loyalität“ als extrem toxisch ganz weit oben.

Vor dem „Ich“ entsteht das „Wir“

Loyalität ist nicht nur ein euphemistischer Ausdruck für Unterwerfung, der uns schon in die Wiege gelegt wird. Loyalität ist ein trojanisches Tugendpferd, dass sich unbemerkt öffnet und unseren moralischen Kompass massiv beeinflusst. Sie trübt unser Urteilsvermögen, zensiert unsere Freiheit des kritischen Denkens, macht opportunistisch und erschwert es uns, gerecht und objektiv zu urteilen oder zu handeln. 

Wir müssen nicht an archaische Clan- und Stammes-Gebilde denken, um einzugestehen, dass die Familie der Hort ist, an dem uns der fatale Stoff „Loyalität“ mit der Geburt eingeimpft wird und dann lebenslang seine toxische Wirkung entfaltet. Erste Beobachtungen macht man schon in der Jugend, wenn man Freunde beim Geschwisterzwist unterstützen möchte und man den Fehler begeht, selbst etwas Kritisches über die Schwester oder den Bruder zu äußern. Hier kehrt sich sehr schnell die Stimmung um und man wird sofort heftig belehrt, dass einem dies nicht zustehen würde. 

Der Bruch mit der Familie, wenn es dazu öffentlich kommt, begleitet uns als lebenslanges Stigma. Selbst wenn wir es schaffen, mit uns selbst damit ins Reine zu kommen, so bleibt die Gesellschaft immer skeptisch. Die Abkehr von der Familie, verbunden mit öffentlicher Klage gegen Familienangehörige ist ein Loyalitätstabu. Hingegen haben wir volles Mitgefühl für Eltern, die ihre Kinder vor Strafverfolgung schützen, selbst bei Kapitalverbrechen. Das haben wir sogar indirekt gesetzlich legitimiert durch das Zeugnisverweigerungsrecht bei Angehörigen

Nüchtern mögen wir zwar Verständnis zeigen, wenn ein Familienangehöriger einen anderen, der gegen Recht und Gesetz verstoßen hat, anzeigt, doch meistens vermuten wir unlautere Beweggründe dahinter. Wir zucken innerlich zusammen, wenn wir hören, die Ehefrau hat ihren Mann beim Finanzamt angeschwärzt, vom Bruder wurde er bei der Polizei angezeigt oder die Tochter klagt ihr Erbe ein. Alle mögen juristisch und sogar moralisch im Recht sein, doch sie sind uns Außenstehenden irgendwie immer auch suspekt. Weiterlesen