Wenn in Schwabing die Langeweile einzieht

irrenhaus

Sicher überschätzen Autor und Leser die Bedeutung des ersten Satzes. Der Erfolg eines Romans hängt doch wohl kaum von ihm ab. Oder doch? Wie macht es ein ehemaliger Verleger, der selbst einen Roman verfasst? Er schreibt einfach einen überzeugenden Einstiegssatz, einen, der einen packt und durch den gesamten Roman tragen kann:

„Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich mich mit Hingabe langweilen.“    

Und wenn gebildete Romanfiguren etwas mit „Hingabe“ betreiben sollen, dann dürfen sie sich darauf intensiv vorbereiten. So lässt Michael Krüger seinen namenlos bleibenden Ich-Erzähler, von Beruf Archivar, gleich mal zwanzig Jahre sich mit der Theorie der Langeweile befassen und gar ein Heidegger-Studium heranziehen:

„Ein Leergelassensein von der Welt, das wollte ich erreichen.“

Vierzigjährig erhält er dann die Chance, die ersehnte Langeweile zu praktizieren. Er erbt ein Mietshaus in Schwabing. Und dort bietet sich zugleich eine leerstehende sechs Zimmer Wohnung an, in die er ohne viel Sack und Pack einzieht. Seinen Beruf als Archivar hängt er an den Nagel.

Doch beim Protagonist kommt alles andere als Langweile auf. Ein skurriles Panoptikum an schrulligen Menschen bewohnt seine Immobilie. Keiner ahnt, dass der neue Mitbewohner auch der Besitzer des Hauses ist. Einige Nachbarn stehen bei ihm wenige Wochen nach Einzug auf der Matte. Sie entpuppen sich allesamt als verkrachte Existenzen, die sich penetrant in sein Leben drängen. Trotz ihrer Geschwätzigkeit wirken sie alle wie geistige Zombies.

In dauersüffisanter Tonalität schildert uns der Erzähler seine Begegnungen und bringt uns Leser in die unbehagliche Situation, seine teils versnobten Schilderungen und mitgefühlsarmen Personenbeschreibungen unwidersprochen hinnehmen zu müssen. Über seinen Gedanken angesichts seines Nachbarn in rosa Söckchen, schwarzen Schuhen, braunem Anzug und kariertem Hemd,

„Warum einer, der etwas verkaufen will, seinen geschmacklichen Bankrott so demonstrativ zur Schau stellte“,…“

kann man ja noch schmunzeln. Doch schon bei seiner Nachbarin, einer hilfsbereiten promovierten Altphilologin und Wagnerianerin, die sich nach Zweisamkeit sehnt, würde ich mir wünschen, dass er sie nicht so schnöselig seziert.

Doch nicht nur von seinen Nachbarn lässt sich der Protagonist zunehmend vereinnahmen, sondern auch von der bleibenden Präsenz seines Vormieters, ein Schriftsteller namens „Georg Faust“. Über dessen Verbleib kann man nur spekulieren. Auf jeden Fall wird weiterhin seine umfangreiche Post an die alte Adresse gesendet. Und der Post nimmt sich der Erzähler hemmungslos an und öffnet und liest sie. Neben Rücksendungen von Manuskripten und einigen Briefen von Familienangehörigen, ragt auch hier die Korrespondenz einer Irren, einer Briefstalkerin heraus, der er sich ebenfalls nicht entziehen kann. Irgendwann stellt er fest:

„Ich konnte mir rational nicht erklären, auf welche Weise Georg Faust sich meines Lebens bemächtigt hatte. Oder hatte ich ihn in mich aufgenommen?“

Die ominöse Geschichte um Faust und den Ich-Erzähler nimmt zwischenzeitlich kafkaeske Züge an, wenn die Polizei zu ermitteln beginnt und der Erzähler sich öffentlich auch ab und an als Georg Faust ausgibt. Zum Ende wird der Identitätstausch zwar wieder entwirrt, jedoch bleibt das Schicksal Georg Fausts rätselhaft. Letztlich inspiriert durch seinen Vormieter beschließt der Erzähler, selbst schriftstellerisch tätig zu werden.

Wir erfahren am Ende nicht wohin es den Helden der Geschichte verschlagen wird. Er teilt uns nur mit, dass er die Flucht ergriffen und das Weite gesucht hat. Doch offenbar soll uns der Roman bestätigen, dass ihm sein Vorsatz, Schriftsteller zu werden, gelungen ist.

Ein bisschen zwanghaft wirkt die deutsche Wortwahl, wenn im Roman beispielsweise von einem „Handtelefon“ die Rede ist. Überhaupt will sich aufgrund des Stils und der – wohl ironisiert gemeinten – Sprache das Bild von einem vierzigjährigen Ich-Erzähler nicht einstellen:

„Nach den Nachrichten, …, machte ich uns in der Küche ein kaltes Abendbrot zurecht, Brot, Wurst, Gurken, Hartkäse, dazu tranken wir eine Flasche Riesling. Frau Doktor Keller machte mich, …, mit dem Stand der Dionysos-Forschung vertraut, …“.

Es gehört zum Konstrukt des Romans, dass alle Figuren im Haus extrem schrullig und ichbezogen angelegt sind. Die starke Idee, den Kosmos eines Mietshauses als Milieustudie anzulegen, wird dadurch geschwächt. Die Figuren sind allesamt Karikaturen eines bürgerlichen Mittelstandsmilieus. Weder untereinander noch im Zusammentreffen mit dem Ich-Erzähler entsteht ein interessanter Austausch, nur ein skurriler. Alle sind erstarrt, interagieren kaum. Die einzigen, sympathisch bodenständigen Typen im Roman leben außerhalb des Hauskosmos und gehören einem anderen Milieu an: Ein menschenkundiger Wirt aus Sizilien und ein lebenskluger Gemüsehändler aus Anatolien.

Die anfängliche Erwartung, vielleicht einen lebensphilosophischen Entwicklungsroman zu lesen, gar einen tiefsinnigen Roman über die Langeweile, wenn man keine gesellschaftliche Verankerung mehr hat, wird leider auch nur eingeschränkt erfüllt. Es gibt zwar viele weise, aber recht solitäre Gedanken in dem Buch. So z. B. wenn der Hausbesitzer sich seines Vaters erinnert, der ihm einmal erklärte, er sei wahnsinnig gerne allein. „Ich bin jemand, der davon träumt, allein sein zu dürfen, der aber nie gelernt hat, allein sein zu können,…“. Oder der Gemüsehändler, der dem Erzähler nahelegt, zu „lernen, aufzugeben, sonst wird dir der Rest deines Lebens zur Last.“

Die Assoziation mit der schrillen Filmkomödie „Ein Käfig voller Narren“, wie sie auf dem Buchrücken suggeriert und in manchen Buchbesprechungen dankbar aufgenommen wird, kann ich nicht teilen. Der Roman ist weit entfernt davon komödiantisch oder gar zotig zu sein. Er ist kultiviert amüsant und hier und da so ironisch verfasst, dass ich es wohl nicht immer durchschaut habe. Man entdeckt aber auf jeden Fall einige geistreiche Nuggets und wird manche Lebensweisheit nach Hause tragen.

Das Irrenhaus ist nicht irre gut, aber es kann fein unterhalten.

 

Ebenfalls gefallen hat der Roman flattersatz, nachzulesen hier.

10 Gedanken zu “Wenn in Schwabing die Langeweile einzieht

  1. Lieber Thomas,
    danke für die tolle Rezension zu dem Buch, das ich in nächster Zukunft auch unbedingt lesen möchte. Ich finde übrigens auch, dass der erste Satz eines Buches unheimlich wichtig ist. Meine Deutschlehrerin hat immer gesagt, dass man am Ende eines Buches den ersten Satz noch einmal lesen sollte und wenn man dann das Gefühl hat, dass sich ein Kreis schließt, ist es ein gutes Buch. Dementsprechend müsse er die komplette Geschichte des Buches andeuten, ohne sie zu verraten. Wie viele Bücher diesen Anspruch erfüllen, kann ich nicht sagen, aber es sind bestimmt nicht allzu viele :-).
    Liebe Grüße,
    Cora

  2. Die Leseeindrücke zum Irrenhaus teile ich (fast). Meine anfängliche Sympathie hat sich gegen Mitte des Buches gelegt, mir ging der „dauersüffisante“ Ton eher auf die Nerven, bei mir brach gepflegte Langeweile aus. Ich hab die Lektüre erst einmal unterbrochen, mal sehen, ob ich einen zweiten Anlauf nehme.
    La Noia ist zwar literarisch ein weitaus stärkeres Stück – v.a. die Amour fou, der der Held verfällt, hat es in sich. Aber ich habe mit den darin gezeichneten Typen (z.B. auch bei Huysmans, Unter dem Strich) ein grundsätzliches Problem: Ich kann mit lebensüberdrüssigen Jüngelchen aus gutem Hause, die sich langweilen, weil sie keinen Sinn in ihrem Leben finden, literarisch und menschlich einfach wenig anfangen…

    • Ich dachte es mir fast, das mit dem Abbruch. Ich hatte sogar überlegt, ob wir nicht mal ein PingPong-Ausstausch über das Buch machen. Ich tat mir zwischenzeitlich schwer damit, dass der Autor so viel Haken in der Geschichte schlägt, die sich für mich auch später nicht erschliessen. Und auch sein Adalbert Stifter Zitat warf mich kurz mal aus der Kurve. Stifter muss ja offenbar faszinierend sein (Ich bekenne, dass ich bislang nichts von ihm gelesen habe), doch dieses Zitat war dann keine Einladung ihn zu entdecken. Dann doch lieber Moravia.

    • Ein Ping Pong würde mir mal viel Spaß machen, dazu müssten die Meinungen jedoch schon ziemlich konträr sein, damit es den Lesern was bringt – und im Fall Krüger sind wir ja eher derselben Ansicht. Stifter – lang ist es her, dass ich einige seiner Erzählungen und Nachsommer las. Man kann in die Sprache – im Gegensatz jetzt zum Irrenhaus – einsinken, so ist meine Erinnerung. Aber vielleicht erlebe ich auch eine späte Sturm- und Drang-Phase: Das stifterliche Biedermeier, das den Helden im Irrenhaus durchaus prägt, dieses gemäßigte Temperament, das aus den Zeilen dringt, selbst dann, wenn er sich gegenüber der Verwandtschaft (schon die Tante-Tante-Geschichte fand ich zu umständlich beschrieben) als Sonderling abheben will – das ermüdet mich einfach beim Lesen…Moravia hat da schon mehr Schmackes :-)

  3. Danke für die Rezension zum Buch, was ich demnächst auch unbedingt lesen möchte. Weil Du, weiter unten schriebst, Du hattest gehofft … Moment, ich zitiere: „Die anfängliche Erwartung, vielleicht einen lebensphilosophischen Entwicklungsroman zu lesen, gar einen tiefsinnigen Roman über die Langeweile, wenn man keine gesellschaftliche Verankerung mehr hat, wird leider auch nur eingeschränkt erfüllt.“
    Dazu kann ich Dir eine Empfehlung machen und zwar „La Noia“ von Alberto Moravia. Ich hatte dazu schon mal was gebloggt, ich verlinke mal. Solltest Du das nicht mögen, einfach den Link wieder löschen.

    https://lesezeichenblog.wordpress.com/2015/06/22/la-noia-von-alberto-moravia/

    Wenn Du also auf der Suche nach dem o.g. Buch bist, kann ich Dir dieses sehr empfehlen. Liebe Grüße von der Beobachterin

    • Danke Dir, das Buch hab ich gleich in meinen Erinnerungskorb gelegt. Vor kurzem las ich irgendwo eine begeisterte Besprechung über „Die Gleichgültigen“ und war ganz glücklich, es im Regal zu finden. Doch jetzt werde ich bei Gelegenheit dann doch la noia vorziehen.

    • Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Und ich habe beschlossen, es wieder zu lesen. Wirklich, selten hat mich ein Buch so fasziniert und begeistert. Natürlich sind die Geschmäcker verschieden, mich hat das Buch wirklich umgehauen. Vielleicht gefällts Dir ja auch. Würde mich freuen. Vielleicht schreibst Du ja dann demnächst auch mal eine Rezension dazu. Ein sehr mitreißendes Buch. „Die Gleichgültigen“ habe ich noch nicht gelesen, dazu kann ich gar nichts sagen. Aber „La Noia“ vorzuziehen halte ich dennoch für eine sehr gute Idee. :-) Liebe Grüße und schönen Abend.

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