Ich bin zu klein für große Literatur.

IMG_8630Die Frage „Was ist große Literatur?“ ist eine von den herrlichen Tischabend Fragen, die man beim Öffnen der dritten Flasche Rotwein und nach der herzlichen Erkundigung des Gastgebers, ob man noch einen Espresso mag, gerne aufwirft – vorausgesetzt man fühlt sich mit den Gästen am Tisch pudelwohl und man kann sich sorglos auf eine späte Nachtruhe einstellen.

Als ich jung war – ist schon einige Zeit her – stellte an einem verregnetem Sommerabend im Zelt ein Freund eine ebenso abendfüllende Frage die ich bis heute nicht vergessen habe: „Ist alle Dunkelheit Schatten?“. Und am nächsten Abend – die zweite Lambrusco-Flasche machte die Runde und ich musste meine erste Selbstgedrehte auch selbst rauchen – wurde die Runde mit der Frage eröffnet: „Wenn man das Böse aus der Welt schafft, gäbe es dann noch das Gute?“

Solche Abende hängen mir noch heute nach. Sie rühren mich, machen mich sentimental, denn es sind diese Fragen, die man sich sein Leben lang nicht gänzlich befriedigend beantworten kann und man es dennoch immer wieder sehr befriedigend findet, sie stundenlang zu erörtern. Denn dieses gemeinsame Umkreisen solcher Themen verbindet in diesem Moment all jene, die sie sich darauf gedanklich an den Händen fassen und zunehmend berauscht immer weiter um das Thema tanzen.

CircleAngeregt durch die ersten wunderbar geschriebenen Ausführungen zur Frage nach „großer Literatur“ von cafehaussitzer und literatourismus reihe ich mich jetzt einfach ungefragt ein und tanze ein wenig mit. Ich versuche mal, was beim Tanz ja erlaubt ist, die Richtung zu wechseln und frage, „Was ist denn keine große Literatur?“.

Denn Ausgang des Reigens war ja die Bemerkung, Eggers Roman „The circle“ sei keine große Literatur. Den Roman, den ich bislang nicht gelesen habe, kann man gut oder schlecht finden, doch macht ihn dieses subjektive Kriterium „gut“ nicht zu großer Literatur. Etwas als „große Literatur“ zu bezeichnen, ist ja weit mehr der Versuch, eine eigentlich immer subjektive Literaturpräferenz zum literarischen Kanon zu empfehlen.

Sagt also jemand, das grade Gelesene sei keine große Literatur, setzt er lapidar darauf, dass dieses Werk wohl keine langanhaltende Resonanz und wohl auch keine stilbildende Relevanz für die Epoche haben wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Recht behalten wird, liegt ganz nah bei 100%. Doch das Gegenteil in den Raum zu stellen ist fast immer provokant und ruft jede Menge Kanon-Hüter auf den Plan.

Das ausgesprochene Prädikat „Das ist große Literatur“ hat ja (leider) nicht den ironischen Unterton wie man ihn von „großes Kino“ oder „großes Theater“ kennt, sieht man mal von dem Bonmot Mark Twains zum Buchklassiker ab, der (wie buchpost in seinem ebenfalls sehr lesenswerten Blogartikel „Was ist ein Klassiker?“ zitiert) süffisant bemerkte:something that everyone wants to have read but no one wants to read.

Beckwith_Twain

Mark Twain entspannt uns, wenn es um große Literatur geht.

Vielleicht sollten wir uns Mark Twains Ironie zu Herzen nehmen und die Klassifizierung „große Literatur“ nicht nur Werken zugestehen, von denen wir im Nachhinein begeistert erzählen wie von den erhabenen Momenten einer Viertausender-Bergtour – wissend, dass die wenigstens Menschen die Lust und nötige Kondition aufbringen, sich ebenfalls einer solchen Tortur zu unterziehen. Gönnen wir doch auch Tom Sawyer, Huckleberry Finn, dem Räuber Hotzenplotz oder Jim Hawkins das Vergnügen Helden eines großen Werkes zu sein. Denn ihnen verdanke ich herrliche Vorleseabende mit meinem Sohn, die ihn immer „weiter, weiter“ rufen ließen.

Die persönliche Auszeichnung „Große Literatur“ darf sicher auch nicht beliebig sein. Denn – wie oben gesagt – erhebt ja jeder damit den Anspruch etwas zu empfehlen, von dem er sich wünschte, dass es viele Leser findet. Und die Verantwortung bei Literatur ist weitaus größer als bei Musik, Kunst, Theater oder Film, denn wir investieren – um es mal so trocken ökonomisch zu sagen – viel mehr Zeit in ein Buch. Ein tausend Seiten Wälzer, wie aktuell Donna Tartts „Der Distelfink“ anderen ans Herz zu legen, weil ich ihn großartig finde, ist schon sehr gewagt und sollte ebenso bedacht erfolgen wie die Tour Empfehlung eines Bergführers. Nur wer ausreichend Erfahrung und Kondition mitbringt, wird so eine Tour auch genießen können.

Für einige andere Klassiker der Weltliteratur bin auch ich nie fit genug gewesen. „Die Brüder Karamasow“ stehen noch ungelesen im Regal. Hingegen zählt „Schuld und Sühne“ für mich zu den besten Büchern, die ich je gelesen habe. Doch danach habe ich mich durch „Der Idiot“ gekämpft. Und da kam mir die Lust auf weitere Dostojewskis abhanden. „Ulysses“, „Die Buddenbrooks“ oder „Das Ende der Parabel“ habe ich nach einigen Anlaufversuchen heftig schnaufend wieder zurückgestellt. Dafür bin ich während meiner Studienzeit z. B. einen grandiosen Marathon gelaufen und habe in gut drei Monaten „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ bewältigt – mit anhaltender Begeisterung.

IMG_8636Es gibt auch „große Literatur“, die ich zwar „bestieg“, doch bei mir stellten sich partout keine erhabenen oder denkwürdigen Momente ein: Thomas Mann, Kafka, Grass, Handke, Walser, Updike, Hemingway, Márquez, Franzen nenne ich, um eine kleine Auswahl zu gestehen. Dabei zweifele ich keinen Moment an deren Größe, sondern gestehe mir ein, dass ich in diesen Fällen zu klein bin.

Um mir dennoch wieder Mut zu machen, wenn mich große Literatur nicht ergreift, erinnere ich mich an ein schönes apodiktisches Urteil von Oscar Wilde:

„Die alten Geschichtsschreiber hinterließen uns wundervolle Dichtungen in der Form von Tatsachen; der moderne Romanschriftsteller langweilt uns mit Tatsachen, die er als Dichtung ausgibt.“