Kultur und Politik – Einst eine leidenschaftliche Beziehung, dann Jahre der Entfremdung und jetzt ein Rosenkrieg

Man erzählt sich, dass viele Paartherapien mit der Frage eröffnet werden, ob man sich denn noch küsse. Fehlende Küsse seien ein gewichtiges Indiz über die Zerrüttung einer Beziehung. Analog dazu habe ich mich vor kurzem gefragt, wann sich Kultur und Politik – in Deutschland – das letzte Mal öffentlich geküsst haben, nicht unbedingt leidenschaftlich, doch zumindest mal zaghaft. Mir viel keine Erinnerung ein. Im Gegenteil: Kultur und Politik leben meinem Eindruck nach deutlich getrennt und offenbar völlig entfremdet. 

Die deutsche Begegnung von Kultur und Politik: Angela Merkel in Bayreuth

Merkel in Bayreuth ist das einzige Bild, das mir seit fast zwei Jahrzehnten als mediales Highlight von Kultur und Politik eingebrannt wurde. Ansonsten fällt mir aktuell keine einzige Politikerin oder Politiker ein, dessen kulturelle Vorlieben ich kenne. Weder weiß ich, was sie lesen, noch was sie gerne hören oder sehen, geschweige, ob sie sich kulturell engagieren und Kontakte in Kulturkreise pflegen. Das gilt selbst für Robert Habeck.

Meine Wahrnehmung ist boomer-subjektiv und ich möchte sie gerne widerlegt bekommen. Meine ersten knapp 40 Lebensjahre verlebte ich in Frankfurt am Main, dort geboren 1961. Ende der 70er bis Anfang der 90er war diese Stadt eine Hochburg der Beziehungsexperimente zwischen Kultur und Politik. In den 80er waren es sogar einige Ménage à trois von Kultur, Politik und Wirtschaft. Das verdankte sich damals nicht nur einem bundesrepublikanischen Zeitgeist, sondern auch einem Mann, der diesen Geist kongenial verkörperte und zu gestalten verstand: Hilmar Hoffmann. Noch heute bin ich ein Evangelist und Verehrer seiner Kulturpolitik „Kultur für alle“, die er sogar als SPD Kulturdezernent unter einer Walter Wallmann CDU Regierung lange Jahre weiter vorantreiben durfte. Mit so großem Erfolg, dass sein Schaffen weltweit großes Ansehen erhielt. Frankfurt profitiert meines Erachtens noch heute davon.

Seit der deutschen Einheit entfremden sich Kultur und Politik

Ich studierte in den 80er Germanistik, Theater-, Film-, Fernsehwissenschaften und Betriebswirtschaft, mit dem Ziel Kulturmanagement zu betreiben. Doch schon Ende der 80er deutete sich an, dass die leidenschaftlichen Beziehungen zwischen Kultur und Politik (und Wirtschaft) erkalteten. Hilmar Hoffmann war dann in den 90er bald Geschichte, mein Berufswunsch „Kulturmanagement“ begrub ich zugunsten eines attraktiven Jobs in der Werbung und Deutschland wurde wiedervereint, so dass man sich auf ganz andere Dinge zu konzentrieren begann.

Aus „Kultur für alle“ wurde „Kultur ist alles“.

Es ist hier nicht der Raum, um die ewige Debatte „Was ist Kultur?“ zu referieren. Die wird in stoischer Regelmäßigkeit in den deutschen Feuilletons aufgegriffen – wenn halt auch immer unbedeutender. Dennoch unterstelle ich, dass mit dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung ein Credo überhandnahm, welches letztlich die Entfremdung von Kultur und Politik verstärkte. 

Aus dem ambitionierten „Kultur für alle“ wurde ein von allem befreiendes Diktum „Kultur ist alles“. Das gefiel den Schaffenden, die es offenbar müde waren, sich ständig über ihre gesellschaftspolitische Relevanz hinterfragen zu müssen. Man brauchte mal eine Auszeit von der Maloche für alle und zog es vor, Urlaub im eigenen Ich zu nehmen.  

Und auch die Politik war dankbar. Denn der Kulturbegriff wurde auf diese Weise derart durchweicht, dass er für alles herhalten kann und sich damit kultur- und gesellschaftspolitisch überhaupt nicht mehr positionieren muss. Weiterlesen

Ist Querdenken noch zu retten?

Als ich mich vor vielen Jahren als Unternehmensberater selbständig machte, kreierte ich mir eine Visitenkarte, auf der ich „Vordenken. Querdenken. Nachdenken.“ als beschreibende Quintessenz meiner Arbeitsweise aufdrucken ließ. Das mag mancher vielleicht nicht für besonders konkret und überzeugend erachten, doch für mich war es immer auch ein Leitfaden in meinem Leben. 

„Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“ 

Francis Picabia

Das Vordenken ist die euphorische, ungebremste erste Phase des Sammelns von Ideen und Lösungen oder auch der Meinungsbildung. Dann folgt die zweite Phase: das Querdenken. In ihr lag und liegt für mich die entscheidende Phase, um den Tunnelblick zu erweitern. Hier gilt es, sich selbst zu widerlegen, kritisch zu reflektieren, unbedachte Fragen, Einwände und Argumente zu sammeln und damit die erste, euphorische Sichtweise zu überprüfen. Erst danach trete ich in die dritte Phase des Nachdenkens ein, um eine Conclusio zu bilden, einen Konsens zu suchen, um dann auf noch bessere Ideen und Lösungen zu kommen oder meine Meinung und Ansichten zu äußern und zur Diskussion zu stellen. Im Idealfall ist es dann auch noch ein zyklischer, dialektischer Denkverlauf, der mit jeder neuen Erfahrung, jedem neuem Argument weiter rotiert.

So weit, so gut, mag jetzt mancher denken. Ja, so macht man das, so mach ich das auch. Ist doch lapidar. Und wäre das Querdenken in den vergangenen Monaten nicht so sehr in Misskredit geraten, würde ich mich jetzt dazu auch nicht explizit äußern, sondern hätte es als selbstverständlichen Teil jeder Meinungsbildung und jedem Prozess der Lösungsfindung unterstellt. Doch – wie zu erwarten – bin ich aktuell immer weniger davon überzeugt, dass das Querdenken und das daraus zwingend folgende Nachdenken, so wie ich es von mir erwarte, noch eine Selbstverständlichkeit ist. Weiterlesen

Mehr Diversität? Klar, wenns fancy & fashionabel ist. Und Added Value schafft.

Diversität ist angesagt

Lange habe ich gezögert, diesen Beitrag zu schreiben. Aus zweierlei Gründen. Zum einen hat das Thema „Diversität“ eine sehr eindimensionale Tendenz bekommen. Dagegen anzuschreiben ist schwer. Das Thema Diversität ist von marktwirtschaftlicher Begeisterung völlig absorbiert worden. Offensichtlich wird das überall. Doch wirklich kritisch hinschauen mögen die woken Vertreter:innen für mehr Vielfalt nicht. Man feiert lieber ein TV-Format wie GNTM, das sich damit nun vorgeblich neu erfunden hat. Und damit wurde der Hype nach „Diversity“ endgültig im ästhetisch idealisierenden Raum der Medien- und Werbewelten manifestiert.

„More Diversity!“ ist für viele jetzt einfach ein angesagter Trend – ins Bild gerückt mit jungen, attraktiven Leuten, die äußerlich sichtbare ethnische Unterschiede haben, jedoch sozio-kulturell eine sehr homogene, „fashionable“ Gruppe bilden, die die gleichen Interessen hat, ähnliche Haltung einnimmt und einen global einheitlichen Lebensstil pflegt.  

Die Werbung ist ja immer auch Seismograf des Zeitgeistes 

In diesem Sinne kann die Werbung auch ein erwünschter Verstärker für sozial-politische Veränderungen sein. Aber wir dürfen uns dabei nicht selbsttäuschen: Werbung und Medien konzentrieren sich immer auf die attraktiven und behaglichen Aspekte. Kaum ein TV-Spot oder eine Anzeige kommt heute ohne ethnische Vielfalt aus. Doch es ist eine sehr selektive. Bevorzugt werden junge Asiaten, Südamerikaner und edle Schwarze. Nur sehr selten sind in den Spots Leute zu sehen, die man allgemein dem arabischen Raum zuordnen würde und fast gar keine, denen man einen slawischen Hintergrund zuspräche.

Für mich ist das altbekannt seit über 30 Jahren als Benetton-Generation. Heute stellt das Bild eben nicht mehr nur hippe Konsument:innen dar, sondern – wie in vielen Stellenanzeigen suggeriert – soll dies nun auch die Belegschaft eines Mittelständlers auf der schwäbischen Alb widerspiegeln. Und da fängt es an, mir unbehaglich zu werden.

Mehr Diversität fängt da an, wo die sympathische Buntheit aufhört

Mein zweiter Grund, der mich zögern ließ über Diversität offen nachzudenken, ist die voreingenommene Stereotype auf eine Person wie mich: Ich bin in diesem Jahr 60 geworden, also der Prototyp des „alten weißen Mannes“, eines Vertreters der „Boomer-Generation“, die sich doch bitte aus dem Berufs- und Gesellschaftsleben und dem Diskurs über den Zeitgeist allmählich schweigend zurückziehen sollte. Da meine Erinnerungen an meine Haltung vor gut 30 Jahren gegenüber der Generation 60+ noch sehr präsent sind, weiß ich, dass man gegen diese Voreingenommenheit der Jugend nicht anschreiben kann. Deshalb habe ich lange überlegt, mich dem Zeitgeist zu beugen und zu schweigen. Doch wäre das letztlich unredlich, denn es ist Teil dessen, worum es mir letztlich geht: Das wirklich wünschenswerte Anliegen nach mehr Diversität ist für mich nur dann glaubhaft, wenn es den weitaus größeren Teil an unattraktivem oder unbequemen Anderssein sichtbar macht und die Wertschätzung auch da hinterfragt.

Diversität als Herausforderung liegt ganz weit außerhalb unserer Komfortzone      

Wenn ich über die Herausforderungen der Diversität in meinem Berufsleben resümiere, so sind die jetzt im Zentrum stehenden nie die erheblichen gewesen. In der Werbebranche ist ethnische und kulturelle Vielfalt sowie sexuelle Orientierung per se keine Eintritts- oder Karrierehürde – teils sogar das Gegenteil. Und auch die Gleichstellung der Geschlechter ist bei gleicher Bereitschaft, sein Leben der Karriere zu widmen, nahezu gegeben. Auch im Bereich Marketing, den ich in vielen Unternehmen kennengelernt habe und auch selbst einige Jahre in einem Konzern leitete, ist die heute im Vordergrund stehende gewünschte Diversität für mich zeitlebens schon weitgehend gegeben. 

Ganz anders sieht es aber bei weniger fashionablen Aspekten der Diversität aus, wie körperliche und geistige Einschränkungen, körperliche Missbildungen, sozio-kulturell schlichte Milieus, religiöse und politische Prägungen, nicht-gradlinige Bildungswege, frühe Elternschaft, psychische Erkrankungen, Introvertiertheit und eben auch hohes Alter. Alle diese Aspekte der Diversität sind mir im Berufsleben auch begegnet, jedoch sehr selten, denn sie waren und sind bis heute fast unüberwindbare Hürden, um in ein attraktives Berufsumfeld zu kommen. Weiterlesen

Nichts ist gesellschaftlich so „toxisch“ wie Loyalität

Rainer Hank Die Loyalitätsfalle

Für jeden von uns – wirklich für jeden – gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, das allen Gesetzen vorgelagert ist, ja das selbst vor unserer Ethik und Moral steht: das Gesetz der Loyalität. 

Der Wert „Loyalität“ hat sich seit Menschengedenken als Tugend in unserer Vorstellungswelt eingenistet. Gegen diese Tugend zu argumentieren, sie als fragwürdig zu erklären, sie als toxische Gesellschaftsdroge und als zähesten Gegner der Aufklärung und Autonomie zu entlarven, ist eine herkulische Aufgabe. 

Rainer Hank hat sich ihr gestellt und mit seinem Buch „Die Loyalitätsfalle“ einen Anfang gemacht. Doch die Resonanz in den Medien blieb bislang sehr verhalten, um nicht zu sagen kläglich. Vielleicht nicht verwunderlich, denn den guten Ruf der „Loyalität“ zu beschädigen ist Blasphemie. Dennoch sollte die knapp 180 Seiten-Lektüre für gesellschaftspolitisch Interessierte und Engagierte zum wichtigsten Sachbuch des Jahres werden. 

Souveränität schließt Loyalität aus

Wer sich souveräne, aufgeklärte und selbstbestimmte Bürger:innen wünscht und wer an der Aufdeckung eines Symptoms interessiert ist, was dies seit Anbeginn behindert, der wird nach dem Lesen des Buches „Heureka!“ rufen. Wenn wir neuerdings nach Giften in einer offenen Gesellschaft suchen, dann steht „Loyalität“ als extrem toxisch ganz weit oben.

Vor dem „Ich“ entsteht das „Wir“

Loyalität ist nicht nur ein euphemistischer Ausdruck für Unterwerfung, der uns schon in die Wiege gelegt wird. Loyalität ist ein trojanisches Tugendpferd, dass sich unbemerkt öffnet und unseren moralischen Kompass massiv beeinflusst. Sie trübt unser Urteilsvermögen, zensiert unsere Freiheit des kritischen Denkens, macht opportunistisch und erschwert es uns, gerecht und objektiv zu urteilen oder zu handeln. 

Wir müssen nicht an archaische Clan- und Stammes-Gebilde denken, um einzugestehen, dass die Familie der Hort ist, an dem uns der fatale Stoff „Loyalität“ mit der Geburt eingeimpft wird und dann lebenslang seine toxische Wirkung entfaltet. Erste Beobachtungen macht man schon in der Jugend, wenn man Freunde beim Geschwisterzwist unterstützen möchte und man den Fehler begeht, selbst etwas Kritisches über die Schwester oder den Bruder zu äußern. Hier kehrt sich sehr schnell die Stimmung um und man wird sofort heftig belehrt, dass einem dies nicht zustehen würde. 

Der Bruch mit der Familie, wenn es dazu öffentlich kommt, begleitet uns als lebenslanges Stigma. Selbst wenn wir es schaffen, mit uns selbst damit ins Reine zu kommen, so bleibt die Gesellschaft immer skeptisch. Die Abkehr von der Familie, verbunden mit öffentlicher Klage gegen Familienangehörige ist ein Loyalitätstabu. Hingegen haben wir volles Mitgefühl für Eltern, die ihre Kinder vor Strafverfolgung schützen, selbst bei Kapitalverbrechen. Das haben wir sogar indirekt gesetzlich legitimiert durch das Zeugnisverweigerungsrecht bei Angehörigen

Nüchtern mögen wir zwar Verständnis zeigen, wenn ein Familienangehöriger einen anderen, der gegen Recht und Gesetz verstoßen hat, anzeigt, doch meistens vermuten wir unlautere Beweggründe dahinter. Wir zucken innerlich zusammen, wenn wir hören, die Ehefrau hat ihren Mann beim Finanzamt angeschwärzt, vom Bruder wurde er bei der Polizei angezeigt oder die Tochter klagt ihr Erbe ein. Alle mögen juristisch und sogar moralisch im Recht sein, doch sie sind uns Außenstehenden irgendwie immer auch suspekt. Weiterlesen

„Trost“ von Thea Dorn hinterlässt mich leider trostlos

Rezension zu Thea Dorn Trost

Seit gut vier Jahren habe ich hier nichts mehr geschrieben. Und jetzt gleich das: ich mag Thea Dorn und ich mag Juli Zeh. Es sind zwei Menschen, deren Klugheit, Eloquenz, Ernsthaftigkeit und deren feinen Sinn dafür, wann man spöttisch sein darf, ich sehr schätze und mag. Zwei Menschen, mit denen ich jederzeit gerne – ganz Klischee – am Esstisch bei Rotwein über Gott (vielleicht weniger) und die Welt (gerne mehr) reden würde. 

Warum ich beide erwähne, obwohl der Anlass meines Beitrages das neue Buch „Trost“ von Thea Dorn ist? Weil offenbar beide befreundet sind und aufeinander gerne Bezug nehmen. So hat Juli Zeh dem Buch „Trost“ einen empfehlenden Klappentext geschenkt und Thea Dorn hat in ihrem Zeit-Essay „Es gibt Schlimmeres als den Tod. Den elenden Tod“ auf Juli Zehs 2017 erschienenen Essay „Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit.“ verwiesen. Letzterer ist ein interessanter Essay, dessen Titel schon als „Zitat“ gehandelt wird, was man aber meines Erachtens völlig missversteht, wenn man den Kontext, also den Essay nicht kennt.

Was beide zudem verbindet sind ihre öffentlich gemachten Bedenken zum politischen und gesellschaftlichen Mehrheitsverhalten in Zeiten der Pandemie. So findet man sie auch beide als Autorinnen in dem Zeit-Bezahlbeitrag „Alternativlos gibt’s nicht“ im November 2020 als man noch über mögliche Maßnahmen zur bevorstehenden zweiten Welle nachdachte. 

Zu Beginn der Pandemie in 2020 erinnere ich mich an Juli Zehs Appell an die Freiheit und Achtung der Bürgerrechte. Sie war da ja nicht alleine, sondern unter vielen Intellektuellen, deren Diskursbeiträge mich maßlos enttäuschten. Ständig wurde auf Metaebene über abstrakte Vorbehalte und Bedenken gegenüber politischen Eingriffen lamentiert und dabei das Pathos der Freiheit bemüht. Dieses Pathos triefte nur so vom bürgerlichen Kitsch eines leidvollen, jahrhundertelangem Befreiungskampfes und dessen mit Qual, Blut und Opfern abgerungenen bürgerlichen Rechte nun gefährdet seien. Ein völlig verklärtes, ahistorisches Bild, das seit Jahrzehnten durch unsere Geschichtsbücher kolportiert wird. Mehr dazu schrieb ich damals hier auf Facebook.

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Ich wähle diesmal! Obwohl ich mir mehr Demokratie wünsche.

Gegen-Wahlen

Diesen Beitrag schrieb ich 2017 vor der anstehenden Bundestagswahl. Ich habe ihn jetzt nach vier Jahren wieder gelesen und fühle mich bestätigt, dass er an Aktualität nichts verloren hat. Doch damals lautet meine Überschrift:

Ich wähle diesmal nicht! Weil ich mir mehr Demokratie wünsche.

2017 schrieb ich: „Seit einiger Zeit festigt sich mein Entschluss, meine Wahlfreiheit auszuüben und im September nicht zu wählen. Ich schließe mich damit der wachsenden Gruppe der Nichtwähler an. Nein, es ist nicht wachsende Politikverdrossenheit. Im Gegenteil. Je intensiver ich mich politischen Themen widme, desto stärker wächst mein Unbehagen über das Wahlspektrum und die Suche danach, wie ich mir eine deutlich repräsentativere Demokratie wünsche.“

Heute bin ich zwar nicht mehr fest entschlossen, nicht zu wählen, jedoch weiterhin überzeugt, dass man Nichtwählen in einer parlamentarischen Demokratie, die ausschließlich durch Parteien repräsentiert wird, bewusst abstraft, um diesen Parteienproporz aufrecht zu erhalten. Und auch wenn das Don Quijoterie ist, werfe ich diesen Beitrag nochmals in die Arena. Die kleine Hoffnung ist, dass sich mehr Menschen politisch selbst aufklären und sich bewusst machen, dass wir derzeit in einer Bequemlichkeits-Demokratie leben, in der die meisten nur einen Verwaltungsapparat wählen, in der Hoffnung einigermaßen in Ruhe ihr privates Dasein leben zu können.

Wer jedoch wirklich Teilhabe aller Bürger:innen am politischen Gestalten wünscht, wer mehr Diversität und Repräsentation aller Bürger:innen im Parlament haben möchte, der kann mit dem bestehenden Wahlprinzip nicht zufrieden sein.

Als ich vor vier Jahren meine Entscheidung bekundete, nicht zu wählen, waren die Reaktionen – oder soll man besser sagen: die Reflexe – erwartungsgemäß. Von seufzender Zustimmung bis hin zu „Find ich scheiße.“ oder „Nichtwähler sind die, die uns eines Tages in die Scheiße reiten.

Sonderlich konstruktiv waren die meisten Kommentare nicht. Vielmehr bestätigten sie ein traditionell gewachsenes Phänomen, das David Van Reybrouk, belgischer Historiker und Autor, in seinem Buch „Gegen Wahlen“ als Wahl-Fundamentalismus bezeichnet.

„Wahlfundamentalismus ist der unerschütterliche Glaube, dass keine Demokratie ohne Wahlen denkbar ist, dass Wahlen die notwendige, konstitutive Bedingung sind, um von einer Demokratie sprechen zu können.“

Wobei hier die Wahlen von Volksvertretern zu verstehen sind, nicht die Abstimmung über politische Entscheidungen. Letztere sind selbstverständlich wesentlicher Bestandteil einer Demokratie.

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Besichtigung einer besonderen Lebenswürdigkeit: Zuhause

zuhause

„Das Zuhause ist kein Paradies, aus dem wir vertrieben wurden. Dieses Paradies hat nie existiert. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutete nicht, nach einer besseren Stadt Ausschau zu halten, nach einem schöneren Landstrich, einem anderen Land. Sich ein Zuhause zu suchen bedeutet, einen Ort in der Welt zu finden, an dem wir ankommen – und dieser Ort wird zuallererst ein innerer Ort sein, ein Ort, den wir uns erarbeiten müssen.“

Als ich vor einiger Zeit dieses Zitat aus dem Essay „Zuhause“ von Daniel Schreiber auf Facebook veröffentlichte, bekam es jede Menge „gelikte“ Zustimmung, aber auch einige kritische Kommentare mit dem Tenor, dies sei doch ein hohler Gemeinplatz in der Tonalität eines Kalenderspruchs. Auch dieses Urteil mag ich jedem Einzelnen zugestehen. Denn wenn mir der feinsinnige essayistische Versuch Daniel Schreibers, die vielstimmigen Vorstellungen über den Begriff „Zuhause“ zu harmonisieren, etwas verdeutlichte, dann, dass dies nicht gelingt und es über die Konnotationen des Wortes „Zuhause“ kaum ein Konsens gibt.

Daniel Schreiber, Kunstkritiker und heute überwiegend in Berlin lebend, erhielt für sein 2014 erschienenen Essay „Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“ viel begeisterte Resonanz. Schreibend näherte er sich damals seiner eigenen „Ernüchterung“ an und bot offenbar vielen einen Anlass über den eigenen Alkoholgebrauch und dessen gesellschaftlicher Ambivalenz nachzudenken. Ab und an nörgelte einer, er schreibe zu seicht und manche fanden ihn zu missionarisch, was damals auch als einziges in einer ansonsten begeisterten Kritik in der Zeit angemerkt wurde:

„Daniel Schreibers harsche Kritik an der in puncto Alkohol verlogenen deutschen Gesellschaft ist diskussionsfähig, sein mitunter ein klein wenig missionarisches Lob der Abstinenz wohl nicht die stärkste Seite von Nüchtern.“

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