Irgendwo habe ich vor kurzem gelesen, dass es nicht korrekt sei, wenn man sagt oder schreibt, man habe ein Buch gelesen. Das sei nämlich dann ebenso undeutlich wie zu sagen, man habe einen Vogel gegessen, oder – für Veganer – man habe eine Frucht verzehrt. Wenn man mitteile, dass man etwas gelesen hat, dann doch bitte konkret und nicht nur die Mediengattung bzw. den Medienträger. Ich habe also den Roman Y von X gelesen, das Sachbuch A von B, die Essaysammlung von Äh. Man kann sich da zwar rauswinden und sagen, dass es im Kontext doch verständlich würde, auch wenn man nur von Buch spricht, aber in meinem tiefen Inneren gebe ich zu, dass ich mich ruhig deutlicher ausdrücken sollte.
In diesem Sinne lese ich in Zukunft also keine Bücher mehr und damit habe ich zugleich die Antwort auf eine Gretchenfrage gefunden, über die ich beruflich und privat schon lange grüble: Wie hältst Du es mit dem eBook?
Unter den bibliophilen Zeitgenossen ist ja schon lange und vehement die Glaubensdiskussion entfacht, ob eine (absehbare) Welt ohne gedruckte Bücher noch lebens- bzw. lesenswert sei. Den Fatalisten machte vor kurzem ein ehemaliger, englischer Buchhändler Hoffnung, indem er eBooks als Modeerscheinung abtat. Und der Nachlassverwalter von Arno Schmidt, Friedrich Forssman, gab vor kurzem der eBook-Hasser-Fraktion ein Gesicht. Brillant hielt er ein leidenschaftliches Plädoyer darüber, warum es Arno Schmidts Texte nicht als eBook gibt und geben wird. Ob dies wirklich im Sinne Arno Schmidts wäre vermag ich nicht zu beurteilen. Es wird wohl kaum zu einer breiteren Rezeption seiner Werke beitragen. Doch dem elitären Leserkreis an Arno Schmidt-Kennern wird dies nicht gänzlich unrecht sein.
Gerne vermischt sich bei der Debatte das Sinnliche mit dem Geistigen. Ein gedrucktes Buch (ver)lockt uns optisch, akustisch, haptisch und auch olfaktorischen. Und unserem Auge ist es im Regal deutlich präsenter als ein akkustromabhängiges eBook auf einem eReader. Hierdurch wird meine stärkste Sentimentalität für das gedruckte Buch geweckt: meine, wenn auch bescheidene, Bibliothek repräsentiert prägende Phasen meines Lebens. Was manch Digital-Native despektierlich als Bildungsbürgertapete abtut, ist für mich eine Autobiografie. Wer lesen kann, für den bin ich in meiner Bibliothek ein offenes Buch. Nicht selten erinnere ich gar nicht mehr den Inhalt eines Buches, das ich vor einigen Jahren gelesen hatte, doch bei seinem Anblick empfinde ich noch sehr deutlich meine Stimmung(en) nach, in der ich es vor Jahren las oder in die es mich gar versetzte. Ob dies ein sehr schmucker eReader in einigen Jahren vergleichbar leisten kann, ist fraglich. Doch letztlich ist dies kein erschlagendes Argument für mich und auch kein entscheidendes Kriterium bei der Frage: „eBook oder Gedrucktes?“.
Ich habe mich bei allen anderen Medienträgern immer begeistert vom technischen Wandel mitnehmen lassen. Fotos, Filme, Musik sind jetzt zum Glück digitalisiert. Ab damit auf einen lokalen Speicher oder in die Cloud. Da sind sie gut aufgehoben und ich kann sie jederzeit und an jedem Ort der Welt abrufen. Dankbar habe ich mich aller Ton- und Videocassetten, Schallplatten und jetzt auch CDs entledigt. Herrlich sich am Abend einzig mit einem Smartphone und einem großen Monitor ausgestattet durch die Medienvielfalt zu touchen. Erst mal News, dann eine Sonate von Bach, dann eine verpasste Literatur-Sendung aus der Mediathek abrufen. Toll, den Buch-Tipp dort direkt von der Website der Redaktion verlinkt bestellen – one click.
Stopp. Jetzt wieder die Gretchenfrage: eBook oder Gedrucktes? Nicht selten lade ich mir dann erst einmal die eBook-Leseprobe. Die Entscheidung ist damit erst einmal aufgeschoben und dieser Weg hat mich in jüngerer Vergangenheit schon vor einigen unnützen Erwerbungen bewahrt. Ganz eigennützig mache ich dies heute auch beim Stöbern in der Buchhandlung. Titel, die mir gefallen, mich interessieren, werden fotografiert und bei ca. jedem zweiten wird die Leseprobe abgerufen sowie Rezensionen überflogen. Gekauft wird dann seltener in der Buchhandlung. Ja, ich weiß, ich säge am eigenen Ast, wenn ich in Zukunft weiterhin Bücher stöbern will. Doch ich pflanze auch gleich ein Bäumchen, von dem ich mir wünsche, dass es den morschen Baum beerben könnte.
An dieser Stelle muss ich jedoch auf meine sehr eigenwillige Wertschätzung von Buchhandlungen verweisen. Ich suche schon von Jugend an fast nie den Rat eines Buchhändlers. Eine Buchhandlung ist für mich in Neudeutsch schon immer ein „Showroom“. Sie bietet mir Inspiration, ist begehbare Best- & Longseller-Liste und für mich auch ein wohliger Konsumtempel. Andere Menschen empfinden das bei Schuhgeschäften, Baumärkten oder Apple-Shops. Und im vergangenen Jahrhundert viele meiner Freunde in Plattengeschäften.
Schallplattengeschäfte sind ja offenbar gerade wieder en vogue. Den Ladengründern wünsche ich viel Spaß in der Nische und dass ihre Investitionen noch vor Ende des Hypes wieder eingespielt sind. Vielleicht macht ja auch bald ein Foto Porst wieder auf. Ich jedoch habe und werde auch zukünftig keine Schallplattengeschäfte, Videotheken und Fotoläden vermissen. Doch Buchhandlungen? Ja, aber.
Buchhandlungen könnten für mich weit mehr Cafés sein, an deren Wänden aktuelle Bücher vorgestellt werden und die digitale Ausgaben von Tageszeitungen sowie Zeitschriften auf Tablets zu Kaffee & Mehr zur Verfügung stellen. Bücher, die ich dort auch als eBooks erwerben kann und dafür bekäme ich dann einen Kaffee oder Tee gratis. Diese Buchcafés könnten Hotspots für diverse Literaturgenres sein. Eine Anlaufstelle, für alle, die sich zu den damit verbundenen Themen und den jeweiligen Schwerpunkten an Literaturen austauschen möchten. Und der bzw. die Buchcafé-Betreiber sind weit mehr Blogger, Szenekenner und Moderatoren. In Ansätzen gibt es so was ja hin und wieder, doch bis heute lies sich offenbar noch kein potentes Konsortium aus Coffeeshop-Kette, Buchhändler(kette) und Medienhaus überzeugen, so eine Idee mal über die Konzept- und Prototypphase hinauszuführen.
Es ist meines Erachtens müßig über die Zukunft des gedruckten Buches zu lamentieren. Wer an der gedruckten Form für die Zukunft festhalten möchte, muss sich in diesem Fall ein elitäres, snobistisches und konservatives Weltbild eingestehen. Gedruckte Bücher sind ästhetisch nur als Hardcover dem eBook vorzuziehen. Taschenbücher vermitteln eine deutlich geringere Wertschätzung ihres Inhaltes als ein eBook, das eben nicht zerfleddert, fleckig und achtlos in 3 Sterne Hotelbibliotheken zurückgelassen wird. Wer möchte, dass in Zukunft vielen der Zugang zu neuer Literatur auch finanziell möglich bleibt, der muss die elektronische Form fördern. Die festgebundene Erstauflage sei allen weiterhin gegönnt, die sich den Luxus leisten können oder wollen. Es wird ein zunehmendes Luxusgut werden, da sich alle Kosten, die mit dem gedruckten Buch verbunden sind, kontinuierlich erhöhen. Herstellung, Logistik und Transport, Ladenmieten, Personal steigen unaufhörlich und auch die individuellen Kosten des Bibliophilen (An- und Abfahrt, Mobiliar und Raum zuhause) gehen nach oben. Hingegen werden diese Kosten für eBooks kontinuierlich sinken.
Heute sind eBooks unverhältnismäßig teuer. In Deutschland auch noch mit den unsäglichen 19% Mwst. anstatt 7% belegt. Mit satten 12% diskriminiert der Finanzminister das eBook. Könnte amazon auf alle seine Bücher 10% Rabatt geben, wären sicher schon weit mehr Buchhändler existenzbedroht. Doch darüber hinaus muss ein eBook zukünftig noch um den Betrag günstiger sein, den ich erwarte, wenn ich ein gelesenes Hardcover-Buch weiterverkaufen würde. Ein durchschnittlicher Buchkäufer unterstellt wohl gedanklich einen Wertverlust von ca. 50%. Eine Erstauflage heute von ca. € 20,– wäre also als eBook schon mal mindestens € 10,– günstiger anzusetzen. Hinzu kommt der gelernte Vergleich mit dem Preisverfall anderer digitalisierter Medien. Im besten Fall gehe ich davon aus das man zukünftig für Neuerscheinungen eines Romans € 9.99 verlangen kann. Sobald dieses Preismodell – wie es amazon ja schon wollte und Apple es durch Absprachen mit den Verlagen verhinderte – sich etabliert haben wird, werden die Marktkräfte das gedruckte Buch in eine Nische drücken. Denn zwangsläufig werden die Preise für ein Buch nach 2 Jahren seines Erscheinens wohl halbiert, so dass jeder heute einen Roman, der 2012 erschienen wäre für € 4.99 erwerben könnte. Da würde auch eine Taschenbuch-Ausgabe nicht mehr wirtschaftlich sein. Über den Preis wird der Markt bestimmt. Und die große Mehrheit der Leser wird nicht bereit sein, eine sentimentale und sinnliche Bibliophilie zu subventionieren.
Ach ja, warum bremst denn die Verlagswelt und der Handel diese Entwicklung, die letztlich nur verzögert, aber nicht aufgehalten werden kann? Ein wesentlicher, von mir vermuteter Aspekt, ist das verschenkte Buch. Es dürfte sicher knapp 25% des gesamten Buchmarktes ausmachen, angesichts der Tatsache, dass im Weihnachtsgeschäft ca. 25% des Jahresumsatzes gemacht wird. Rechnet man dann noch die ganzjährigen Buchgeschenke hinzu, könnten die 25% noch konservativ geschätzt sein. Ein eBook mag man nicht in der jetzigen Form schenken. Doch auch hier werden sich bald findige Verleger oder Vermarkter finden, die Gutscheine mit Buchattrappen verbinden oder aufwendige digitale Geschenkverpackungen entwickeln.
Und wenn nicht, dann nicht. Dann wird der Buchmarkt – wie die Kulturpessimisten schon ewig mahnen – sich in eine elitäre Nische schrumpfen und an seiner Stelle werden andere Medien treten. So schrecklich wäre dies meines Erachtens dann auch nicht. Der Vorrat an kaum gelesener Weltliteratur, die es dann fast umsonst gibt, ist unermesslich. Frei nach Karl Valentin: es ist alles schon geschrieben worden, nur noch nicht von allen. Die unglaublichen Mengen an jährlichen Neuerscheinungen hindern uns eh, viele Klassiker zu entdecken, die es weit mehr verdient hätten gelesen zu werden als Harry Potter, Shades of Grey, Sarrazin & Co sowie sämtliche Belletristik auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Nicht zuletzt erachte ich viele umwelt- und gesellschaftskritische Sachbuch-Autoren für bigott, gleich welcher politischen Couleur. Denn ihr vorgebliches Anliegen, eine breite Debatte über aufgedeckte Missstände anzuregen und nicht nur ein paar kopfnickende, „Sag-ich-auch-immer“ Buchleser zu bestätigen, müsste sie begeistert zu einem fast kostenlosen eBook Format drängen. Stattdessen soll ich für etliche Komplott-Enthüllungen € 19,99 und für das eBook € 15,99 zahlen. Da hebe ich in diesem Fall zumindest Hannes Jaenike & sein Verlag hervor, die nicht nur den Preis für das digitale Buch „Die große Volksverarsche“ auf € 7,99 beschränkten (Gebundenes € 17,99), sondern auch eine Online-Seite eingerichtet haben, wo das Anliegen weiter verfolgt wird. Nachtrag: Ist nicht mehr so.
Bei der Frage nach der Digitalisierung von Literatur muss man im deutschen Kulturraum noch auf eine neue und scheue Spezies Rücksicht nehmen: die Daten-Phobiker. Ihnen sollte man ihre Reservate belassen, in denen sie unbehelligt von Netzwelten und Big-Data-Strömen in naturbelassenen Bücheroasen ihre Leselust frei ausleben können. Ihre Ängste vor einer Einheitskultur im Allgemeinen und einer Einheitsliteratur im Besonderen sind mehr als berechtigt doch angesichts des globalen Kulturbetriebes – beginnend vor ca. 70 Jahren – heute obsolet. Kein ernsthafter Autor, der den Geist der Gegenwart literarisch bearbeiten möchte, kann sich dem globalen Mainstream – heute gebildet durch soziale Netzwerke und internationale Medienhäuser – entziehen.
Letztlich kann ich mich auf keine der beiden Seiten schlagen. Beim Anblick meiner Bücherwand weiß ich das gedruckte Buch sinnlich zu schätzen. Doch ich bin auch Realist und ein Verfechter der Weisheit „Das Bessere ist der Feind des Guten“. Nüchtern und unsentimental sprechen die Fakten deutlich für das eBook. In der kreativen Entwicklung dieses Formats und seiner Vertriebswege liegt die Hoffnung zum Erhalt der Relevanz von Literatur.
Und den Bibliophilen antworte ich auf meine eingangs gestellte Gretchenfrage frei nach Faust:
Lass, mein Bücherfreund! Du fühlst, ich bin dir gut;
Für meine geliebten Bücher ließ‘ ich Leib und Blut,
Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.