
Als Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ein Süßwaren- und Junkfood-Werbeverbot im Februar ankündigte kamen sofort die zu erwartenden Aufschreie aus Handel/Industrie und aus der Werbebranche. Jetzt also auch in Deutschland! (In Großbritannien gibt es das ja schon. Und das geht doch gerade unter.)
Zugegeben, das Verbot könnte ziemlich an die Substanz der werbefinanzierten Medien gehen. Allein für Süßwaren wurden 2021 in Deutschland rund eine Milliarde Euro an Werbegeldern ausgegeben. Nimmt man noch klassisches Junkfood und eine Reihe aktuell von der WHO als ungesunde Lebensmittel deklarierte hinzu, könnten Werbebudgets in Gesamthöhe von über € 3 Mrd. betroffen sein, die den Medien dann abhandenkommen. Da kommt schon Panik auf.
Dagegen reicht kein feines Lobbyisten-Besteck. Da braucht es eine dicke PR-Keule.
Ca. € 21 Mrd. werden in Deutschland pro Jahr für Konsumwerbung ausgegeben. Da sind ca. € 3 Mrd., also ein Einbruch um ca. 15%, schon eine signifikante Summe. Um das abzuwenden, braucht es seitens Lebensmittel- und Werbeindustrie nicht nur feinsinnige Lobbyisten, die im Hintergrund werkeln. Da muss richtig mit Pressearbeit gekeult werden. Da braucht es eine „Hammer-Schock-Story“, ein „super-geiles Narrativ“ und „perfekt-emotionales Framing“:
Mit Werbeverboten stirbt die Medienvielfalt! Und der Tod der Medienvielfalt ist der Tod der Demokratie!
Cem Özdemir schaufelt sich also sein eigenes Grab. Dicke Kinder sind nun mal der Preis für Meinungsvielfalt und Demokratie. Nein, so einfach argumentiert man natürlich nicht. Auf meinen Kommentar, dass ich diese Argumentationskette für problematisch halte, wird mir der Hinweis gegeben, dass es keine Studie gäbe, die den Zusammenhang zwischen Werbung und ungesunder Ernährung bestätigen würde. Adipöse Kinder seien primär ein Produkt ihrer Eltern. Das Letzteres stimmt ist ein unangenehmer Fakt aus Sozialstudien:
„Dabei ist zu berücksichtigen, dass Übergewicht und Adipositas in der Bevölkerung sozial ungleich verteilt sind. Die vorliegenden Studien zeigen hierzu, dass in Ländern mit westlichem Lebensstil sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen häufiger von Adipositas betroffen sind als vergleichsweise besser gestellte Bevölkerungsgruppen.“
Dass es keine Studien gäbe, die einen positiven Effekt solcher auf Kinder gezielte Marketing- und Werbeverbote ermitteln konnten, ist natürlich Nonsens. Solche Studien dazu gibt es schon seit 60 Jahren. Nur die sind halt immer „irgendwie fragwürdig“, „nicht wirklich eindeutig genug“ oder „auf diesen Fall so nicht anwendbar“. Sei es drum.
Dennoch dreht es mir den Magen um, wenn ich so erfahre, dass 70% bis 80% der Werbung für Nahrungsmittel eben Werbung für bedenkliche Nahrungsmittel ist. Ist das naiv von mir? Sagen wir mal so: Man darf getrost davon ausgehen, dass Werbung insgesamt 70% bis 80% für Produkte wirbt, die unnötig und auf irgendeine Weise individuell oder gesellschaftlich mehr schädlich als nützlich sind.
Aber nun lernen wir, dass Werbung letztlich doch etwas enorm Gutes hat: Sie ist der Preis, den wir für unsere Medien- und Meinungsvielfalt und damit auch für unsere freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu zahlen bereit sein sollten. Puh, so viel Pathos war selten.
Wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist schon einen Dickmann wert.
Um mein ambivalentes Gefühl bei der Argumentation der Lebensmittel- und Werbeindustrie zu hinterfragen, habe ich mal gegoogelt und überraschend dazu eine Glosse in der Berliner Zeitung von Mandy Tröger gefunden. Überraschend deshalb, weil ich seitens der Medien wenig Kritik erwarte, denn die sitzen ja im Boot der Leidenden. Und dann habe ich mir noch einen klugen und sachlichen Chat-Partner ausgewählt: ChatGTP. Und auch wenn mir ChatGTP nicht zu einer unumstößlichen Argumentation verhilft, so waren die Antworten doch erhellend: