Mehr Sittengemälde als Roman: James Salter „Alles, was ist“

hopper-nighthawksSelten habe ich mir mit der Einschätzung eines Romans so schwer getan, wie diesem. Mit großem Respekt bin ich an die Lektüre gegangen. Mit 88 Jahren noch mal so ein Buch zu schreiben, das beeindruckt und fordert Hochachtung. Doch als Leser so voreingenommen zu sein, verklärt sicher den Blick. Deshalb habe ich eine gute Woche Abstand genommen, bevor ich noch mal über „Alles, was ist“ resümierte.

Es findet sich ein Absatz nach gut dreiviertel des Romans, in dem James Salter die „herausragenden“ Lebensereignisse – mit Ausnahme der jugendlichen Kriegserfahrung – seiner Zentralfigur Philip Bowmann zusammenfasst:

IMG_4196„Er war sich nicht sicher, was sie und ihn betraf. Er war zu alt, um zu heiraten. Er wollte keinen späten, sentimentalen Kompromiss. Dafür hatte er zu viel erlebt. Er hatte einmal geheiratet, mit ganzem Herzen, und sich geirrt. Er hatte sich unfassbar in eine Frau in London verliebt, und es war irgendwie verblasst. Wie vom Schicksal getroffen hatte er eines Abends in der romantischsten Begegnung seines Lebens eine Frau kennengelernt und war hintergangen worden. Er glaubte an die Liebe – er hatte das immer getan –, aber jetzt war es wohl zu spät. Vielleicht konnten sie für immer so weitermachen, wie ein Leben in der Kunst. Anna, so nannte er sie, Anna, bitte komm. Setz dich neben mich.“

Wenn das alles ist, was ein langes Leben an Höhepunkten zu bieten hatte, wäre es wohl des Erzählens nicht wert. Oder doch? Irritierend ist, dass die Folgen von Ereignissen, die in anderen Romanen einen zentralen Wendepunkt markieren, bei James Salter nicht der Rede wert sind. Bestes Beispiel ist das erschütternde Schicksal eines Kollegen und Freundes, das in einer Nebenepisode zwar detailliert beschrieben wird, jedoch im Nachhinein keine Relevanz im Leben des Freundes erlangt: der Tod dessen Frau und 10jährigen Sohnes bei einem Zugunglück.

Eigentlich ist nichts Bedeutendes der Rede im Roman wert – weder gesellschaftliche Ereignisse noch Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen. Einzige Ausnahme bilden die oben zitierten Frauen im Leben Bowmanns. Doch auch hier bleiben deren Charaktere interpretationsbedürftig. Hingegen werden die sexuellen Erfahrungen sehr plastisch und dezidiert erinnert. Die erotischen Momentaufnahmen und die Eindrücke des Krieges sind offenbar in Bowmanns Leben die prägenden gewesen. Ist das alles, was ist?

Letztlich versöhnte mich eine Analogie mit meiner mir bislang nicht zu erklärenden Faszination des Buches: es ist weit mehr ein Sittengemälde als eine Erzählung. Der Roman wirkt letztlich auf mich wie einige Bilder von Edward Hopper. Dessen Motive sind vordergründig ja schlicht, eindeutig und für viele sehr dekorativ. Doch versetzt man sich in die Szenen, so ist es ernüchternd, teils bitter zu erkennen, was am Ende – eines Tages, einer Begegnung, einer Beziehung oder eines Lebens – übrig bleibt: jeder Mensch kehrt letztlich in sich zurück und zieht einsam Bilanz. Was unterm Strich dabei für ihn rauskommt, kann nur er individuell Wert schätzen. Ebenso das Fazit nach der Lektüre des Romans.

Meine Gretchenfrage: „Wie hältst Du es mit dem eBook?“

eReader_buchIrgendwo habe ich vor kurzem gelesen, dass es nicht korrekt sei, wenn man sagt oder schreibt, man habe ein Buch gelesen. Das sei nämlich dann ebenso undeutlich wie zu sagen, man habe einen Vogel gegessen, oder – für Veganer – man habe eine Frucht verzehrt. Wenn man mitteile, dass man etwas gelesen hat, dann doch bitte konkret und nicht nur die Mediengattung bzw. den Medienträger. Ich habe also den Roman Y von X gelesen, das Sachbuch A von B, die Essaysammlung von Äh. Man kann sich da zwar rauswinden und sagen, dass es im Kontext doch verständlich würde, auch wenn man nur von Buch spricht, aber in meinem tiefen Inneren gebe ich zu, dass ich mich ruhig deutlicher ausdrücken sollte.

In diesem Sinne lese ich in Zukunft also keine Bücher mehr und damit habe ich zugleich die Antwort auf eine Gretchenfrage gefunden, über die ich beruflich und privat schon lange grüble: Wie hältst Du es mit dem eBook?

Peter_von_Cornelius_-_Faust_bietet_Gretchen_den_ArmUnter den bibliophilen Zeitgenossen ist ja schon lange und vehement die Glaubensdiskussion entfacht, ob eine (absehbare) Welt ohne gedruckte Bücher noch lebens- bzw. lesenswert sei. Den Fatalisten machte vor kurzem ein ehemaliger, englischer Buchhändler Hoffnung, indem er eBooks als Modeerscheinung abtat. Und der Nachlassverwalter von Arno Schmidt, Friedrich Forssman, gab vor kurzem der eBook-Hasser-Fraktion ein Gesicht. Brillant hielt er ein leidenschaftliches Plädoyer darüber, warum es Arno Schmidts Texte nicht als eBook gibt und geben wird. Ob dies wirklich im Sinne Arno Schmidts wäre vermag ich nicht zu beurteilen. Es wird wohl kaum zu einer breiteren Rezeption seiner Werke beitragen. Doch dem elitären Leserkreis an Arno Schmidt-Kennern wird dies nicht gänzlich unrecht sein.

image-4Gerne vermischt sich bei der Debatte das Sinnliche mit dem Geistigen. Ein gedrucktes Buch (ver)lockt uns optisch, akustisch, haptisch und auch olfaktorischen. Und unserem Auge ist es im Regal deutlich präsenter als ein akkustromabhängiges eBook auf einem eReader. Hierdurch wird meine stärkste Sentimentalität für das gedruckte Buch geweckt: meine, wenn auch bescheidene, Bibliothek repräsentiert prägende Phasen meines Lebens. Was manch Digital-Native despektierlich als Bildungsbürgertapete abtut, ist für mich eine Autobiografie. Wer lesen kann, für den bin ich in meiner Bibliothek ein offenes Buch. Nicht selten erinnere ich gar nicht mehr den Inhalt eines Buches, das ich vor einigen Jahren gelesen hatte, doch bei seinem Anblick empfinde ich noch sehr deutlich meine Stimmung(en) nach, in der ich es vor Jahren las oder in die es mich gar versetzte. Ob dies ein sehr schmucker eReader in einigen Jahren vergleichbar leisten kann, ist fraglich. Doch letztlich ist dies kein erschlagendes Argument für mich und auch kein entscheidendes Kriterium bei der Frage: „eBook oder Gedrucktes?“.

cd-SammlerIch habe mich bei allen anderen Medienträgern immer begeistert vom technischen Wandel mitnehmen lassen. Fotos, Filme, Musik sind jetzt zum Glück digitalisiert. Ab damit auf einen lokalen Speicher oder in die Cloud. Da sind sie gut aufgehoben und ich kann sie jederzeit und an jedem Ort der Welt abrufen. Dankbar habe ich mich aller Ton- und Videocassetten, Schallplatten und jetzt auch CDs entledigt. Herrlich sich am Abend einzig mit einem Smartphone und einem großen Monitor ausgestattet durch die Medienvielfalt zu touchen. Erst mal News, dann eine Sonate von Bach, dann eine verpasste Literatur-Sendung aus der Mediathek abrufen. Toll, den Buch-Tipp dort direkt von der Website der Redaktion verlinkt bestellen – one click.

Stopp. Jetzt wieder die Gretchenfrage: eBook oder Gedrucktes? Nicht selten lade ich mir dann erst einmal die eBook-Leseprobe. Die Entscheidung ist damit erst einmal aufgeschoben und dieser Weg hat mich in jüngerer Vergangenheit schon vor einigen unnützen Erwerbungen bewahrt. Ganz eigennützig mache ich dies heute auch beim Stöbern in der Buchhandlung. Titel, die mir gefallen, mich interessieren, werden fotografiert und bei ca. jedem zweiten wird die Leseprobe abgerufen sowie Rezensionen überflogen. Gekauft wird dann seltener in der Buchhandlung. Ja, ich weiß, ich säge am eigenen Ast, wenn ich in Zukunft weiterhin Bücher stöbern will. Doch ich pflanze auch gleich ein Bäumchen, von dem ich mir wünsche, dass es den morschen Baum beerben könnte.

BuchimLaden2An dieser Stelle muss ich jedoch auf meine sehr eigenwillige Wertschätzung von Buchhandlungen verweisen. Ich suche schon von Jugend an fast nie den Rat eines Buchhändlers. Eine Buchhandlung ist für mich in Neudeutsch schon immer ein „Showroom“. Sie bietet mir Inspiration, ist begehbare Best- & Longseller-Liste und für mich auch ein wohliger Konsumtempel. Andere Menschen empfinden das bei Schuhgeschäften, Baumärkten oder Apple-Shops. Und im vergangenen Jahrhundert viele meiner Freunde in Plattengeschäften.

SchallplattenladenSchallplattengeschäfte sind ja offenbar gerade wieder en vogue. Den Ladengründern wünsche ich viel Spaß in der Nische und dass ihre Investitionen noch vor Ende des Hypes wieder eingespielt sind. Vielleicht macht ja auch bald ein Foto Porst wieder auf. Ich jedoch habe und werde auch zukünftig keine Schallplattengeschäfte, Videotheken und Fotoläden vermissen. Doch Buchhandlungen? Ja, aber.

BuchespressobarBuchhandlungen könnten für mich weit mehr Cafés sein, an deren Wänden aktuelle Bücher vorgestellt werden und die digitale Ausgaben von Tageszeitungen sowie Zeitschriften auf Tablets zu Kaffee & Mehr zur Verfügung stellen. Bücher, die ich dort auch als eBooks erwerben kann und dafür bekäme ich dann einen Kaffee oder Tee gratis. Diese Buchcafés könnten Hotspots für diverse Literaturgenres sein. Eine Anlaufstelle, für alle, die sich zu den damit verbundenen Themen und den jeweiligen Schwerpunkten an Literaturen austauschen möchten. Und der bzw. die Buchcafé-Betreiber sind weit mehr Blogger, Szenekenner und Moderatoren. In Ansätzen gibt es so was ja hin und wieder, doch bis heute lies sich offenbar noch kein potentes Konsortium aus Coffeeshop-Kette, Buchhändler(kette) und Medienhaus überzeugen, so eine Idee mal über die Konzept- und Prototypphase hinauszuführen.

Cafe_BuchEs ist meines Erachtens müßig über die Zukunft des gedruckten Buches zu lamentieren. Wer an der gedruckten Form für die Zukunft festhalten möchte, muss sich in diesem Fall ein elitäres, snobistisches und konservatives Weltbild eingestehen. Gedruckte Bücher sind ästhetisch nur als Hardcover dem eBook vorzuziehen. Taschenbücher vermitteln eine deutlich geringere Wertschätzung ihres Inhaltes als ein eBook, das eben nicht zerfleddert, fleckig und achtlos in 3 Sterne Hotelbibliotheken zurückgelassen wird. Wer möchte, dass in Zukunft vielen der Zugang zu neuer Literatur auch finanziell möglich bleibt, der muss die elektronische Form fördern. Die festgebundene Erstauflage sei allen weiterhin gegönnt, die sich den Luxus leisten können oder wollen. Es wird ein zunehmendes Luxusgut werden, da sich alle Kosten, die mit dem gedruckten Buch verbunden sind, kontinuierlich erhöhen. Herstellung, Logistik und Transport, Ladenmieten, Personal steigen unaufhörlich und auch die individuellen Kosten des Bibliophilen (An- und Abfahrt, Mobiliar und Raum zuhause) gehen nach oben. Hingegen werden diese Kosten für eBooks kontinuierlich sinken.

Heute sind eBooks unverhältnismäßig teuer. In Deutschland auch noch mit den unsäglichen 19% Mwst. anstatt 7% belegt. Mit satten 12% diskriminiert der Finanzminister das eBook. Könnte amazon auf alle seine Bücher 10% Rabatt geben, wären sicher schon weit mehr Buchhändler existenzbedroht. Doch darüber hinaus muss ein eBook zukünftig noch um den Betrag günstiger sein, den ich erwarte, wenn ich ein gelesenes Hardcover-Buch weiterverkaufen würde. Ein durchschnittlicher Buchkäufer unterstellt wohl gedanklich einen Wertverlust von ca. 50%. Eine Erstauflage heute von ca. € 20,– wäre also als eBook schon mal mindestens € 10,– günstiger anzusetzen. Hinzu kommt der gelernte Vergleich mit dem Preisverfall anderer digitalisierter Medien. Im besten Fall gehe ich davon aus das man zukünftig für Neuerscheinungen eines Romans € 9.99 verlangen kann. Sobald dieses Preismodell – wie es amazon ja schon wollte und Apple es durch Absprachen mit den Verlagen verhinderte – sich etabliert haben wird, werden die Marktkräfte das gedruckte Buch in eine Nische drücken. Denn zwangsläufig werden die Preise für ein Buch nach 2 Jahren seines Erscheinens wohl halbiert, so dass jeder heute einen Roman, der 2012 erschienen wäre für € 4.99 erwerben könnte. Da würde auch eine Taschenbuch-Ausgabe nicht mehr wirtschaftlich sein. Über den Preis wird der Markt bestimmt. Und die große Mehrheit der Leser wird nicht bereit sein, eine sentimentale und sinnliche Bibliophilie zu subventionieren.

booktreeAch ja, warum bremst denn die Verlagswelt und der Handel diese Entwicklung, die letztlich nur verzögert, aber nicht aufgehalten werden kann? Ein wesentlicher, von mir vermuteter Aspekt, ist das verschenkte Buch. Es dürfte sicher knapp 25% des gesamten Buchmarktes ausmachen, angesichts der Tatsache, dass im Weihnachtsgeschäft ca. 25% des Jahresumsatzes gemacht wird. Rechnet man dann noch die ganzjährigen Buchgeschenke hinzu, könnten die 25% noch konservativ geschätzt sein. Ein eBook mag man nicht in der jetzigen Form schenken. Doch auch hier werden sich bald findige Verleger oder Vermarkter finden, die Gutscheine mit Buchattrappen verbinden oder aufwendige digitale Geschenkverpackungen entwickeln.

Und wenn nicht, dann nicht. Dann wird der Buchmarkt – wie die Kulturpessimisten schon ewig mahnen – sich in eine elitäre Nische schrumpfen und an seiner Stelle werden andere Medien treten. So schrecklich wäre dies meines Erachtens dann auch nicht. Der Vorrat an kaum gelesener Weltliteratur, die es dann fast umsonst gibt, ist unermesslich. Frei nach Karl Valentin: es ist alles schon geschrieben worden, nur noch nicht von allen. Die unglaublichen Mengen an jährlichen Neuerscheinungen hindern uns eh, viele Klassiker zu entdecken, die es weit mehr verdient hätten gelesen zu werden als Harry Potter, Shades of Grey, Sarrazin & Co sowie sämtliche Belletristik auf der Spiegel-Bestsellerliste.

PirincciNicht zuletzt erachte ich viele umwelt- und gesellschaftskritische Sachbuch-Autoren für bigott, gleich welcher politischen Couleur. Denn ihr vorgebliches Anliegen, eine breite Debatte über aufgedeckte Missstände anzuregen und nicht nur ein paar kopfnickende, „Sag-ich-auch-immer“ Buchleser zu bestätigen, müsste sie begeistert zu einem fast kostenlosen eBook Format drängen. Stattdessen soll ich für etliche Komplott-Enthüllungen € 19,99 und für das eBook € 15,99 zahlen. Da hebe ich in diesem Fall zumindest Hannes Jaenike & sein Verlag hervor, die nicht nur den Preis für das digitale Buch „Die große Volksverarsche“ auf € 7,99 beschränkten (Gebundenes € 17,99), sondern auch eine Online-Seite eingerichtet haben, wo das Anliegen weiter verfolgt wird. Nachtrag: Ist nicht mehr so.

Bei der Frage nach der Digitalisierung von Literatur muss man im deutschen Kulturraum noch auf eine neue und scheue Spezies Rücksicht nehmen: die Daten-Phobiker. Ihnen sollte man ihre Reservate belassen, in denen sie unbehelligt von Netzwelten und Big-Data-Strömen in naturbelassenen Bücheroasen ihre Leselust frei ausleben können. Ihre Ängste vor einer Einheitskultur im Allgemeinen und einer Einheitsliteratur im Besonderen sind mehr als berechtigt doch angesichts des globalen Kulturbetriebes – beginnend vor ca. 70 Jahren – heute obsolet. Kein ernsthafter Autor, der den Geist der Gegenwart literarisch bearbeiten möchte, kann sich dem globalen Mainstream – heute gebildet durch soziale Netzwerke und internationale Medienhäuser – entziehen.

Letztlich kann ich mich auf keine der beiden Seiten schlagen. Beim Anblick meiner Bücherwand weiß ich das gedruckte Buch sinnlich zu schätzen. Doch ich bin auch Realist und ein Verfechter der Weisheit „Das Bessere ist der Feind des Guten“. Nüchtern und unsentimental sprechen die Fakten deutlich für das eBook. In der kreativen Entwicklung dieses Formats und seiner Vertriebswege liegt die Hoffnung zum Erhalt der Relevanz von Literatur.

Und den Bibliophilen antworte ich auf meine eingangs gestellte Gretchenfrage frei nach Faust:

Lass, mein Bücherfreund! Du fühlst, ich bin dir gut;

Für meine geliebten Bücher ließ‘ ich Leib und Blut,

Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.

Wen wollten Sie hier für dumm verkaufen, Herr Gaarder?

Foto 2Der prosaische, deutsche Titel des Romans „Der Geschichtenverkäufer“ von Jostein Gaarder deutet an, wie wenig heldenhaft die Geschichte ist: die Lebensbeichte eines Verkäufers, eines Verkäufers von Geschichten. Sicher, es ist nicht mal eine sinngemäße Übersetzung des Titels ins Deutsche, doch offenbar fand ihn der Lektor oder wer sonst im Verlag recht treffend. Hieße der Titel „Der Geschichtenhändler“ oder „Der Geschichtenerfinder“, ich hätte eine andere Vorstellung des Helden konnotiert. Aber das hätte dann auch nicht dem entsprochen, was ich beim Lesen des Romans empfand. Für mich erzählt er weder sprachlich noch inhaltlich eine besonders ambitionierte Geschichte – doch liegt darin Kalkül?

Der Held Petter resümiert über sein menschlich doch recht armes Leben, das er nun knapp 50 Jahre in sehr selbstgefälliger Trunkenheit gelebt hat, da ihm das Schicksal – neben Empathie und schneller Auffassungsgabe – auch die Begabung zu großer Fantasie zuteilte. Dieses Talent baut er nicht aus, sondern es reicht ihm, um sich schon früh eine sehr auskömmliche berufliche Existenz aufzubauen, die darin besteht, einer wachsenden Zahl von Autoren seine Ideen, Plots und Synopsen zu verkaufen und auch an den Tantiemen der daraus nicht selten entstehenden Besteller zu partizipieren.

Diese doch recht hanebüchene Grundidee des Romans legitimiert der Held und damit wohl auch der Autor mit einem landläufigen Klischee, an dem sicher auch etwas Wahres ist:

„Schon damals – und seither immer mehr – habe ich es komisch gefunden, dass unsere Kultur Menschen en Masse hervorbringt, die schreiben können und wollen, aber nichts zu sagen haben. Warum wollen sie schreiben, wenn sie offen und ehrlich zugegeben, dass es nichts gibt, was sie vermitteln könnten?“

Doch im weiteren Verlauf der Geschichte, die uns einen recht unsympathischen, einzelgängerischen Snob als Helden präsentiert, wird das Klischee wieder etwas relativiert – bedingt durch den immensen Einfluss des Helden auf die aktuelle Literatur:

„Doch das Problem war nicht nur, dass zu viele schlechte Bücher geschrieben wurden; das Problem war auch, dass es zu viele gute Bücher gab. Wir gehören einer Sippe an, die mit Wörtern um sich wirft. Wir produzieren mehr Kultur, als wir verdauen können.“

Foto 1Allein stehend sind die beiden Zitate schlau und spiegeln ein reales Phänomen. Solche Sätze verführen sicher deshalb auch einige dazu, diesen Roman als Satire des aktuellen Literaturbetriebs zu lesen. Da kann ich nur einstimmen, wenn es die Doppelbödigkeit meint. Denn die Satire erkenne ich hier weit weniger in den Klischees von einfallslosen Autoren, sondern weit mehr in der hier verbreiteten Naivität, dass herausragende Literatur auf einer einzigartigen Idee und entsprechendem Plot fuße. Dieser Gedanke ist so albern wie die häufige Laienreaktion auf moderne Kunst: das hätte ich auch gekonnt. Die Kunst beginnt dort, wo der Held Petter aufhört: bei der ebenso originären wie mühsamen Arbeit, aus einer schnellen Skizze ein beachtliches Werk zu schaffen.

Im Roman ist die sehr junge Vaterschaft Petters eine sehr deutliche Metapher für seine bequeme und sich völlig selbstüberschätzende Vorstellung seines Beitrags zu den literarischen Werken, die auf seinen Ideen beruhen. Er befruchtet auf ausdrücklichem Wunsch seine 10 Jahre ältere Freundin Maria, wohl wissend, dass er auf die Entwicklung des Kindes nie Einfluss haben wird. Auf die Werke, die sich aus Petters „befruchtenden“ Ideen entwickeln, erhebt er jedoch den albernen Anspruch wie ein Erzeuger, der sein Kind erst im erwachsenen Alter kennenlernt und sich dann als stolzer Vater geriert.

Ich empfinde diesen Roman als literarischen Streich eines sehr cleveren Autors, der sich ab und an ins Fäustchen lachte als er Kritiken lesen durfte, die sich begeistert über seine gelungene Profanisierung des Literaturbetriebes freuten. Denn er selbst weiß sehr gut, dass Meisterwerke der Literatur nicht entstehen, weil dem Autor mal eine tolle Idee zugeflogen ist. Den deutlichsten Hinweis erbringt Jostein Gaarder in der doch ansonsten recht unverfrorenen Adaption des Plots von Max Frischs „Homo Faber“. Und für diesen von mir unterstellten „Geniestreich“ muss ich ihn loben. Doch ich mag mich irren.

Der Vater der Blogosphäre: Michael de Montaigne.

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Eines ist Sarah Bakewell mit „Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten“ wunderbar gelungen: uns Lesern den Menschen, Schriftsteller, Ab-und-an-Philosophen, Diplomat, Denker und Plauderer Michel de Montaigne überaus sympathisch zu machen. Seit Jahrhunderten dient dieser geistreiche und belesene Franzose aus dem 16. Jahrhundert gerne als Untermaurer unserer gesammelten Lebensweisheiten. Eine für Literaturfreunde passende und von manchen auch dankbar ehrlich übernommene:

„Lies viel, vergiss das meiste wieder, und sei schwer von Begriff!“

Foto 1-1Besonders beeindruckend ist, dass er schon zu seinen Lebzeiten hohe Anerkennung erfuhr. Und zwar nicht nur für seine politischen und diplomatischen Leistungen als Bürgermeister und politischer Berater in sehr unruhigen Zeiten, sondern auch für sein literarisches, progressives Werk, den „Essais“. Diese literarische Form, als deren Urheber Montaigne gilt, ist uns in heutigen Bloggerzeiten sehr sympathisch. Enthebt sie uns doch von lästiger Recherche und ermöglicht sie uns auf einem einzigen Gedanken fußend, unsere weiteren Überlegungen dazu schweifen zu lassen. Es sollte dem Essayisten jedoch letztlich gelingen, entweder klug oder zumindest recht belesen wirkend, diesen Gedanken originell und/oder erschöpfend zu behandeln. Montaigne gelang dies offenbar schon anerkannter Maßen in der Einschätzung seiner Zeitgenossen.

Interessant ist zudem – wie uns Sarah Bakewell wissen lässt – das Montaigne schon damals ein Anhänger von „Updates“ war. Seine Essais bearbeitete er immer weiter, schuf weitere Versionen, so dass man heute von den Essai-Versionen 1.0 bis 4.0 zu seinen Lebzeiten sprechen könnte und zudem sich die Versionen der Herausgeber, Übersetzer und Remixer in den folgenden Jahrhunderten dann als Versionen 3.1, 3.2 und ff. bezeichnen ließen.

Spannend ist auch, wer alles in den vergangenen Jahrhunderten Montaigne als seinen Geistesbruder entdeckte. Aber auch, wer sehr hart mit ihm ins Gericht ging. Von den begeisterten Montaigne Lesern fand Gustave Flaubert sehr schöne empfehlende Worte:

„Lesen Sie ihn nicht, wie die Kinder lesen, um sich zu vergnügen, noch wie die Ehrgeizigen lesen, um sich zu bilden. Nein, lesen Sie, um zu leben.“

Friedrich Nietzsche wurde gar enthusiastisch, wenn er von dem Franzosen sprach: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.“

Zu seinen ersten harten Richtern zählte Blaise Pascal und Nicolas Malebranche, wie Sarah Bakewell schilderte. Pascal wird dafür denn auch später von Voltaire gerügt, der Montaigne sehr schätzte. Viele weitere Geistesgrößen zählt Bakewell auf, die in die Begeisterung für Montaigne einstimmen.

Essais_Montaigne

An dieser Stelle bekenne ich, dass ich die Essais bis heute nicht gelesen habe. Michel de Montaigne war mir bis dato ebenso nur als gern zitierter, geistreicher Mann bekannt, über dessen Leben und Werk ich nur wenig Wikipedia wusste, jedoch zuvor schon wenigstens, dass wir ihm die literarische Gattung „Essay“ verdanken. Sarah Bakewells Idee, mir diesen Mann und seine Gedanken über 20 Antworten auf die Frage aller Lebensfragen nahezubringen, verlockte mich sofort. Und – soweit ich dies beurteilen kann, ohne die „Primärliteratur“ zu kennen – ist ihr hier ein Zugang gelungen, der allen im Leben Sinn und Antwort-Suchenden großes Vergnügen und ebenso tiefe Erkenntnis verschafft.

Die Kapitel sind oftmals mit recht schlichten Antworten auf die immer wieder gestellte Frage „Wie soll ich leben?“ überschrieben, wie z. B. „Lebe den Augenblick!“, „Finde das rechte Maß!“ oder „Schau dir die Welt an!“. Doch Bakewell behandelt das sich dahinter verbergende Credo zwanzigmal sehr gekonnt und tief schürfend und schafft es dabei sowohl die Biografie Montaignes als auch dessen Werkentstehung chronologisch zu erzählen. Dass dies durchweg gelingt, fand ich genial, insbesondere da ich zu keinem Zeitpunkt den Eindruck hatte, dass sie sich irgendwann zur Geisel ihrer Idee gemacht hätte.

Es kribbelt nun in den Fingern, einige Episoden und beeindruckende Beschreibungen von Sarah Bakewell nachzuerzählen. Beispielsweise von der ausschließlichen Erziehung in lateinischer Sprache in seinen ersten fünf Lebensjahren, die Montaigne auch im Nachhinein goutiert, obwohl seine Eltern die Sprache selbst nicht beherrschten. Oder über seinen Skeptizismus, der ihn lehrte, nichts wirklich ernst zu nehmen und dem Leben und den Menschen mit Gelassenheit entgegen zu treten oder seine eigenwillige Art, Italien zu bereisen, die weit weniger ein Entdeckungsreise von Kunst und Kultur war, sondern ein fasziniert sein von fremden Sitten und Gebräuchen. Doch weiteres würde den selbstgesteckten Rahmen hier sprengen.

Ich schließe meine Empfehlung lieber damit ab, mitzuteilen, dass nun die Essais auf meinem Tisch liegen und ich mich auf den hoffentlich bald kommenden Abend freue, wenn ich mich ihnen widmen werde.

Foto 3Ach, ja und ein P.S. an alle Buch– und Katzenliebhaber: Montaigne ist auch berühmt für den einfühlsamen tierischen Perspektivenwechsel mit seiner Katze, den wohl jeder Katzenhalter nachvollziehen kann:

„Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?“