Wozu braucht es Verrisse?

Verriss

„Die meisten Bücher, die wir im Quartett hier besprochen haben im Laufe der beinahe 14 Jahre, habe ich von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen. In den meisten Fällen war es eine Qual.“

 Marcel Reich-Ranicki

Dazu schreibt Georg Gruber vom Deutschlandfunk:

Er (Marcel Reich-Ranicki, Anm. von mir) war wirklich ein Solitär, …. Nach seinem Tod konnte keiner an seine Stelle treten, der Platz des Literatur- und Kritikerpapstes ist verwaist. Vielleicht ja auch ein gutes Zeichen für eine aufgeklärte Gesellschaft: Die Leser sind wieder zurück geworfen auf sich selbst.“

Was meint das „zurück geworfen auf sich selbst“ angesichts der alljährlichen Masse an Literatur, die uns angeboten wird. Selbst durchbeißen? Hoffen, ganz allein auf die literarische Nadel im Heuhaufen zu treffen? Wo findet sich da eine aufgeklärte Gesellschaft?

Nein, diese abschließende Anmerkung ist wenig durchdacht. Und wenn wirklich ernst gemeint, dann ist sie ein Offenbarungseid für eine Haltung, der man zunehmend in der Gesellschaft begegnet: bloß keinem mit seiner Meinung auf die Füße treten zu wollen. Immer eine Hintertüre offenlassen, falls sich jemand von der wenig begeisterten Kritik oder der höflich vorgetragenen, persönlichen Enttäuschung beleidigt zeigt. Beim Gang durch die Hintertüre ruft heute der „Kritiker“ dann dem Beleidigten zu, dass man sich durchaus seiner Subjektivität bewusst sei und man mit seiner Kritik selbstverständlich niemanden nahelegen wolle, das Buch nicht zu lesen. Jeder soll sich doch bitte selbst ein Urteil bilden. Weiterlesen

Wozu brauchen wir Romane?

parks

Es ist seit langem das Klügste, was ich über die zeitgenössische Literaturrezeption gelesen habe. Tim Parks Buch „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen.“ wünsche ich mir als Basislektüre für ein literaturwissenschaftliches Proseminar. Ungeeignet ist es jedoch für angehende Buchhändler, die in ihrem Glauben an den Mehrwert ihres Handelsobjektes erschüttert werden könnten. Jeder, der sich in dem Diskurs über „Literatur, Stand heute“ einbringen will, kann sich mit diesem Buch perfekt munitionieren. Denn es bestätigt sicher nicht nur viele Thesen, die man schon selbst gerne mal in den Raum stellte, sondern erweitert auch den Einblick, da Tim Parks jede Menge handwerkliche Erfahrungen aus seiner Arbeit als Romancier, Übersetzer, Literaturkritiker und Dozent einbringt.

Mit allerhand Fragen leitet Tim Parks sein Buch ein, die man sich eigentlich innerhalb eines mehrjährigen Literaturstudiums als Leitfaden aufhängen sollte. Hier eine willkürliche Auswahl: Weiterlesen

Fünf Sterne für ein Arschgeweih

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Bücher zu besprechen resultiert nicht selten aus der Intention, sich nicht mehr nur zu fragen, was einem gefällt, sondern warum einem ein Buch gefällt. Und dieses „warum“ zu erfassen, es kritisch zu hinterfragen und die Essenz dann auch noch in adäquate Worte zu packen, ist ein anspruchsvolles Unterfangen. An der Mühe und Anstrengung, die wir dafür aufwenden, lässt sich die Ernsthaftigkeit bemessen, mit der wir ein plausibles Urteil finden wollen.

Geschmacksdebatten entzünden sich vordergründig zwar gerne an den Urteilen, doch eigentlich kritisieren wir die unterstellte fehlende Mühe, sich mit dem Gegenstand der Kritik zu beschäftigen. Umso intensiver wir uns einem Gegenstand widmen, desto weniger tolerieren wir unbegründete Geschmacksurteile von anderen. Besonders, wenn es sich um ästhetisch so „komplexe“ Dinge wie Literatur, Musik, Kunst, Architektur und ähnliches handelt, lehnt der Kulturbeflissene jegliches Bewertungssystem ab, das nur simple binäre (Daumen hoch, Daumen runter) oder auch etwas graduellere (5 Sterne) Geschmacksurteile anbietet.

Doch im Leben wird die Mehrzahl tagtäglicher Geschmackurteile überwiegenden von unserem „adaptivem Unterbewussten“ binär getroffen: gefällt oder gefällt nicht. Woher dieses Unterbewusste seine „Kompetenz“ bezieht, ist eine der Kernfragen, denen der US-Journalist und Buchautor Tom Vanderbilt nachgegangen ist. Er hat zahlreiche Antworten erhalten und diese in seinem Buch „Geschmack – Warum wir mögen was wir mögen“ im Stil einer Reportage ebenso amüsant wie interessant vorgestellt.

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Das Buch hat das Zeug dazu, für den „Geschmack“ das zu sein, was für das „Denken“ Kahnemanns „Langsames Denken, schnelles Denken“ ist. Sicher, es ist nicht populärwissenschaftlich, da Tom Vanderbilt keine ausgewiesener Experte ist, doch es bietet mit seinen umfangreichen Recherchen und gesammelten Aussagen von führenden Forschern, Soziologen und Philosophen sowie seinen zahlreichen Anmerkungen in einem fast hundertseitigem Anhang jede Menge Futter zum Einstieg in das Thema.

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Wenn in Schwabing die Langeweile einzieht

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Sicher überschätzen Autor und Leser die Bedeutung des ersten Satzes. Der Erfolg eines Romans hängt doch wohl kaum von ihm ab. Oder doch? Wie macht es ein ehemaliger Verleger, der selbst einen Roman verfasst? Er schreibt einfach einen überzeugenden Einstiegssatz, einen, der einen packt und durch den gesamten Roman tragen kann:

„Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich mich mit Hingabe langweilen.“    

Und wenn gebildete Romanfiguren etwas mit „Hingabe“ betreiben sollen, dann dürfen sie sich darauf intensiv vorbereiten. So lässt Michael Krüger seinen namenlos bleibenden Ich-Erzähler, von Beruf Archivar, gleich mal zwanzig Jahre sich mit der Theorie der Langeweile befassen und gar ein Heidegger-Studium heranziehen:

„Ein Leergelassensein von der Welt, das wollte ich erreichen.“

Vierzigjährig erhält er dann die Chance, die ersehnte Langeweile zu praktizieren. Er erbt ein Mietshaus in Schwabing. Und dort bietet sich zugleich eine leerstehende sechs Zimmer Wohnung an, in die er ohne viel Sack und Pack einzieht. Seinen Beruf als Archivar hängt er an den Nagel.

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Beim Sex hört die Liebe auf.

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Eine gute Freundin klagte einmal über eine Eigenart von mir, von der ich nicht einzuschätzen weiß, ob ich mich dafür immer gleich im Vorfeld entschuldigen soll: „Ich sei oft grausam ehrlich.“ Solch selbstkritische Überlegungen macht sich Sibylle Berg sicher kaum (noch). Das lässt zumindest der Sarkasmus vermuten, den sie in ihren Spiegel-Kolumnen oder in ihren Tweets versprüht und den ich gerade auch in ihrem Roman mit teils masochistischem Genuss gelesen habe.

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Wer war ich und wenn ja wie viele?

 

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©2015 | Anke Koopmann | designomicon, München

So sind wir, Geliebte, allmählich erkaltet.

Da hilft auch die Erkenntnis nichts, daß die Kunst

ihre Kraft nur im Verfall entfaltet.

Wolf Wondratschek  (Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre)

 

Hach ja, damals! Solche biografisch inspirierten Romane wie das aktuelle Debüt von Candy Bukowski – Babyboomer-Generation wie ich, wenn auch ein paar Jahre jünger – wecken nicht selten manch wehmütige Erinnerung. Doch die Wehmut, wie das Alter Ego von Candy Bukowski Sugar bemerkt, ist eine zwiespältige Befindlichkeit. „Wehmut“ sei „ein weiches Wort, aber ein hartes Gefühl.

„Wer Wehmut mit etwas Sanftem gleichsetzt, weiß nicht, wovon er spricht. Wehmut ist Vermissen in Akzeptanz, man müsste Gandhi sein, um darin etwas Sanftes zu finden. Ich bin nicht Gandhi, ich bin Lara Croft, ich trage einen unsichtbaren Munitionsgürtel um die breite Hüfte und bin bereit zu töten. Immer wieder töte ich den armen Gandhi und schneide Gefühlen schön langsam die Pulsadern auf. In Längsrichtung bis runter auf den Knochen.“

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Im Wald da sind die Räuber

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„Sie renovierten eine verfallene Scheune mitten in einem entlegenen Wald, weil es der einzige Ort war, an dem ihre kleine Tochter nicht schrie.“

Hätte ich nicht zuvor Robert Williams beeindruckenden Debüt- und Jugendroman „Luke und Jon“ begeistert gelesen, wäre ich wohl spätestens bei diesem Kapitelschluss aus seinem aktuellen Roman „Tief in den Wald hinein“ (Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit) ausgestiegen. Dass ein junges Elternpaar aus schierer Verzweiflung über ihr Schreikind sein Eigenheim in Stadtnähe aufgibt, um in die Einöde zu ziehen, wo das Kind sich einzig zu beruhigen scheint, war mir denn doch zu konstruiert.

Es bleibt auch völlig ungeklärt, warum das Kind sich einzig an diesem Ort beruhigt. Offensichtlich dient diese Vorgeschichte einzig dazu, um eine passende Szenerie einzuführen: eine zwar schöne, doch von nur wenigen kontaktzähen Einheimischen besiedelte Gegend und ein Wohnort mitten im Wald, der nur Bäume als Nachbarn bietet. Vor dieser etwas unheimlichen Idylle bahnt sich nun erwartungsgemäß ein dramatisches Ereignis im noch jungen Familienleben von Ann und Thomas an.

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Mit diesem Coming-of-Age-Debüt überzeugte 2010 Robert Williams viele Kritiker. Zu Recht, wie ich finde.

Die Geschichte ist spannend erzählt und es verläuft alles weitaus plausibler als man nach dem konstruierten Einstieg befürchten konnte. Ganz im Sinne des „Master of Suspense“ Alfred Hitchcock schildert Robert Williams Kapitelweise zeitlich parallel verlaufene Lebenswege von Figuren, die sich wohl alsbald tragisch kreuzen werden. Neben Ann und Thomas sind das noch Raymond und Keith. Raymond, ein einzelgängerischer Riese mit schlichtem Intellekt und phlegmatischen Gemüt, entpuppt sich im Verlauf als hilfsbereiter liebenswerter Sonderling. Keith hingegen, ein neidischer Giftzwerg, ist die Besetzung des miesen, bösen und kriminellen Charakters, dem wir fast mitleidlos dabei folgen, wie er im Laufe der Geschichte gänzlich abstürzt – immer bangend, dass der Mistkerl nicht zu viele andere mit ins Verderben reißt.

Dennoch, die wahre Stärke des Autors liegt nicht im Geschichten erzählen. Was Robert Williams außergewöhnlich gut gelingt, sind die Porträts seiner Figuren. Es sind knappe, aber meisterliche Charakterstudien. Das verbindet auch sein erfolgreiches Debüt „Juke und Jon“ mit diesem nun dritten Roman. Wie ein begnadeter Skizzenmaler versteht es Williams mit einfachen Mitteln sehr eigenwillige, vielschichtige und Neugier weckende Persönlichkeiten darzustellen. Und das gelingt ihm nicht nur bei den schrulligen Außenseitern, sondern auch bei literarischen Stereotypen wie dem wohlsituierten, jungen Mittelstandspaar Ann und Thomas.

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