Kultur und Politik – Einst eine leidenschaftliche Beziehung, dann Jahre der Entfremdung und jetzt ein Rosenkrieg

Man erzählt sich, dass viele Paartherapien mit der Frage eröffnet werden, ob man sich denn noch küsse. Fehlende Küsse seien ein gewichtiges Indiz über die Zerrüttung einer Beziehung. Analog dazu habe ich mich vor kurzem gefragt, wann sich Kultur und Politik – in Deutschland – das letzte Mal öffentlich geküsst haben, nicht unbedingt leidenschaftlich, doch zumindest mal zaghaft. Mir viel keine Erinnerung ein. Im Gegenteil: Kultur und Politik leben meinem Eindruck nach deutlich getrennt und offenbar völlig entfremdet. 

Die deutsche Begegnung von Kultur und Politik: Angela Merkel in Bayreuth

Merkel in Bayreuth ist das einzige Bild, das mir seit fast zwei Jahrzehnten als mediales Highlight von Kultur und Politik eingebrannt wurde. Ansonsten fällt mir aktuell keine einzige Politikerin oder Politiker ein, dessen kulturelle Vorlieben ich kenne. Weder weiß ich, was sie lesen, noch was sie gerne hören oder sehen, geschweige, ob sie sich kulturell engagieren und Kontakte in Kulturkreise pflegen. Das gilt selbst für Robert Habeck.

Meine Wahrnehmung ist boomer-subjektiv und ich möchte sie gerne widerlegt bekommen. Meine ersten knapp 40 Lebensjahre verlebte ich in Frankfurt am Main, dort geboren 1961. Ende der 70er bis Anfang der 90er war diese Stadt eine Hochburg der Beziehungsexperimente zwischen Kultur und Politik. In den 80er waren es sogar einige Ménage à trois von Kultur, Politik und Wirtschaft. Das verdankte sich damals nicht nur einem bundesrepublikanischen Zeitgeist, sondern auch einem Mann, der diesen Geist kongenial verkörperte und zu gestalten verstand: Hilmar Hoffmann. Noch heute bin ich ein Evangelist und Verehrer seiner Kulturpolitik „Kultur für alle“, die er sogar als SPD Kulturdezernent unter einer Walter Wallmann CDU Regierung lange Jahre weiter vorantreiben durfte. Mit so großem Erfolg, dass sein Schaffen weltweit großes Ansehen erhielt. Frankfurt profitiert meines Erachtens noch heute davon.

Seit der deutschen Einheit entfremden sich Kultur und Politik

Ich studierte in den 80er Germanistik, Theater-, Film-, Fernsehwissenschaften und Betriebswirtschaft, mit dem Ziel Kulturmanagement zu betreiben. Doch schon Ende der 80er deutete sich an, dass die leidenschaftlichen Beziehungen zwischen Kultur und Politik (und Wirtschaft) erkalteten. Hilmar Hoffmann war dann in den 90er bald Geschichte, mein Berufswunsch „Kulturmanagement“ begrub ich zugunsten eines attraktiven Jobs in der Werbung und Deutschland wurde wiedervereint, so dass man sich auf ganz andere Dinge zu konzentrieren begann.

Aus „Kultur für alle“ wurde „Kultur ist alles“.

Es ist hier nicht der Raum, um die ewige Debatte „Was ist Kultur?“ zu referieren. Die wird in stoischer Regelmäßigkeit in den deutschen Feuilletons aufgegriffen – wenn halt auch immer unbedeutender. Dennoch unterstelle ich, dass mit dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung ein Credo überhandnahm, welches letztlich die Entfremdung von Kultur und Politik verstärkte. 

Aus dem ambitionierten „Kultur für alle“ wurde ein von allem befreiendes Diktum „Kultur ist alles“. Das gefiel den Schaffenden, die es offenbar müde waren, sich ständig über ihre gesellschaftspolitische Relevanz hinterfragen zu müssen. Man brauchte mal eine Auszeit von der Maloche für alle und zog es vor, Urlaub im eigenen Ich zu nehmen.  

Und auch die Politik war dankbar. Denn der Kulturbegriff wurde auf diese Weise derart durchweicht, dass er für alles herhalten kann und sich damit kultur- und gesellschaftspolitisch überhaupt nicht mehr positionieren muss. Weiterlesen

Oje, Kritiker! Diese eitle, miesepetrige Zunft.

A.O. Scott Kritik üben

 

Man kann A. O. Scotts „Kritik üben – Die Kunst des feinen Urteils“, übersetzt von Martin Pfeiffer, als Plädoyer für eine professionelle Kritik lesen, als Verteidigung eines Berufsstandes, dem gemeinhin mehr Eitelkeit als Hingabe, Hybris statt differenzierte Erkenntnis zugesprochen wird. Man findet dann allerhand aufklärendes, selbstkritisches und nützliches Wissen über das Wesen des Kritikers und auch der Kritik. Das scheint auch immer mal wieder berechtigt, wenn das Image des selbstgefälligen Nörglers wieder die Oberhand in der öffentlichen Wahrnehmung gewinnt.

Dieses miese Bild des Kritikers, das besonders gerne von denen gepflegt wird, welche die Anstrengung des künstlerischen Schaffens und der daraus resultierenden Früchte der Arbeit verklären, beschreibt A. O. Scott an einer Stelle so:

„Er ruiniert anderen Menschen die Arbeit und verdirbt ihnen den Spaß, wie die Ameise beim Picknick oder der Käfer auf dem Baumwollfeld.“

Man kann jedoch das Buch auch zum Anlass nehmen, um über zwei übergeordnete Dinge zu reflektieren. Zum einen über die Relevanz von Kritik überhaupt. Und zum zweiten über die Verklärung ihres Gegenstandes, also der Kunst und derer, die sie schaffen.

Vielen beleidigten Reaktionen auf schlechte Kritiken oder gar Verrissen geht ein entscheidendes Missverständnis voraus: zu glauben, Kritiker und Künstler behandelten den gleichen Gegenstand und hätten dazu die gleiche Brille auf. Sobald ein künstlerisches Werk die Stätte der Herstellung verlassen hat und sich der Rezeption stellt, gehört es nicht mehr allein dem Künstler. Seine Intentionen sind da nur noch Reflexionen von vielen. Bezüglich der Literatur hat Marcel Reich-Ranicki ein schönes Bonmot formuliert:

„Die meisten Schriftsteller verstehen von der Literatur nicht mehr als die Vögel von der Ornithologie.“ Weiterlesen

Kultur ist nicht konsensfähig.

HöhlenBison

Reproduction of a bison of the cave of Altamira

Zur Blogparade hat Tanja Praske eingeladen mit dem Ausgangstitel „Kultur ist (für mich) …“. Das hat sie nun davon:

Nicht mal auf dem kleinsten Nenner würde man sich einig, wenn es um die Definition von Kultur ginge. Versuchen wir es doch nur mal mit der Abgrenzung „Was ist denn nicht Kultur?“ Und da stünde auf jeden Fall „Natur.“ Sofort wird es bei einigen gleich im Lid zucken und zu heftigem Widerspruch anregen. Ist aber so.

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„Die Invasion der Barbaren“

Bild aus dem Computerspiel "Diablo 3"

Bild aus dem Computerspiel „Diablo 3“

Wann immer ich auf die wachsende Schar von Kulturpessimisten treffe, die unsere Kultur für ebenso bedroht erachten wie unsere Natur, schüttelt es mich ein wenig. Nicht immer willkommen entgegne ich gerne: Unsere Generation wird sicherlich nicht zu der auserwählten zählen, die den Zenit der Kulturgeschichte erleben durfte. Noch viele weitere hunderte Jahre wird es unzählige Werke der Kunst, Musik und Literatur geben, die es wert sein werden, gesehen, gehört und gelesen zu werden.

Kultur ist traditionell schon immer bedroht. Und die Einschätzung über das Ausmaß ihrer Bedrohung korreliert sehr eng mit unserem Lebensalter und dem Durchschnittsalter der Gesellschaft. Wer über dieses Phänomen nicht staubtrocken belehrt oder bierernst am Stammtisch mosern möchte, dem lege ich das Buch „Die Invasion der Barbaren“ von Christian Demand ans Herz.

Christian Demand ist seit 2012 Herausgeber der Kulturzeitschrift „Merkur“ und dafür akademisch umfassend vorgebildet, auch wenn er sich in seiner Jugend begeistert dem Medium Fernsehen zuwandte. In aller Bescheidenheit fühle ich mich geistesverwand mit Christian Demand nachdem ich die sechs versammelten Essays und den abschließenden, sehr amüsanten und völlig frei nutzbaren Kunstkatalogtext las. Für letzteres lohnt es sich also schon mal für alle Galeristen und Kunstausstellungsinitiatoren das Buch zu erwerben.

Um an dem Buch ähnliches Vergnügen zu haben wie ich, ist es wohl hilfreich, eine Melange aus Intellektualität und Witz für möglich zu erachten und sie auch zu schätzen. Sein Stil ist wirklich geistreich und nicht vom Pathos eines Schöngeistes gefärbt. Sehr klar und nüchtern holt er die heilsversprechende Vergötterung kulturellen Schaffens auf den Erdboden. Der Erdboden ist es ja auch, dem wir das ursprüngliche Wort „Kultur“ verdanken: vor Jahrtausenden begannen die Menschen mit der Kultivierung der Natur. Natur und Kultur sind eben Antagonisten.

Kultur ist wider die Natur.

Um an dieser Stelle noch einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, möchte ich anmerken, dass weder Christian Demand noch ich gegen den Reichtum an Kultur, noch prinzipiell gegen eine subventionierte, mäzenatische bzw. private und staatliche geförderte Kultur argumentieren. Mir zumindest geht es vielmehr um mein Eingeständnis, dass ich die Vielfalt an Kultur, die ich genießen kann, als außerordentlichen individuellen Luxus empfinde. Sie ist mein Porsche, meine Rolex, mein Urlaub auf den Seychellen und darf damit ebenso mit Neid und Missgunst gestraft werden.

Mit dem Begriff „Kultur“ konnotiert die gebildete Gesellschaft reflexartig immer etwas immens Positives, Erhaltenswertes, ja Unverzichtbares. Daher wird das Kompositum „-kultur“ rhetorisch gerne von allen eingesetzt, um jeglichen Widerspruch ihres konservativen Wunsches dem Verdacht des Unkultivierten, Barbarischen und Zerstörerischen auszusetzen. Auch wenn der inflationäre Einsatz (Esskultur, Gesprächskultur, Briefkultur, Volkskultur, Filmkultur, Unternehmenskultur, Popkultur, Fernsehkultur, Wein- und Bierkultur, Druckmedienkultur, politische Kultur, Streitkultur, Spaßkultur Erinnerungskultur, Handwerkskultur, Konsumkultur, Spielekultur etc.) heute skeptisch stimmen müsste, kann der Bezeichner jedoch immer noch auf diese Finte setzen.

Dazu schreibt Christian Demand: „Man kann sich über Kulturfundamentalismus lustig machen, aber er bleibt eine ernste Sache, denn im Namen der Kultur werden Unfehlbarkeitsatteste ausgestellt, und man tut so, als werde der einzelne von seiner Kultur wie von einem gültigen Paraorganismus umschlossen.“

Heute ist die höchste Kunst in der Kunst die Überzeugungskunst.

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Kein Vandalismus, sondern Gemälde von Fontana.

Die neuere Kunstgeschichte und die zeitgenössische Kunstkritik verfügen über keinerlei objektive Normen und Kriterien, anhand deren sie ihren Gegenstand für Dritte nachvollziehbar beurteilen könnten. Einschätzung, Wertungen und Urteile nicht nur über die Qualität von Kunst, sondern, ob etwas überhaupt Kunst ist, sind völlig willkürlich und subjektiv. Unser etabliertes Verständnis von Kunst hat sich jeglichen normativen Festlegungen entzogen. Und was für die bildende Kunst im Besonderen gilt kann auch auf andere Metiers übertragen werden, wie z. B. die Literatur.

„Daß sich die Frage, was Kunst (oder Literatur, Hinzufügung von mir) ist, nicht mehr verbindlich beantworten läßt, gehört deshalb heute zur kunstphilosophischen Erstsemesterausstattung.“schreibt Christian Demand.

Kunst ist also das, was ich dazu erkläre. Heute ist die höchste Kunst in der Kunst die Überzeugungskunst.

Kultur ist identitätsstiftend. Das Pathos ist sympathisch, aber hohl.

Repräsentanten der Kunstpädagogik und andere Kunstexperten zeichnen sich denn auch oft durch überbordende, pathetische Rhetorik aus, wenn es um den Gegenstand ihrer Tätigkeit geht. Christian Demand zeigt dafür Verständnis, „Denn natürlich steigt die Versuchung, eine großsprecherische Außendarstellung zu wählen, je geringer die gesellschaftliche Grundakzeptanz einer Disziplin ist…“

Selten hängt die Latte der Notwendigkeit von Kunst und Kultur niedriger als die, die Rita Süssmuth einmal auflegte: „Die historische Erfahrung (lehrt), daß es nicht möglich ist, eine humane Gesellschaft, die sich der Wahrung der Menschenwürde und der Toleranz verpflichtet weiß, zu gewährleisten, wenn diese Gesellschaft auf den Ausdruck ihrer kulturellen Identität verzichten wolle.“

Dass dieses sympathische Pathos völlig hohl ist, beweist ja unsere deutsche Geschichte vor und nach 1933. Ein hochkultiviertes Volk, wie es die Deutschen vor der Naziregierung zweifelsohne waren, verfällt in wenigen Jahren in inhumanste und grausamste Barbarei. Auch ohne Adorno sollte danach jeder klar urteilende Mensch eingestehen, dass Kunst & Kultur zwar vieles im Leben Einzelner schöner, bewegender und geistreicher machen können, jedoch beides gesamtgesellschaftlich keinerlei prägenden Beitrag für mehr Humanität leistet.

IMG_0731Aber dieses Eingeständnis findet man in unserer Gesellschaft kaum. Vielmehr werden über viele Generationen hinweg die fast religiös anmutenden bildungsbürgerlichen Tugenden nach dem Gebot einer ästhetischen Erziehung gepflegt – „denn ästhetisch erzogene Menschen sind auf lange Sicht auch die besseren Mitmenschen.“

Daraus leitete die Politik und ein breites bildungsbürgerliches Spektrum von weit links bis weit rechts denn auch ihren für die Allgemeinheit recht kostspieligen „ästhetischen Fürsorge“ Auftrag ab. Wie üppig der im Bereich der bildenden Kunst dotiert ist, lässt sich leicht erahnen. Erstens gibt es seit 1950 das K7-Gesetz, das ca. 10.000 „Kunst am Bau“-Werke (hier der Festvortrag 2014 von Martin Seidel) mit bis zu 2% der Bausumme gefördert hat und zweitens gibt es das inflationäre Bedürfnis nach Musealem: 1998 gab es schon mehr als 5000 Museen in Deutschland. Heute sind es schon weit mehr als 6000. Neueröffnungen von ca. 1000 Museen innerhalb von 15 Jahren. Wow!

Dass dies Luxus ist, muss man sich zumindest eingestehen, wenn man mit Christan Demands Einschätzung überein ist: „Und am allerwenigsten gibt sie (die bildende Kunst, Anm. von mir) Anlass zu der Vermutung, der Kunst als solcher oder auch ihrer Rezeption eigneten per se gesamtgesellschaftlich segensreichere Kräfte als etwa Mode, Kino, Sport oder auch Popmusik.“ Aber sicher darf man sich auch weiterhin luxuriös empören, wie aktuell über den Verkauf der Warhol-Bilder in NRW.

Das Volk ist anspruchslos – schon seit 1749.

Christian Demand benennt auch die historische Kontinuität der Kritik, dass die epochale Qualität der Kunst kontinuierlich nachlasse, beginnenden mit dem Franzosen La Font de Saint-Yvenne, der schon 1749 beklagte, „daß die Malerei seiner Zeit einen Niedergang erlebe…“. Wie modern der Kritiker schon damals dachte, wird deutlich wenn Christian Demand erklärt:

„Deshalb tadelte er auch nicht so sehr die Produzenten, die schließlich nur auf die Nachfrage reagierten, er haderte vielmehr mit der Anspruchslosigkeit des zeitgenössischen Publikums.“

Einmal mehr zeigte sich die Willkür der Kunstbewertung an den Beispielen der Verpackungskunst von Christo. Während die Reichstagsverpackung, trotz erheblicher und kurios genommener Hürden, allgemein als herausragendes Kunstereignis in die deutsche Geschichte einfloss, wurde die kurz zuvor eingehüllte Pont Neuf als touristischer Nonsens von der feuilletonistischen Expertenkritik abgestraft.

Doch letztlich ist die qualitative Kritik von Kunst und Kultur sekundär, da sie endlos wäre, weil sie – wie anfänglich beschrieben – keine objektiven Kriterien hat. Das sollten wir spätestens seit Kant akzeptieren, an den Christian Demand erinnert. Er meinte dazu: die Beistimmung zu den eigenen ästhetischen Präferenzen kann man seinen Mitmenschen doch immer nur unverbindlich „ansinnen“.

Die Zerstörung von gesellschaftskritischer Kunst als gesellschaftskritischer Akt am Beispiel AI Weiwei Vase:

Weitere Besprechungen im Spiegel und DeutschlandRadio

Vorsicht ansteckend: Paranoia

Augen

Die Tage der Menschheit sind gezählt. Die digitalen Daten-Geister, die wir riefen, werden wir nicht mehr los. Sie vernichten unsere Privatsphäre, determinieren unsere Schicksale und degradieren uns alsbald zu willenlosen Konsumzombies. Doch bevor es zum Exodus unsere Gedanken- und Willensfreiheit kommt müssen wir noch mächtig leiden – als Opfer unserer maroden Infrastruktur oder als Marionetten im Machtspiel einer mafiosen Elite von Medienmogulen und Oligarchen. Tröstlich nur, dass auch diesen Machtgierigen letztlich irgendwann die Luft zum Atmen ausgeht da der ökologische Supergau schon unabwendbar begonnen hat.

So ließe sich mein aktuelles, literarisch erschüttertes Weltbild zusammenfassen. Um das zu erlangen, bedurfte es nur der Lektüre dreier Bestseller aus dem Genre „Zukunftsthriller“: „Drohnenland“ von Tom Hillenbrand, „Black Out“ von Marc Elsberg und sein aktuelles Werk „Zero“. Alle drei fand ich lesenswert und empfehle ich gerne als Urlaubslektüre.

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Zuerst wurde ich aufmerksam auf „Drohnenland“ von Tom Hillenbrand. Eine konventionelle Krimihandlung (Mord an einem EU-Abgeordneten in Brüssel) mit einem heldentauglichen Europol-Agentenpaar als Hauptfiguren wird hier eingebettet in eine beklemmend fiktive Zukunftskulisse. Auf deren Gestaltung legte der Autor besonders viel Wert. Hillenbrand siedelt die Geschichte ungefähr im Jahr 2050 an. Er denkt sehr faszinierend aktuelle technische Entwicklungen, ökonomische und ökologische Prognosen sowie sich daraus entwickelnde geopolitische Verschiebungen weiter.

Geopolitisch haben sich in „Drohnenland“ die Mächte dahingehend verschoben, dass die USA kaum noch eine Rolle spielt, Europa um seine Bedeutung kämpft, Asien und Russland deutlich an Gewicht gewonnen haben, jedoch die wirtschaftliche Vormachtstellung nun Brasilien innehat. Denn Brasilien hat durch riesige Gezeiten- und Wellenkraftwerke alle anderen Regionen als Energielieferant überflügelt. In Europa profitiert davon am meisten Portugal das viele Brasilianer für sich als attraktiven Lebens- und Investitionsstandort entdecken. Andere Teile Europas hingegen sind Opfer des Klimawandels. Die Niederlande sind fast unbewohnbares Sumpfland, auch Hamburg steht weitgehend unter Wasser und in Brüssel regnet es unentwegt.

Die Bevölkerung in „Drohnenland“ lebt totalüberwacht durch omnipräsente Drohnen und stetig durchforstete Netzwerke. Die Mehrheit hat sich damit arrangiert und lebt in vermeindlicher Sicherheit. Drohnen in allen nur erdenklichen Größen – auch unzählige staubkorngroße Minidrohnen – durchschwirren jeden zugänglichen Raum. Die damit gesammelten Daten ermöglichen es vergangene Geschehnisse wie ein 3-D-Film zu rekonstruieren und aktuelles Geschehen zu spiegeln. Zudem werden all so gewonnen Daten für gesellschaftspolitische und personenbezogene Prognosen herangezogen. Ab einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% staatsfeindlicher oder gesetzeswidriger Tendenzen wird es kritisch. Besser vorzeitig eliminieren als abwarten ist dann die herrschaftspolitische Devise.

IMG_8288Die latente Angst des Einzelnen sich im Fahndungsraster von Europol zu verfangen bilden den Kern der Paranoia die sich beim Lesen zunehmend entwickelt. Denn auch wer sich völlig harmlos glaubt und verhält, kann aufgrund von Herkunft, Ausbildung, soziales Umfeld und einiger unbedachten Meinungsäußerungen schnell in den Kreis potentiell Verdächtiger geraten. Und auch was heute schon suspekt wirkt, ist in Drohnenland prekär: wer Datenspuren vermeidet, nichts über seine Person preisgibt, keine aktive Netzpräsenz zeigt und gar verschlüsselte korrespondiert, gerät sehr schnell ins Visier der Präventionsermittler.

Für die Fans von Verschwörungstheorien sind solche staatlichen Machenschaften schon heute gang und gäbe und die Enthüllungen von Edward Snowden, dessen Existenz allmählich beängstigend verblast, rührten zu Tränensturzbächen auf ihre Gebetsmühlen. Doch diese Vorahnungen nützen den Netz- und Datenphobikern und Kulturdefätisten nichts. Denn wie Terry Pratchett, der englische Fantasyautor (von dem ich noch nie etwas gelesen habe und das auch nicht ändern mag) schon sehr treffend bemerkte: „Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.

IMG_0665Dass man gar nicht so weit in die Zukunft fabulieren muss, um paranoide Leser zu erzeugen, veranschaulichen die beiden Romane von Marc Elsberg. Sie spielen in der Gegenwart bzw. in der nahen Zukunft. In der Welt seines jüngsten Romans „Zero“ greift der Autor einzig bei der Verbreitung von Datenbrillen und der Funktion der Gesichtserkennung zeitlich voraus. Beides Techniken, die heute schon in der Betaphase sind. Sie vervollkommnen die technischen Möglichkeiten einer visuellen Totalüberwachung, wie sie schon durch die omnipräsente behördliche Videoüberwachung in Metropolen wie London angedeutet sind.

London ist auch die Heimat der Heldin Cynthia in der Geschichte. Eine alleinerziehende Journalistin, die privat von ihrer digital-native Teenietochter Viola und beruflich von ihrem Chefredakteur und Kollegen widerstrebend und skeptisch in die digitale Welt gedrängt wird. Einzig eine Singlebörse bildet zuvor ihre freiwillige Online-Erfahrung. Durch einen tödlichen Vorfall im Freundeskreis ihrer Tochter wird ihr investigativer Nerv gereizt. Schon bald steht sie im medialen Mittelpunkt eines Polit- und Wirtschaftsthrillers, in dem es um die Enthüllung der enorm manipulativen Macht eines Internetunternehmens namens Freeme geht, das stets das Gute will, jedoch das Böse schafft. Die mächtigen Strippenzieher, die die Enthüllung verhindern wollen, sitzen nicht nur im Management des Konzerns, sondern auch im weißen Haus. Einzig eine anonyme Hackertruppe, die sich „Zero“ nennt und als anarchische Netzaktivisten gegen die Datenkraken rebellieren, wird letztlich zum überlebenswichtigen Verbündeten von Cynthia.

Marc Elsberg versteht es grandios, dem aktuellen Disput zwischen Evangelisten und Skeptikern über die Licht- und Schattenseiten der digitalen Welt neue Nahrung zu geben. Denn er beschreibt ein denkbares Szenario, das die Allmachtfantasien, die sich mit den schon heute existierenden Internetunternehmen verknüpfen, beängstigend fortschreibt. Und dennoch liefert der Roman auch genügend Argumente dafür, dass es aussichtslos ist, die Zeit zurückdrehen zu wollen. Somit ist der Roman zudem ein Plädoyer für mehr Wachsamkeit und Medienkompetenz jedes einzelnen.

IMG_8303Und um dies auch handfest zu unterstützen, hat Marc Elsberg eine sehr empfehlenswerte Internetpräsenz begleitend zum Buch eingerichtet. Er macht uns ganz konkret darauf aufmerksam, was wir so beiläufig alles preisgeben, wenn wir online sind und mit welchen einfachen Mitteln wir uns ein wenig davor schützen können, uns gänzlich ausziehen zu lassen. Doch alle Paranoiker seien noch mal daran erinnert, was ich oben schon angemerkt habe: wer heute beginnt, aktiv seine Datenspuren zu verwischen, seine Netzpräsenz zu anonymisieren oder kryptisch zu kommunizieren, wird bald zu den verdächtigen Subjekten zählen.

Wer nicht zu den Netz- und Datenphobikern zählt und sich von der Paranoia dieser beiden Romane kaum anstecken lässt, der wird dann vielleicht von wachsender Angst bei der Lektüre von Marc Elsbergs Bestseller „Black out“ befallen. Zumindest ich muss gestehen, dass mir nach den knapp 800 Seiten, die ich ziemlich atemlos gelesen habe, jetzt schon mulmig wird, wenn bei uns die Sicherung rausfliegt. Über 900 Rezensionen auf amazon deuten an, dass dieses Buch viele Leser gepackt hat. Fast zwei Drittel sind sehr positiv. Doch auch 50 Verrisse finden sich da, die recht einhellig die fehlende Wirklichkeitsnähe und die Langatmigkeit der Erzählung beklagen. Beides kann ich nicht teilen.

IMG_8295Sicher – wie der Autor selbst im Nachwort schreibt – sind einige Fiktionen der Dramaturgie geschuldet und mögen im realen Ernstfall so nicht eintreten. Doch der Kern der Geschichte bleibt davon unberührt und erschreckend plausibel. Es geht um einen europaweiten, langanhaltenden Stromausfall den terroristische Weltverbesserer verantworten. Deren Ziel ist die Vernichtung der bestehenden Wohlstandsgesellschaft zugunsten einer neuen Weltgemeinschaft, die in Zukunft achtsamer und mehr im Einklang mit der Umwelt leben soll. Dafür nehmen sie bewusst Millionen Opfer in Kauf, auch wenn sie selbst das Ausmaß der Katastrophe – Supergaus von Atomkraftwerken in Europa – nicht gänzlich vorausahnten.

Was „Black out“ so besonders packend macht, ist die völlig realitätsnahe Beschreibung, wie sich innerhalb von nur zwei Wochen unsere Gesellschaft wandelt, wenn sie stromlos ist. Von einer sich anfänglich höchst solidarisch verhaltenden Not-Gemeinschaft wandeln wir uns in eine anarchische, jegliche Moral und Nächstenliebe verlustig gehende, ja mörderische Masse Mensch.

Dass es am Ende doch noch einigermaßen gut ausgeht verdanken wir einem alleinstehenden italienischen IT-Spezialisten der sich als ebenso genialer wie integrer Hacker erweist. Zum Lohn findet er auf seiner dramatischen Odyssee durch Europa auch seine große Liebe. Die Geschichte um diesen Helden wider Willen mag etwas kitschig sein. Doch angesichts der sehr realistisch geschilderten Apokalypse verschafft sie ein wenig Trost in einer ansonsten zwar dramatisch spektakulär geschilderten doch sehr düsteren Vision über den Zusammenbruch unsere Gesellschaft, wenn man ihr mal den Saft abdreht.

IMG_8306Einen aktuellen Kick bekommt dieser Roman durch den kürzlich verbreiteten Bericht der NASA, dass wir 2012 nur knapp an einer weltweiten Katastrophe vorbeigeschrammt sind. Ein enormer Sonnensturm hätte diese verursacht, wenn er unser Erde frontal erreicht hätte. Weltweiter Strom- und Elektronikausfall und Billionen-Schäden wären die Folgen gewesen, die wir noch über Jahre zu spüren bekommen hätten.

Auch für diesen Roman hat Marc Elsberg mit seinem Verlag eine recht informative Website eingerichtet, die zumindest ein paar Tipps und Hinweise für den Ernstfall bereitstellt.

Wem meine inhaltlich knappen Zusammenfassungen der Romane nicht anschaulich genug sind, dem empfehle ich einen Besuch auf Kaffeehaussitzer. Dies ist nicht nur einer der lesenswertesten, sondern auch schönsten Literaturbloggs, die ich kenne. Sowohl sein Projekt „Schöne neue, paranoide Welt“ ist spannend zu verfolgen als auch seine Buchbeschreibungen zu „Drohnenland“ und „Zero“ sind sehr, sehr lesenswert – sowie all die vielen anderen. Zudem führen dort weitere Links zu anderen Bloggern, die sich ebenfalls mit den Romanen befasst haben.

So, und jetzt lasse ich jeden mit seiner Paranoia wieder allein.

Geld oder Lesen!

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Um erfolgreich ein Buch zu schreiben, braucht es in Zukunft offenbar keine Leser mehr. Als ich Ende Oktober 2013 meine Rezension zu Dirk von Gehlens „Eine neue Version ist verfügbar – Update: Wie die Digitalisierung Kunst und Kultur verändert.“ auf amazon verfasste, verwunderte mich sehr, dass ich der erste war – das Buch war am 9. September erschienen – und bis heute nur zwei Kurz&Knapp-Rezensionen zu diesem Buchprojekt folgten.

BildWo sind denn die begeisterten „Crowdfounder“, die helfen ihre Investitionen zu fördern. Ist doch dieses Buch eines der ersten Buchprojekte, das sich nicht nur inhaltlich der digitalen Zukunft und Netzwerk-Ökonomie widmet, sondern auch erfolgreich aus einem Crowdfunding Experiment hervorgegangen ist. Über 350 Unterstützer haben mehr als € 14.000,– vorausgezahlt, um dem Autor die Umsetzung des Buches zu ermöglichen – nicht wissend, was sie inhaltlich konkret erwarten wird. Nun sind schon 6 Monate seit Erscheinen vergangen und noch immer hat kaum einer der Fans (waren sogar mehr als 400) ein Feedback auf der doch relevanteste Plattform für Bucherscheinungen hinterlassen. Selbst die 1% Regel von Jakob Nielsen, auf die Dirk von Gehlen in seinem Buch hinweist, greift bislang also nicht. Besagt sie doch, dass ca. 1% in einer Netzwerk-Community besonders aktiv ist. Da sollte man hier doch schon 4 Rezensionen von den Fans erwarten können.

Wie man im Weiteren noch lesen kann, erkenne ich auch keine inhaltliche Enttäuschung, welche die Zurückhaltung der Projektbegeisterten erklären könnte. Angesichts der doch umfangreichen und sehr enthusiastischen Berichterstattung über das Buchprojekt im Vorfeld und der hohen Netzreputation Dirk von Gehlens ist es doch eine enorme Enttäuschung zu sehen, dass das wichtigste Ziel des Projektes offenbar nicht erreicht wird: Leser.

BildIch gehöre nicht zu den finanziellen Unterstützern vorab, doch zu den nachträglichen Käufern (eBook, das mir hier doch angebracht erschien) und Lesern. Getrieben hat uns wohl dennoch das gleiche: die Neugier, was dabei herauskommen mag. Und hierbei wird zunächst schon mal deutlich, dass sich Crowdfunding bei Kulturprodukten – besonders Büchern – kaum vom klassischen Erwerb unterscheidet. Denn in beiden Fällen investiert man sein Geld sehr ungewiss – bei Ersterem muss man nur länger warten. Während ich mir über viele Gebrauchsprodukte vor dem Kauf schon recht gut ein Urteil bilden kann, ist dies bei Büchern nun mal erst nach dem Gebrauch möglich. Aus Sicht des Rezipienten wäre also das umgekehrte Businessmodell wirklich eine radikale Innovation: erst lesen, dann zahlen. Doch zugegebener Maßen kann ich jeden Produzenten verstehen, der dieses Risiko meiden möchte. Und das Fazit dieses Crowdfunding Experiments bestärkt das noch.

Was ist inhaltlich herausgekommen? Auf jeden Fall nicht das, was ich erwartet habe. Und das ist ja nun mal nicht unbedingt schlecht, denn es hat mich schon überrascht. Ich habe eine These vorgefunden, mit der ich mich zuvor so nicht befasst habe: Kulturprodukte werden zukünftig vermehrt einen anderen Aggregatzustand annehmen – vom festen in den flüssigen. Dies ist nicht im haptischen Sinn zu verstehen, sondern als das ewig Unvollendete. Wie technische Software so werde zukünftig auch „Artware“ in diversen Versionen upgedatet. Das ist meinerseits nicht so süffisant gemeint, wie es für manchen klingen mag. Es ist wirklich ein sehr spannender Aspekt, mit dem es sich zu beschäftigen lohnt.

Für mich war die Digitalisierung bislang überwiegend ein Produktionswandel, der massiv das damit verbundene ökonomische Modell ins Trudeln brachte. Einerseits die ubiquitäre Verfügbarkeit mit zu vernachlässigenden Distributionskosten und anderseits die unendliche Möglichkeit von Kopien ohne Qualitätsverlust führen zur zwingenden ökonomischen Logik, dass alles, was digitalisiert werden kann auch digitalisiert wird.

Doch mit Dirk von Gehlens These der Verflüssigung kommt ein spannender Aspekt hinzu, der bislang in der Kulturbranche wenig beachtet wird: wo sind die Microsofts und Co. im Kulturmarkt? Wann erscheinen die ersten Kunstprodukte, die regelmäßig upgedatet werden? Nicht Serien und weitere Alben sind damit gemeint, sondern z.B. Kunst, die sich regelmäßig neu formt und aufgrund von Feedback weiterentwickelt. Zugegeben, mir sind die damit denkbaren Kulturprodukte noch etwas fremd, doch es ist sicher richtig und wichtig, darüber weiter nachzudenken.

Es gibt zudem interessante Interviews und Beispiele, die den Themenkomplex von unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Alles in allem ist es für mich ein lesenswertes Buch, doch auch ein sehr konventionelles. Nichts Spannendes führt nun über dieses vorliegende Buch bislang hinaus – einzig die Entstehungsgeschichte war ungewöhnlich. Finanziell gab es zwar ein Happy End. Doch Geld ist ja bekanntlich nicht alles. Dirk von Gehlen selbst zu dem Experiment hier.

Eine weitere Rezension zum Buch gibt es von den Netzpiloten hier.

Opportunisten aller Länder – vereinigt Euch!

weisen_AffenVor kurzem entdeckte ich den Franzosen Gustave Le Bon (1841 bis 1931). In seiner Abhandlung über die „Psychologie der Massen“ (1895) fand ich sehr viel bemerkenswert zeitloses zum Populismus, zu politischen Führungsqualitäten, ewig gleich lautendem kulturpessimistischen Gejammer, zum Opportunismus der Medien, zur Hypokrisie der Intellektuellen und über das Dilemma der parlamentarischen Demokratie, die uns wiederkehrende Finanzkrisen beschert und – gutmeinend – unsere persönliche Freiheit mehr und mehr einschränkt. Der Mann wäre heute wohl zumindest ein hoch beachteter Blogger.

BildGustave Le Bon gilt mit seiner knapp 200 Seiten umfassenden Abhandlung über die „Psychologie der Massen“, die 1895 in Frankreich erschien, gemeinhin als Vater der Massenpsychologie. Ca. 20 Jahre später traf es auch in deutscher Übersetzung den Nerv der mehr oder weniger bürgerlich intellektuellen Kulturpessimisten. Zumindest würde man Le Bon heute wohl in diesem Milieu orten. Im späteren beeinflussen seine Thesen, die er sehr lesbar, ja fast populärwissenschaftlich, erörtert, u. a. Intellektuelle wie Sigmund Freud, Max Weber, Hannah Arendt und auch Albert Camus. In dessen Biografie wurde ich von Iris Radisch auf Le Bon aufmerksam gemacht.

BildLe Bon vertritt einen bürgerlich-elitären Konservatismus, der angesichts des beginnenden „Zeitalters der Massen“ jeglicher Hoffnung auf sich daraus entwickelnde kulturelle, soziale und politische Fortschritte eine Absage erteilt. Die Masse, wie er sie empirisch beobachtet, ist bar jeder Vernunft. Selbst der Gebildete, der Einzelne, der sich im Alltag vernünftig zu verhalten versteht, wird in dem Moment, wo er Teil einer Masse wird, überwiegend von unbewussten, niederen Instinkten geleitet. Jede sich bildende Masse Mensch ist eine wachsende Ansammlung von Opportunisten. Die Masse nivelliert dabei all ihr geistiges Vermögen auf das niedrigste Niveau. Angesichts gegenwärtiger Massenveranstaltungen (Sport, Kultur, Politik, aber auch Netzwerken) kann man diese Beobachtung noch heute nicht gänzlich leugnen. Doch während sie hier noch harmlos erscheint, wirkt die Tumbheit der Massen in den gesellschaftspolitischen Fragen sehr bedenklich und – wie die Historie wiederkehrend mit ihren vielen blutigen Kriegen, Pogromen, Volksverhetzungen belegt – oft sogar mörderisch:

„Die Massen haben nur die Kraft der Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.“

Und an anderer Stelle:

„In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.“

Doch Le Bon versteht Masse nicht allein als den namenlosen Plebs oder diskriminiert sie als dumpfen Pöbel, sondern erkennt dieselben psychologischen Muster auch bei nicht namenlosen Gruppen, wie z. B. Geschworene, Parlamentarier oder Wissenschaftler. Auch wenn Le Bon es vermeidet, explizit sich selbst als gefährdet zu betrachten, so schließt er dies auch nicht aus. Offensichtlich ist jeder gefährdet, und es gibt keine geistige Immunität gegen Mitläufertum.

Der Glaube, verbunden mit der Suggestionskraft einfacher Bilder, und nicht Aufklärung sei die Triebfeder der Massen, lautet die Quintessenz von Le Bon. Und angesichts der doch kläglichen Erfolge eines bislang 250jährigen philosophischen Bemühens, uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu führen, kann man dieser Einschätzung nicht vehement widersprechen. Denn auch die heutigen gesellschaftspolitischen Ideologien erweitern nur das Spektrum der Glaubensrichtungen.

„Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir, dass sie namentlich durch Bilder erregt wird. Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfügung, aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen. … Worte, deren Sinn schwer zu erklären ist, sind oft am wirkungsvollsten. So z.B. die Ausdrücke Demokratie, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit u. a., deren Sinn so unbestimmt ist, dass dicke Bände nicht ausreichen, ihn festzustellen. Und doch knüpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben, als ob sie die Lösung aller Fragen enthielten. In ihnen ist die Zusammenfassung der verschiedenen unbewussten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendig.“

Entsprechend ablehnend würde sich Le Bon heute wohl auch über die Schwarmintelligenz äußern:

„Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf. Es hat nicht, wie man so oft wiederholt, die „ganze Welt mehr Geist als Voltaire“, sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die „ganze Welt“, wenn man unter dieser die Massen versteht.“

Le Bon bescheinigt den Massen nicht nur geistlosen Opportunismus, sondern auch Obrigkeitshörigkeit und Duckmäusertum:

„Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflusst. Niemals galten Ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden.“ (Das lässt einen doch an einige lebende Personen und lupenreine Demokraten denken.)

Würde Le Bon heute auferstehen, könnte er sich vollends bestätigt in den kulturpessimistischen Diskurs des 21. Jahrhunderts einbringen. Die Entwicklung der Medien, besonders die Omnipräsenz und Verfügbarkeit von endlosen Informationen, wäre ihm Erklärung genug für die aktuelle Empörungsgesellschaft:

„Der Erwerb unnützer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel, einen Menschen zum Empörer zu machen.“

Seit an Seit mit Günter Grass & Co. würde er sich nach den guten alten Zeiten sehnen als Intellektuelle noch überzeugt von ihrer politischen gesellschaftlichen Relevanz waren und sich im naiven Glauben befanden, Meinungsbildner zu sein:

„Einst, und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns, wurde die öffentliche Meinung von der Tatkraft der Regierung, dem Einfluss einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen. Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluss eingebüßt, und die Zeitungen spiegeln nur die öffentliche Meinung wider.“

Und er würde mir vielleicht beipflichten, wenn ich behaupte, dass wir heute keine Politiker mehr wollen, die ernsthaft und manchmal schmerzhaft die Zukunft gestalten, sondern nur Verwalter unserer bürgerlichen Komfortzone wählen:

„Und was Staatsmänner anbelangt, so denken sie nicht daran, sie (die Masse) zu lenken, sondern suchen ihr nur zu folgen. Ihre Furcht vor der öffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede Festigkeit.“

Ebenso würde ihn wohl unsere wiederkehrende Enttäuschung über die Mehrheit von Führungskräften verwundern. Denn schon vor über 100 Jahren erkannte er:

„Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im Allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden.“

Ebenso müde oder vielleicht auch süffisant lächelnd könnte er die aktuelle medienkritische Diskussion verfolgen. Ist doch schon zu seiner Zeit klar, dass der heute so gepriesene, unabhängige, aufklärende und Haltung erfordernde Qualitätsjournalismus allenfalls sporadisch und in unauffälligen Nischen aufkeimt:

„Die Presse, die einstige Leiterin der öffentlichen Meinung, hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen müssen. Gewiss, besitzt sie noch eine bedeutende Macht, aber doch nur, weil sie lediglich die Widerspiegelung der öffentlichen Meinung und ihrer unaufhörlichen Schwankungen ist. Sie ist zum einfachen Informationsmittel geworden und hat darauf verzichtet, irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten. Sie geht allen Veränderungen des öffentlichen Geistes nach, sie ist dazu verpflichtet, weil sie sonst Gefahr läuft, durch die Maßnahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren. Die alten, ehrwürdigen und einflussreichen Blätter von ehedem, deren Ansprüche von der vergangenen Generation noch ehrfurchtsvoll wie Weissagungen angehört wurden, sind verschwunden oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden, die von unterhaltenden Neuigkeiten, Gesellschaftsklatsch und geschäftlichen Anzeigen umrahmt sind.“

Und wer glaubt, dass Feuilleton bilde da eine hoffnungsvolle Ausnahme und könne zumindest noch in elitären Kreisen seinen Einfluss behaupten, dem hat Le Bon schon 1895 vorgehalten:

„Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht, ein Buch oder ein Theaterstück durchzusetzen. Sie kann schaden, aber nicht nützen.“

Wer sich einmal die Mühe macht, Buchempfehlungen in den deutschen Feuilletons mit denen der Amazon-Rezensenten zu vergleichen, kann der Einschätzung nur zustimmen.

Wer bis hierhin noch nicht von der zeitlosen Relevanz Le Bons überzeugt ist, lässt sich vielleicht von seinem abschließenden Fazit einnehmen, in dem er uns auch deutlich macht, dass die aktuelle Krise der Staatsfinanzen, die wir historisch so einmalig empfinden, doch einzig nur eine logische Konsequenz unserer besten unter den schlechten, von den Massen getragenen Staatsformen ist. Denn auch nach Ansicht Le Bons erweist sich die parlamentarische Demokratie noch immer als die beste unter allen schlechten Regierungsformen. Sie birgt

„eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich: die übermäßige Verschwendung der Finanzen und die zunehmende Beschränkung der persönlichen Freiheit.“

Letzteres durch die unendliche Zunahme stets einschränkender Gesetzgebung. Und dass die wachsende Verschwendung von Staatsgeldern dann in die uns akut betreffende Finanzkrise führt, ist schon vor über 100 Jahren evident – und wurde schon damals von uns altbekannten Staaten angeführt:

„Das ununterbrochene Anwachsen solcher Ausgaben muss notwendigerweise zum Bankrott führen. Viele Staaten Europas, Portugal, Griechenland, Spanien, die Türkei, sind dabei angelangt, andere werden bald soweit sein. Aber man braucht sich nicht viel darum zu kümmern, da das Publikum ohne großen Widerspruch nach und nach die Kürzung von vier Fünfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Länder angenommen hat. … und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muss man sich damit begnügen, in den Tag hinein zu leben, ohne allzu sehr an das Morgen zu denken, das sich unserer Macht entzieht.“

Gustave Le Bon „Psychologie der Massen“ als Pdf hier.