Im Wald da sind die Räuber

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„Sie renovierten eine verfallene Scheune mitten in einem entlegenen Wald, weil es der einzige Ort war, an dem ihre kleine Tochter nicht schrie.“

Hätte ich nicht zuvor Robert Williams beeindruckenden Debüt- und Jugendroman „Luke und Jon“ begeistert gelesen, wäre ich wohl spätestens bei diesem Kapitelschluss aus seinem aktuellen Roman „Tief in den Wald hinein“ (Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit) ausgestiegen. Dass ein junges Elternpaar aus schierer Verzweiflung über ihr Schreikind sein Eigenheim in Stadtnähe aufgibt, um in die Einöde zu ziehen, wo das Kind sich einzig zu beruhigen scheint, war mir denn doch zu konstruiert.

Es bleibt auch völlig ungeklärt, warum das Kind sich einzig an diesem Ort beruhigt. Offensichtlich dient diese Vorgeschichte einzig dazu, um eine passende Szenerie einzuführen: eine zwar schöne, doch von nur wenigen kontaktzähen Einheimischen besiedelte Gegend und ein Wohnort mitten im Wald, der nur Bäume als Nachbarn bietet. Vor dieser etwas unheimlichen Idylle bahnt sich nun erwartungsgemäß ein dramatisches Ereignis im noch jungen Familienleben von Ann und Thomas an.

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Mit diesem Coming-of-Age-Debüt überzeugte 2010 Robert Williams viele Kritiker. Zu Recht, wie ich finde.

Die Geschichte ist spannend erzählt und es verläuft alles weitaus plausibler als man nach dem konstruierten Einstieg befürchten konnte. Ganz im Sinne des „Master of Suspense“ Alfred Hitchcock schildert Robert Williams Kapitelweise zeitlich parallel verlaufene Lebenswege von Figuren, die sich wohl alsbald tragisch kreuzen werden. Neben Ann und Thomas sind das noch Raymond und Keith. Raymond, ein einzelgängerischer Riese mit schlichtem Intellekt und phlegmatischen Gemüt, entpuppt sich im Verlauf als hilfsbereiter liebenswerter Sonderling. Keith hingegen, ein neidischer Giftzwerg, ist die Besetzung des miesen, bösen und kriminellen Charakters, dem wir fast mitleidlos dabei folgen, wie er im Laufe der Geschichte gänzlich abstürzt – immer bangend, dass der Mistkerl nicht zu viele andere mit ins Verderben reißt.

Dennoch, die wahre Stärke des Autors liegt nicht im Geschichten erzählen. Was Robert Williams außergewöhnlich gut gelingt, sind die Porträts seiner Figuren. Es sind knappe, aber meisterliche Charakterstudien. Das verbindet auch sein erfolgreiches Debüt „Juke und Jon“ mit diesem nun dritten Roman. Wie ein begnadeter Skizzenmaler versteht es Williams mit einfachen Mitteln sehr eigenwillige, vielschichtige und Neugier weckende Persönlichkeiten darzustellen. Und das gelingt ihm nicht nur bei den schrulligen Außenseitern, sondern auch bei literarischen Stereotypen wie dem wohlsituierten, jungen Mittelstandspaar Ann und Thomas.

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