Fünf Sterne für ein Arschgeweih

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Bücher zu besprechen resultiert nicht selten aus der Intention, sich nicht mehr nur zu fragen, was einem gefällt, sondern warum einem ein Buch gefällt. Und dieses „warum“ zu erfassen, es kritisch zu hinterfragen und die Essenz dann auch noch in adäquate Worte zu packen, ist ein anspruchsvolles Unterfangen. An der Mühe und Anstrengung, die wir dafür aufwenden, lässt sich die Ernsthaftigkeit bemessen, mit der wir ein plausibles Urteil finden wollen.

Geschmacksdebatten entzünden sich vordergründig zwar gerne an den Urteilen, doch eigentlich kritisieren wir die unterstellte fehlende Mühe, sich mit dem Gegenstand der Kritik zu beschäftigen. Umso intensiver wir uns einem Gegenstand widmen, desto weniger tolerieren wir unbegründete Geschmacksurteile von anderen. Besonders, wenn es sich um ästhetisch so „komplexe“ Dinge wie Literatur, Musik, Kunst, Architektur und ähnliches handelt, lehnt der Kulturbeflissene jegliches Bewertungssystem ab, das nur simple binäre (Daumen hoch, Daumen runter) oder auch etwas graduellere (5 Sterne) Geschmacksurteile anbietet.

Doch im Leben wird die Mehrzahl tagtäglicher Geschmackurteile überwiegenden von unserem „adaptivem Unterbewussten“ binär getroffen: gefällt oder gefällt nicht. Woher dieses Unterbewusste seine „Kompetenz“ bezieht, ist eine der Kernfragen, denen der US-Journalist und Buchautor Tom Vanderbilt nachgegangen ist. Er hat zahlreiche Antworten erhalten und diese in seinem Buch „Geschmack – Warum wir mögen was wir mögen“ im Stil einer Reportage ebenso amüsant wie interessant vorgestellt.

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Das Buch hat das Zeug dazu, für den „Geschmack“ das zu sein, was für das „Denken“ Kahnemanns „Langsames Denken, schnelles Denken“ ist. Sicher, es ist nicht populärwissenschaftlich, da Tom Vanderbilt keine ausgewiesener Experte ist, doch es bietet mit seinen umfangreichen Recherchen und gesammelten Aussagen von führenden Forschern, Soziologen und Philosophen sowie seinen zahlreichen Anmerkungen in einem fast hundertseitigem Anhang jede Menge Futter zum Einstieg in das Thema.

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Die Zukunft des Buchhandels: bei Osiander in die Lehre gehen.

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Bildquelle: ink eats man

Wer meinen Beitrag „Umdenken muss der stationäre Handel – nicht der Kunde von Amazon“ gelesen hat, wird sich jetzt vielleicht etwas wundern. Dort bin ich nämlich mit Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, und einer von drei Geschäftsführern der Buchhandelskette „Osiander“  hart ins Gericht gegangen. Seine unterschwellige Botschaft an den Buchhandel war mir zu rückgewandt. Sie repräsentiert für mich eine antiquierte, ritterliche Haltung, die im Markt nur verlieren kann, da sie einzig mit einem Feindbild argumentiert: Wir sind die Guten und die Online-Händler die Bösen. Und das würden die Kunden mehr und mehr auch merken.

Vor kurzem bin ich dann auf ein Interview mit seinem Neffen Christian Riethmüller aufmerksam geworden. Er ist in dem traditionsreichen Familienbetrieb ebenfalls Geschäftsführer. Seine ausführlichen Antworten auf die Fragen zu den Herausforderungen des zukünftigen Buchhandels vermitteln mir eine fast diametrale Haltung. Das Interview dokumentiert mir aber auch, dass man immer den Kontext erweitern muss, um einzelne Aspekte besser  bewerten zu können. Das ausführliche und kritische Gespräch führte Alexander Graf (Kassenzone) mit ihm.

Jedem, der im stationären Buchhandel seine Zukunft sieht, kann ich nur empfehlen, sich diese knapp 24 Minuten anzuschauen.

Danke, so muss man meines Erachtens im Buchhandel denken. Dann klappt´s auch mit der Zukunft.

Hier gleich der Link zur sehr gut bewerteten App von Osiander.

Ich habe einen Traum.

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Quelle 123RF

Seit Monaten weiden sich die öffentlich-rechtlichen Medien darin, das Dahinsiechen des Handels und der heimischen Old-Ökonomie aufgrund grassierender Amazon & Co. Epidemie regelmäßig zu dokumentieren. Mit unzähligen Reportagen über ausbeuterische Arbeitsbedingungen der Neuen, unmoralische Steuertricks und unlautere Geiselnahmen deutscher Verlage und Autoren ringt man dem Publikum zwar jede Menge Empörung ab, jedoch sonst eben nix.

Ein mehr oder weniger smarter Oliver Samwer (Zalando & Co. Investor) und seine Start-Ups werden mehrfach vor dem anstehenden Börsengang portraitiert. Zwar immer mit dem typischen moralinsauren Unterton eines öffentlich-rechtlich abgesicherten Journalisten, jedoch doch für alle auch fatalistisch spürbar, dass dies wohl die Unternehmertypen der Zukunft seien.

Was ich jedoch nicht sehe sind Menschen, wie Ocelot-Gründer Frithjof Klepp oder Mutterland-Gründer Jan Schawe oder Sara Wolf, Gründerin von Original unverpackt oder Chalwa Heigl, Gründerin der Gugl Manufaktur, die mir spontan einfallen, wenn ich mir eine Handelswelt von Morgen vorstelle. Sicher könnten wir gemeinsam diese Liste noch um zig weitere mutige Geschäftsgründer erweitern, die sich mit Leidenschaft dem Handel der Zukunft widmen. Doch egal wie lang die wird, Portraits in den öffentlich-rechtlichen Hauptsendern werden nie von ihnen auftauchen.

Was ich mir aber zum hundertsten Mal anschauen soll und nicht mehr mache, sind Talkshows, in denen immer die gleichen Hornbläser sitzen, die uns vor der globalen Macht weniger Konzerne, der schrecklichen Monopolisierung, den Datenkraken und einer finanzkapitalistischen Feudalherrschaft warnen.

Ich habe einen Traum.

Ich sehne mich nach Sendungen zur besten Sendezeit in ARD und ZDF in der Qualität des literarischen Quartetts zurück. Oder wenigsten eine auf einem Level von Elke Heidenreich, deren Welt verbesserndes Pathos mich zwar manchmal nervte, doch wenigsten kam da echte Begeisterung ins Haus. Begeisterung für Literatur. Und diese Sendungen werden nicht im Studio, Wüsten oder Foyers aufgezeichnet, sondern in attraktiven Buchhandlungen, neuen Ladenkonzepten oder faszinierenden Handwerksbetrieben.

Ich träumte davon, dass Denis Scheck nicht mehr nach Kalifornien, New York oder Australien reist, sondern das ganze Jahr durch Deutschland tourt und in jeder Sendung eine Buchhandlung vorstellt. In der trifft er mit Autoren und Buchhändlern zusammen und vielleicht auch dem einem oder anderen Feuilletonisten oder Blogger und gemeinsam hecheln Sie uns nicht die Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste durch, sondern empfehlen uns jeweils 5 Bücher, die sie aktuell begeistert haben.

Ich habe einen Traum.

Ich stellte mir vor, wie das blaue Sofa des ZDF wöchentlich durch Deutschland tourt, Autoren besucht und mit ihnen in ihre Lieblingsbuchhandlung marschiert. Dort plaudern sie über das neue Buch, das Lesen an sich und am Ende greifen sie einfach ein paar ausgewählte Bücher aus den Regalen und empfehlen Sie.

Ich habe einen Traum.

Thea Dorn geht gemeinsam mit Sybille Berg in verschiedenen Buchhandlungen einer Stadt shoppen. Jedes mal darf eine für die andere ein Buch kaufen. Mal lässt man sich was vom Händler empfehlen, mal sucht man selbst etwas aus. Und am Ende plaudert man noch, was man gut und was man nicht so dolle in den Buchhandlungen fand.

Ich habe einen Traum.

Da gab es Sendungen über Deutschlands beste Entrepreneure, da gab es Übertragungen von der Verleihung der Verlagspreise für die mutigsten Veröffentlichungen, da gab es Effies für die besten Popup-Stores, da gab es die goldene Thalia für die besten Theaterbühnen und da gab es Talkshows, in denen Menschen begeistert davon berichteten, wie aus einer Idee ein Lebenswerk wurde.

Die Realität sieht im Moment für mich anders aus. Begeisterung für Kulturelles muss ich mir bei den privaten TV-Sendern abholen. Die machen Casting-Shows für Musik, Entertainment, Tanz, Kochen etc. Das ist zwar nicht unbedingt die Kunst, die ich persönlich schätze, doch zweifellos berührt es mich, wenn tausende jungen Menschen ihren Mut zusammennehmen, um ihren Traum vom Entertainer wahr werden oder platzen zu lassen.

Die Privaten TV-Sender haben deutlich mehr verstanden, dass wenn man was bewegen will, es darum geht, den Menschen Enthusiasmus, Mut und Begeisterung ins Haus zu senden. Das Scheitern ist da auch inklusive, doch am Ende haben alle dazu gelernt und freuen sich auf die nächste Show.

Aber bei den öffentlich-rechtlichen träume ich wohl besser weiter.

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Umdenken muss der stationäre Handel – nicht der Kunde von Amazon.

Quelle: 123rfVor wenigen Tagen dachte ich noch, der stationäre Handel besinnt sich allmählich. Nach dem die Empörungswelle über Amazon wirkungslos abgeebbt ist, Autoren und hoffentlich auch Journalisten allmählich verstehen, dass Mitleid kein gutes Marketing ist, und am Beispiel Leistungsschutzrecht sichtbar wurde, dass sich das digitale Rad nicht mehr zurückdrehen lässt, sollte auch dem letzten edlen Ritter des stationären Handels klar geworden sein, dass er seine Rüstung ablegen muss, wenn er in Zukunft überleben will.

Doch nein, da kommt wieder ein edler Ritter um die Ecke, der die gute alte Zeit und ihre Tugenden beschwört: Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. In einem Kommentar im NDR beteuert er zum einen, man habe sich im Buchhandel nun auch wettbewerbsfähig digital aufgestellt und überhaupt sei ein Umdenken möglich:

„Ein Nach- und Umdenken ist möglich. 2013 war die Entwicklung im stationären Buchhandel erstmals besser als im Online Handel. Dieser Trend hält in diesem Jahr an. Und viele Buchhändler berichten uns über Kunden, die im Gespräch wörtlich sagen: „Früher habe ich bei Amazon gekauft.“

Das ist für mich nicht nur Pfeifen im Walde (siehe auch Kommentare beim Börsenblatt), mit dem sich seit Jahren auch schon die Printmedienbranche selbst belügt, sondern das Ganze hat noch einen dicken Haken: Umdenken muss nach Auffassung von Herrn Riethmüller nicht der Handel, sondern der Kunde von Amazon. Der Handel habe ja das Alleinstellungsmerkmal Beratung.

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Ritter der Tafelrunde

Geehrter Herr Riethmüller und alle anderen Ritter der Bücherrunde, ich liebe ihre Branche, ich liebe Literatur und ich bin bereit dafür mit aller Leidenschaft zu kämpfen. Doch bitte nicht mit Ihrem Rüstzeug. Werfen Sie endlich den vergangenen Ballast ab, seien Sie geistig beweglich und lassen Sie sich von Leuten die Langbogen der neuen Welt zeigen und veranschaulichen wie heute Märkte erobert und verteidigt werden. (Nachtrag: Das es schon mit einer anderen Haltung deutlich überzeugender wird zeigt Sophie Weigand auf Literaturen.)

Und bitte, bitte keine Appelle des Umdenkens an die Kunden. Solche Appelle sind nicht nur der Anfang vom Ende eines Geschäftsmodells, sie beschleunigen das Fanal. Blicken Sie zurück auf den Markt der Gastronomie, denken Sie an all die vielen Einzel- und Fachhändler der vergangenen Jahrzehnte oder lassen sie die Veränderungen in der Kulturbranche Revue passieren. Nennen Sie mir irgendein Beispiel auf dem Markt, wo ein Appell zur Arterhaltung eines Geschäftsmodells bei den Konsumenten Wirkung gezeigt hätte.

Die Kunden denken nicht daran in Ihrem Sinne umzudenken, also verklärt oder gar reumütig zurück zu schauen. Umgedacht haben nämlich die Kunden schon lange vor Ihnen. Deshalb kaufen sie bei Amazon & Co. Sie haben den anfänglich komplexen, unsicheren Weg ins Neuland und den Onlinehandel gewagt, haben Anmeldehürden und umfangreiche Datenabfragen auf sich genommen, mal was neues gewagt, es ausprobiert und am Ende etwas erhalten, was sie sehr überzeugt hat. Diese Kunden haben also all das gemacht, was Sie und viele im Handel bis heute gar nicht oder nur widerwillig machen. Und die Kunden sind dafür von Amazon & Co. reichlich belohnt worden. Und dann gibt es auch noch Kunden, die gute 9 Gründe nennen, warum sie der Handel, so wie er ist, einfach nicht überzeugt.

Gerne zähle ich Ihnen bei Gelegenheit alle Punkte auf, was ein Kunde von Amazon alles so schätzt und er vom Handel weder bekommen kann noch je von ihm erwarten würde. Hier nenne ich erst mal nur drei:

  1. Amazon hat nicht nur das unbestritten umfangreichste Sortiment und exzellente Prozesse, es hat auch in Deutschland Millionen Kunden, die ihre Meinung zu den Produkten ausführlich hinterlassen. Kein Buchhändler kann derart beraten, wie es 20 Kundenrezensionen können.
  2. Die wenigsten Menschen laufen tagtäglich an einer Buchhandlung vorbei. Sie müssen sich schon auf den langen Weg dorthin machen. Und nur eine Minderheit geht gerne in eine kleine, persönliche Buchhandlung. Die meisten haben nämlich Schwellenangst, so wie vielleicht Sie, wenn Sie einen Apple-Store betreten. Da kauft es sich bei Amazon doch deutlich ungehemmter.
  3. Amazon kennt uns Kunden. Man begrüßt uns mit Namen, man empfiehlt uns was ganz persönliches, wenn wir vorbeischauen. Amazon schreibt uns, wenn es ein interessantes Angebot gibt, zeigt uns, dass es die Klassikerausgabe auch umsonst als eBook gibt und bietet uns darüber hinaus noch jede Menge andere Waren und beeindruckende Services an.

Auch die Solidaritätsbekundung einer lieb meinenden, engagierten, aber winzig kleinen Kundenklientel hilft dem Handel nicht. Sie verschlimmert nur den Eindruck von einer Not leidenden Branche und beschleunigt die gnadenlose Abkehr der Mehrheit der Konsumenten im Markt, die nun mal nicht auf Verlierer setzt. Und machen Sie sich deutlich, dass Amazon in den vergangenen Jahren ein großen Teil Kunden zum Buch oder zur Literatur erst wieder gebracht hat, die der stationäre Handel gar nie erreichte. Es sind nicht alles Abtrünnige, die heute bei Amazon kaufen.

faust-und-mephisto-c625c5db-c787-4a15-90d2-2f77e0b2ee89Ebenso fatal ist ein Marketing mit Feindbildern. Solch antagonistisches Marketing – wir sind die Guten und die da die Bösen – funktioniert ebenfalls nur kurzeitig, um dann später den Abstieg der eigenen Branche oder Marke zu beschleunigen. Uwe Wittstock habe ich versucht, diese Erfahrung über Twitter zu vermitteln. Doch die 140 Zeichen ließen das nicht überzeugend zu. Vielleicht gelingt es mir hier.

Amazon als unmoralisch sowie brutal kapitalistisch zu verteufeln und mit Lanze und dem Schlachtruf „Monopolist“ aufs Pferd schwingend in die Schlacht zu ziehen ist Donquichotterie auf dem Markt. Denn im Markt sind Ethik und Moral keine Tugenden, sondern bestenfalls Marketingstrategien.

Dass Amazon Steuerschlupflöcher nutzt, kann ich nicht dem Unternehmen sondern muss ich dem Gesetzgeber anlasten. Erinnert sich noch jemand an die angenehme Zeit als man seinen Buchhändler bitten konnte, für die erworbenen Romane eine Fachbuchquittung zu bekommen? Tja, das ist ein Steuerschlupfloch, das gestopft wurde und heute ein echter USP für den Handel wäre.

Auch die regelmäßigen Berichte über die fragwürdigen Arbeitsbedingungen bei Amazon ändern nichts an der prekären Situation im Handel. Denn der Handel hat einen offenkundigen Personal- und Gemeinkostennachteil, den selbst eine fair empfundene Entlohnung bei Amazon & Co. nicht ausgleichen würde. Der Kunde zahlt im stationären Handel teure, stetig steigende Mieten und ineffiziente Personalanwesenheit, die beim Onlineanbieter immer deutlich geringer ausfallen.

Und zuletzt ist der Vorwurf der Monopolisierung nicht moralisch haltbar. Denn die Monopole im Netz entstehen primär durch eine mehrheitliche Abstimmung des Kunden. Daraus entwickelt sich dann zunehmend eine der physikalischen Kraft vergleichbare Gravitation im Online-Universum. Wer die höchste Anziehungskraft hat und die größte Masse entwickelt zieht irgendwann alles an sich. Es gibt weder für Produktanbieter noch für Kunden einen erkennbaren Mehrwert, auf mehren Plattformen Angebote zu platzieren bzw. zu suchen. Dies macht man nur solange, bis man das Gefühl hat, ausreichend Marktteilnehmer zu erreichen bzw. ausreichend Markttransparenz zu haben. Deshalb ist das Bestreben zur Monopolisierung allen Märkten inhärent.

Derzeit ist das Netz die globalste Form eines Marktplatzes. Auf diesem Platz werden sich aufgrund der beschriebenen Dynamik weltweit Monopole für abgegrenzte Leistungen bilden. Das haben die Gründer und Investoren von vielen Start Ups verstanden, doch offenbar nur sehr wenige, die mit dem ritterlichen Status Quo weiterleben möchten. Aktuell bilden noch die unterschiedlichen Sprachen die stärkste Hürde für die globale Netzwirtschaft. Doch auch diese Hürde wird immer rasanter genommen. Auf Alibaba, der chinesischen B2B-Plattform, wird automatisch die Kundennachfrage aus dem Ausland ins Chinesische übersetzt und umgekehrt. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis Übersetzungsprogramme jedem Anbieter die Möglichkeit bieten in allen Sprachen der Welt zu handeln.

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Mein erstes Handy.

Nicht zuletzt muss auch konstatiert werden, dass Monopole nicht per se wirtschaftlich nachteilig für den Konsumenten sind. Bestes Beispiel ist der Mobilfunkmarkt. Anstatt eine einzige Infrastruktur im Land aufzubauen, die dann alle Anbieter nutzen, gab der Staat vor, Wettbewerb zu schaffen, indem er Frequenzen für zig Mrd. Euro versteigerte, die dann dazu führten das mehrere Anbieter parallel Mrd. teure Infrastruktur aufbauten und sich dann noch mit hunderten von Millionen eine Marketingschlacht bis heute liefern, um ausreichend Kundenanteile zu gewinnen. Letztlich zahlt der Konsument in Deutschland für den Verzicht auf das Mobilfunk-Monopol ca. das Sechsfache dessen, was heute ein Mobilfunkanschluss kosten müsste, wenn es nur einen Anbieter gäbe.

Soll nun der stationäre Handel fatalistisch seinem Ende entgegen sehen? Nein, mitnichten. Nur wie in der Überschrift gefordert, muss nicht der Kunde sondern er umdenken. Der Handel vor Ort braucht ein neues Selbstverständnis aus dem dann auch ein entsprechendes Selbstbewusstsein erwächst. Der Handel muss mutig Neues ausprobieren. Schon immer entwickeln sich neue Geschäftsmodelle, die den alten Tugenden des Handels ähnlich sind, jedoch z.B. nicht mit denselben Produkten. Was früher der Tante Emma Laden war, ist heute der Feinkost-Italiener oder Veganerladen an der Ecke. Was früher der Elektronikfachhändler war ist heute der Shop- und Showroom eines Herstellers wie Apple oder eines Mobilfunkanbieters.

Dringend abraten kann ich dem stationären Handel vor einem nachahmenden Online-Wettbewerb (siehe aktuell ocelot). Wie oben beschrieben, werden Online nur sehr wenige, wohl globale Unternehmen als Sieger hervorgehen. Wer keine unique eCommerce-Idee hat und nicht ausreichend Investoren im Hintergrund, kann nur auf bestehenden Handelsplattformen wie Amazon, ebay etc. sein Geschäft wirtschaftlich betreiben.

BuchespressobarBislang ist es zudem kaum jemanden gelungen, eCommerce und stationäre Präsenz gleichermaßen erfolgreich zu besetzen. Mir fällt nur ein Beispiel ein, dass als Produkt umstritten ist, jedoch bisher unbeirrt weltweit wächst: Nespresso. Dieses Beispiel dokumentiert auch, dass mit rationalen Argumenten auf dem Markt nichts gewonnen wird. Die sinnliche Erfahrung, das Erlebnis des Sich-Etwas-Gönnens, überzeugt hier die Konsumenten – gegen alle hauswirtschaftliche Nüchternheit. Und die vehemente Empörung über deren ökologische Ignoranz ist von Buchliebhabern völlig unangebracht. Denn die Ökobilanz eines 500 Seiten Schinkens in gedruckter Form von der Herstellung bis zur ewigen Lagerung im heimischen Buchregal ist vergleichsweise katastrophal zu einem eBook.

Der Handel im Allgemeinen und der Buchhandel im Speziellen muss sich womöglich weit mehr als menschliche Begegnungsstätte begreifen. Was früher nur die Kneipe oder das Cafe geboten haben, wird vielleicht zunehmend die Erwartung der Kunden in den Läden sein: ein Ort, in dem man sich trifft, um über gemeinsame Interessen zu plaudern, sich auszutauschen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Das ist womöglich nicht das Zukunftskonzept für den Schuhhandel, jedoch im Buchhandel könnte dies in ein oder zwei Frau/Mann-Betrieben funktionieren. Vorausgesetzt, die Kunden sind bereit dafür indirekt zu zahlen.

Darüber hinaus wird die Rolle eines Kurators im Handel sicher an Bedeutung gewinnen. In wie weit diese finanziell honoriert wird, muss der Handel ausprobieren. Eine wohl wichtige Voraussetzung dafür wäre die Aufhebung der Buchpreisbindung und einer damit verknüpften deutlich höheren Marge für den Händler. Im Modeeinzelhandel sind Verkaufspreisaufschläge von bis zu 250% üblich. Leidtragende mögen da zunächst die Verlage sein. Doch auch die müssen sich bewegen. Große Verlage sollten vielleicht auch mal „Flagship-Stores“ einrichten und Kleinverlage sich spezielle Kleinbuchhandlungen suchen, die sich auf ihr Genre spezialisieren. Wenn sie dann auch noch so voller Ideen sind wie CulturBooks, kann das für diese Buchhändler ein lukratives Standbein sein.

Buchhändler sollten auch online mehr Flagge zeigen. Jedoch nicht mit Shops , sondern mit gut gestalteten Blogs wie SteglizMind. Hierfür müssen sie nicht mal ständig selbst Texte verfassen, sondern können sich einer Hundertschaft von engagierten Bloggern bedienen, die sich über das Reblogging ihrer Rezensionen freuen. Sehr beeindruckend umfangreich und redaktionell vorbildlich als Online-Magazin macht das Bücherstadtkurier. Und sie sollten auch souverän auf die zigfachen guten Rezensionen von Amazon hinweisen. Denn die meisten Kunden, die online nach Buchempfehlungen suchen, schauen dort sowieso vorbei.

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Drei ??? auf der Waldbühne in Berlin.

Vielleicht müssen Buchhändler auch vermehrt rausgehen, so wie aktuell sehr spannend Felix Wegener. Bücher und eReader wie Tupperware verkaufen, Verkaufsveranstaltungen mit Büchervorstellungen in Kindergärten und Schulen (Elternabenden), Altenheimen, Krankenhäusern und sonstigen Einrichtungen machen, Hörbuchnächte als Happening anbieten, als Eintrittskarte kauft man das Buch dafür und und und.

Wie gesagt, ich bin bereit für die Literatur mit Umdenken und Ideen zu kämpfen. Doch die Voraussetzung ist, dass die heutigen Gralshüter der schmerzlichen Realität ins Auge blicken, sich kritisch hinterfragen lassen und offen für neue Strategie und Taktiken sind. Auch dann braucht es noch viel Mut und Wagnis. Doch sein Schicksal in der Bedrängnis selbst in die Hand zu nehmen, war schon immer eine der klassischen Erfolgsgeschichten berühmter Romanfiguren.

Nachtrag 16.11.: In meiner alten Heimat Frankfurt bewegt sich offenbar was.

Nachtrag 20.11: Christian Riethmüller, Neffe und ebenfalls Geschäftsführer von Osiander, überzeugt mich dagegen sehr. Da würde ich glatt in die Lehre gehen.

Und wer in München ist besucht vielleicht mal die die Kulturtheke eisfrei:

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Foto Felix Wegener

„Ausbildung Internet“ – da sind wir alle Lehrlinge.

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Der Zauberlehrling illustriert von Sabine Wilharm

Ich schätze das Engagement von Gesche Joost, Nico Lumma & Co. sehr. Doch ihrer gewünschten Bildungsoffensive mag ich nicht folgen. Bevor mein jetzt siebenjähriger Sohn das Programmieren in der Schule lernen soll, möchte ich, dass er nicht nur Goethes Zauberlehrling selbst lesen kann (vorgelesen aus der schönen Ausgabe des Kindermann Verlages, illustriert von Sabine Wilharm habe ich schon), sondern auch verstanden hat, was die Geschichte zeitlos macht. Und zudem begriffen haben sollte er, dass es beim Internet keinen Zaubermeister gibt, den er im Zweifel rufen kann. Weder den gesetzgebenden Staat, noch einen der unzähligen Gurus und erst Recht nicht die Millionen Evangelisten, die vor ihr fehlendes Wissen schützend den „Alles wird Gut-Glauben“ stellen.

Selten ernst zu nehmender als in diesen digitalen Zeiten ist Kants Definition zur Aufklärung: Kant_gemaelde_1

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

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Sokrates erhält den Schierlingsbecher

Die Begeisterung für die Digitalisierung und die Netzwelt treibt mich seit Jahren an – privat und beruflich. War es in den 90er die Digitalisierung der Medien (Musik, Foto, Literatur), der Mobilfunk und das aufkeimende Internet, so war es zu Beginn des Jahrtausend Mobile Marketing, eCommerce und den Wandel in der Kommunikations- und Entertainmentbranche (Gaming, Applikationen, Social-Media) mit zu gestalten. Zwei Dinge aber begleiteten meine Euphorie immer: zum einen die Skepsis in Bezug auf den gesellschaftlichen Mehrwert. Und zum zweiten eine philosophische Erkenntnis, die noch älter ist als die von Kant: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Was die Möglichkeiten und die Folgen unserer digitalisierten, algorithmisch bestimmten Big-Data-Netzwelt betrifft, erachte ich mich als ewigen Lehrling der ohne Meister lernen muss. Neben einigen immer wieder überraschenden beruflichen Erfahrungen machen mir das aktuell auch wieder einige Autoren deutlich. Vor kurzem Yvonne Hofstetter mit ihrem Buch „Sie wissen alles“ und aktuell Michael Seemann mit seinem Buch „Das neue Spiel.“. Darauf hatte mich Zöe Beck aufmerksam gemacht. Danke dafür. cover_kontrollverlust_CMYKMichael Seemann gelingt es meines Erachtens auf sehr lesbare und nüchterne Weise das aktuelle Mindest- und Basiswissen über die Netzwerkeffekte zu veranschaulichen und den damit verbundenen wachsenden Kontrollverlust jedem deutlich zu machen, der es wissen möchte. Doch wer will es schon wissen? Mir bestätigte er auf jeden Fall vieles, was ich schon als Fazit aus Yvonne Hofstetters Buch gezogen hatte. Auch er erkennt an, dass nicht Staat, Geheimdienste oder Google, Facebook & Co. die bedenklichsten Treiber des Kontrollverlustes sind, sondern wir selbst, die Nutzer und auch Nicht-Nutzer: „Der größte Gegner der Zivilgesellschaft … ist die Zivilgesellschaft selbst.“ Denn, so paradox es im ersten Moment klingen mag: der wachsende Kontrollverlust wird wohl absehbar in einen Kontrollwahn der Massen führen. Und was im (Irr)Sinne der Massen zu kontrollieren bzw. zu disziplinieren ist hat schon vor knapp einem Jahrhundert Gustave Le Bon sehr klarsichtig in seinem Werk „Psychologie der Masse.“ beschrieben.

Dem Individuum widmet Michael Seemann denn dafür seinen kategorischen Imperativ des digitalen Zeitalters. Der lautet: „Handle stets so, dass Dir öffentliche Effekte Deines Handelns langfristig vertretbar scheinen. – Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.“ Daran, wie schnell man sich das eigene, reale Leben durch die Netzwerkeffekte zur Hölle machen kann, ermahnen Beispiele im Buch wie das von Justine Sacco. Ein dummer Tweet und nach wenigen Stunden wird man von der Masse gehasst und ist seinen Job los. Auch die ewige Häme über Bettina Wulff überschattet wie viel Rückgrat sie bewiesen hat: das Recht auf Vergessen bei Google einzufordern. Und nicht zuletzt sind die Beispiele gefakter Tweets über Terroranschläge, die zu einem Kursrutsch an den Börsen führen, Warnung was Einzelne auslösen können. Doch wichtig hierbei: die Macht dazu erteilt nicht das Internet und das Smartphone, sondern die Masse an unkritischen und bedenkenlosen Usern, die solche News gierig verbreiten.

Bildschirmfoto 2014-10-25 um 18.15.16Und auch seriöse Medien lassen sich von dieser Gier anstecken. Jüngstes Beispiel sind die sarkastischen Tweets von Christian Ginsig, Sprecher der Schweizer Bundesbahn, über seine Fahrterlebnisse in den Zügen der deutschen Kollegen. Als diese Tweets von einer kleiner Zeitung hämisch in Richtung Deutsche Bahn aufgriffen wurden, wollte der Eidgenosse Schlimmeres verhüten und löschte sie. Zu spät: SZ und FAZ griffen begierig das beliebte Bahn-Bashing auf und verbreiteten es vergnügt weiter, obwohl sie wussten, dass der Verursacher es gerne rückgängig gemacht hätte. Doch das individuelle Recht auf Vergessen war den Medien nicht wert auf eine von der Masse lustvoll aufgegriffen Story zu verzichten.

Auch sehr erhellend ist das konsequente Weiterdenken Michael Seemanns über die möglichen Szenarien in der digitalen Ökonomie. Hier zeigt sich auch die Naivität vieler „Netzexperten“, die sich offenbar über die Fragilität der Geschäftsmodelle heutiger Giganten im Netz nicht im Klaren sind. Wie schnell höhnt es ihm Netz, wenn jemand Szenarien skizziert, in denen Facebook in wenigen Jahren kaum noch Relevanz zugestanden wird, Apps wohl bald wieder bedeutungslos geworden sind oder Google sein werbefinanziertes Geschäftsmodell verliert. Facebook selbst hat es schon erkannt und sich mal schnell WhatsApp gesichert. Google weiß, dass sein größter Gegner aktuell amazon ist. Und am Beispiel Twitter kann man erkennen, dass solch fehlende Weitsicht fast die Existenz bedrohen kann. Featurette-1-Ipad-Default.png.700x610_q100_crop

Da Twitter sich zu Beginn als völlig offene Plattform anbot, die jeder App-Entwickler und Plattform-Anbieter bei sich integrieren konnte, hatte Twitter irgendwann keinen direkten Zugang mehr zu einer großen Anzahl seiner Nutzer. Somit lässt sich langfristig über Werbung nur wenig Geld verdienen. Die aktuell angekündigte Strategie von Twitter (Twitter will Passwörter ersetzen) soll jetzt aus der Not eine Tugend machen und man darf gespannt sein, wie dies dann monetarisieren soll. Ähnlich kritisch wäre es auch für Facebook und auch viel andere Newsmedien, wenn alle User nur noch „Flipboard“ benutzen würden. Und auch Google ist nicht gefeit dagegen, dass irgendwann nur noch über Siri & Co. Suchaufträge gegeben werden und viele gar nicht mehr auf Google direkt suchen.

Michael Seemann hat sein Buch zweigeteilt. Im ersten Teil – der Beschreibung der Netzwelteffekte – bleibt er wohltuend sachlich und bietet viele gute Beispiele, um die manchmal etwas komplexen Zusammenhänge zu veranschaulichen. Im zweiten Teil bezieht er dann Stellung. Er benennt wohin er glaubt, dass das Ganze führen kann, und was es seiner Ansicht benötigt, um dem unvermeidbarem Kontrollverlust irgendwie Herr zu werden. Das ist logischerweise subjektiv, aber nicht ideologisch überschattet. Im neuen Spiel will weder er Spielverderber sein, noch möchte er andere zum „Da mach ich nicht mit“ bewegen. weisen_Affen

Der Ausstieg aus der digitalen Zukunft ist mit Sicherheit keine Lösung für eine bessere Gesellschaft. Ebenso wenig wird es besser, wenn sich die Mehrheit wie die drei weisen Affen verhält. Unwissenheit schützt bekanntlich vor Strafe nicht – sei es im juristischen Sinn oder im Sinne der Lebenserfahrung. Gefordert ist die Aufklärung im Sinne Kants. Deshalb zielt mein Wunsch einer Bildungsoffensive auch nicht auf die Schule unserer Kinder und das Erlernen eines Handwerks wie Programmieren, das schon nach wenigen Jahren wieder veraltet sein wird. Ich habe in den Achtzigern auch mal Basic gelernt. Das bringt mir heute weniger als das Lego spielen in meiner Kindheit. Unseren Kindern bringen wir meines Erachtens besser Querdenken und Mathematik als Programmieren bei. Denn tiefes mathematisches Verständnis wird in einer von vielen Algorithmen beherrschten Zukunft viel entscheidender sein, um sich seine Freiheit des Denkens, des Willens und Handelns zu bewahren.

Nachtrag 12.12.2014: hier gibt es eine 3Sat Videobesprechung für Lesefaule und hier bei Sobooks kann man das Buch kostenfrei lesen und diskutieren.

Final sei noch angemerkt, dass das Buch aus einem Crowdfunding-Projekt resultiert. In dem oben beschriebenen Kontext ist die Erfahrung mit solchen Crowd-Projekten für mich sehr aufschlussreich. Aus Sicht der Initiatoren resultiert der Reiz bei Buch-Projekten nicht nur aus der sicheren Vorfinanzierung, sondern besonders aus der Mitwirkung der Crowd am Inhalt des Buches. Mir begegnete diese Form der Netzvorfinanzierung erstmals bei Dirk von Gehlen mit seinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar.“ Dort war ich ebenso wie bei diesem Buch nicht Teil der Crowd (über 600 Unterstützer), sondern klassischer Buchkäufer und Leser.

Was mich damals schon bei Dirk von Gehlens Buchprojekt enttäuschte, habe ich unter dem Beitrag „Geld oder Lesen?“ zusammengefasst. Dirk von Gehlen hat es dort auch kommentiert und seine Sicht dazu erklärt. Wir bewerten den Erfolg unterschiedlich. Für mich zeigt sich die Crowd leider nur bei der Vorfinanzierung und im Entstehungsprozess aktiv. Doch in dem für mich entscheidenden Moment trägt die Crowd so gut wie nichts mehr bei. Sie hilft kaum das Buch in den Medien zu verbreiten und ihm den Leseerfolg zu bescheren. Doch das wäre für mich der wirklich entscheidende Beitrag zu einem Buch, das ich finanziere.

Nachtrag 22.Februar 2015: Vielleicht war ich zu ungeduldig mit meinen Erwartungen an ein Crowd unterstütztes Buchprojekt. Nun, nach einem Jahr, hat Michael Seemann einen „Abschlussbericht“ verfasst, der sich doch recht positiv und zuversichtlich liest. Dennoch überzeugt mich (wie unten bemerkt, und dann im Nachhinein als nicht weiter relevant gestrichen), Crowd-Funding bei Büchern bislang nicht.

Das Gleiche befürchte ich in diesem Fall. Denn blicke ich auf die ersten Rezensionen bei amazon, findet sich da einzig eine abgestrafte Vorankündigung, die wohl von einem Unterstützer kommt und ansonsten nur zwei sehr mäßige Urteile – eines offenbar von jemanden, der mit Michael Seemann ein persönliches Problem hat. Amazon mag nicht das Maß allen Buchmarketings sein, doch neben dem Hinweis von Zöe Beck, habe ich z.B. auch auf Twitter bis heute keine Empfehlungen mitbekommen und nur noch diesen Hinweis bei Weltsicht aus der Nische.

Und mein zaghafter Versuch, dem Buch per Twitter etwas Aufmerksamkeit zu geben, hat selbst der Autor nicht mal aufgriffen. Letztlich ist diese Erfahrung für mich sehr exemplarisch. Kritische Netznutzer stehen sich mit der Verbreitung ihrer Haltung meist selbst im Weg. Statt die Aufklärung aktiv zu verbreiten, halten sie sich „vornehm“ in ihrer Filterblase zurück. Im Gegensatz zu den naiven Netznutzern, die hemmungslos jeden Gag, jeden Nonsens, jede Blamage teilen – erachtet die „Netz-Elite“ das intensive Teilen und Verbreiten offenbar als “unschicklich”, “aufdringlich” oder “niveaulos”. So bleibt die Forderung “Klär Dich auf und handle.“ unerhört in der IKEA-Küche.

Stalker Marketing

Stalker

Nachtrag 12.12.2014: Die Diskussion zum Thema „Stalker-Marketing“ wird gerade wieder im Blog „Ich sag mal“ von Gunnar Sohn neu belebt und soll im kommenden Jahr fortgesetzt werden. Bin gespannt.

Stalking ist kein neuzeitliches Phänomen, sondern einzig ein neuzeitlicher Begriff für ein schon immer existentes gestörtes, krankhaftes Verhalten einzelner Menschen. Die Empfindungen der Betroffenen erwachsen sich von anfänglicher Lästigkeit bis irgendwann zu Panik und Albtraum.

Mit der gleichen krankhaften Beharrlichkeit, mit der ein Stalker seine auserwählte Zielperson bedrängt, agieren seit vielen Jahrzehnten auch Verantwortliche im Marketing. Und beide ließen sich bislang nur mit juristischen Mitteln und Strafandrohungen wieder auf erträglichen Abstand bringen – zumindest in unseren privaten Umfeldern. Ständige Werbepost, Haustür-Geschäfte und Werbeanrufe wurden verboten.

Während wir im realen Leben das Stalking des Marketings allmählich in den Griff bekommen wird es im virtuellem Raum derzeit als geniale Marketing-Innovation verkauft. Das Prinzip ist dabei noch immer das gleiche, nur perfider: denn nun verfügen die Marketer über Technologien, deren Impertinenz an Möglichkeiten wir uns zunächst gar nicht bewusst sind. Jeder Cookie, jede App und jede Anmeldung – besonders bequem über Netzwerk-Accounts – ermöglicht es ihnen, uns ständig über die Schulter zu schauen. Und die Penetranz führt – laut Online-Media-Experten – nachweislich auch zum Erfolg. Denn die Zahlen geben ihnen vordergründig durchaus Recht.

Die erfolgreichsten Online-Kampagnen basieren auf Retargeting, also wiederholtes Bewerben von ehemaligen Website-Besuchern. Es gibt wohl kaum jemanden, dem dies nicht schon aufgestoßen ist. Einmal auf einer Gaming-Anbieterseite gewesen oder in einem Onlineshop Schuhe angeschaut und schon erhält man in völlig anderen Umfeldern ständig Werbung für Games oder Schuhe. Während wir uns ja an das Empfehlen á la amazon gewöhnt haben und auch Gutes abgewinnen können, wird mir beim Gedanken an meine nächste Reisebuchung schon unwohl. Denn die ganzen Partner auf dem Reiseportal (Mietwagenanbieter, Hotels, Restaurants, Eventagenturen, Ausstatter) erfahren nun ebenfalls von meinem Trip. Und es Babyratgeberwird mir dann doch unheimlich, wenn ich plötzlich auf meiner gewählten Nachrichtenseite, in meiner Facebook Timeline oder zwischen meinen Tweets auf Skiausrüstungen hingewiesen werde. Woher wissen die, dass es übernächstes Wochenende in die Berge geht? Ach, ja.

So gezielt geht es heute noch selten zu. Doch das ist nur eine Frage der Zeit, wie der aktuelle Artikel des Spiegel über die neue Facebook Werbeplattform „Atlas“ bestätigt. Big-Data wartet schon. Kombiniert mit Alter und sonstigen wenigen Profildaten wird in Zukunft die Online-Recherche von Babyratgebern ein wahres Feuerwerk an Stalker-Aktivitäten auslösen. Und sollten Sie dann nicht selbst in guter Hoffnung sein, sondern nur die fürsorgliche Tante, die für ihre Schwester ein passendes Geschenk sucht, dann achten Sie darauf, dass Sie nicht das Tablet nutzen, das auch Ihr nichts ahnender Partner in die Hand nimmt. Es könnte zu Beziehungstragödien kommen.

Online-Marketing nach dem Ballermann Prinzip.

Dem Kraut-und-Rüben-Anbieter von billiger Saisonware, Last-Minute-Offers und Auslaufmodell-Schnäppchen mag sicher das Image eines Stalkers eimersaufen_DW_Wiss_519386pgleichgültig sein. Er agiert wie der Ballermann-Urlauber, der am Abend zig mal mit derselben Anmache wahllos durch die Kneipen zieht bis es bei irgendeiner/einem vielleicht doch noch Klick macht.

Doch zunehmend scheuen sich auch große Handels-, Dienstleister- und Herstellermarken immer weniger, uns zu penetrieren. Warum? Ersten, weil es sie nichts kostet, wenn ich ihnen einen Korb gebe (sie zahlen erst bei einem Klick). Und zweitens, weil den Verantwortlichen die Empathie fehlt, sich vorzustellen, dass bei 1% Klickrate auch 99% genervte Nicht-Klicker möglich sind.

Was denkt sich aber eine Frau, wenn sie ein Typ unentwegt anbaggert? Der muss es wohl nötig haben. Ein guter Typ beginnt vielleicht ähnlich, aber er verfügt über genügend Empathie zu erkennen, ob sein Vorstoß Sympathie findet.

Was sich derzeit noch im Stadium der Lästigkeit bewegt, kann sich sehr schnell zum Albtraum entwickeln. Laut Untersuchung von Fittkau-Maaß bestätigen schon heute ein Drittel der Befragten „Reaktanz“ bei offenkundigem Retargeting; sprich sie sind bewusst genervt wie ich. Zähle ich noch die alltäglichen Mails, Kurznachrichten und die häufig wiederkehrenden gleichen Spots bei Youtube & Co. hinzu, kann ich schon jetzt allmählich eine umfangreiche Liste an Marken und Unternehmen zusammenstellen, die mir zunehmend unsympathischer werden.

Besonders nervig wird es, wenn ich mobil online gehe. Denn hier frisst es nicht nur Zeit, sondern auch Datenvolumen. Hinzu kommt die stetige Enttäuschung, nachdem Hinweis eines Mail- oder Nachrichteneingangs, zu entdecken, dass dies dann nur wieder die alltägliche Werbung von XY ist. Das vor Jahren viel gepriesene SMS-Marketing war aus demselben Grund schon damals schnell ein Rohrkrepierer.

Die Konsequenzen liegen auf der Hand und bestätigen ebenfalls die Nutzerantworten von Fittkau-Maaß. Schon bald wird man sich zweimal überlegen, auf eine Werbung zu klicken, da man die Verfolgung fürchtet. Die App, die mir täglich neu Aktionen mitteilt, lösche ich. Erst in den Einstellung zu suchen und etwas umzustellen, ist mir da schon zu mühsam. Und wohl bald werde ich es vorziehen, anonym zu recherchieren, auch wenn ich dann nicht immer dort erkannt werde, wo ich gerne erkannt werden möchte. Doch bis dahin, habe ich dann auch schon eine ganze Menge an Telekom-Anbietern, Online-Händlern, Kaffeeanbietern, Reiseportalen etc. auf meiner gedanklichen schwarzen Liste der Marketing-Stalker.

Ich kann Marken- und Marketing-Verantwortlichen, bei denen es nicht das ganze Jahr wie am Ballermann zugeht, nur empfehlen die verführerische Online-Werbepenetranz sehr maßvoll, kreativ und überlegt einzusetzen. Die Mittel dazu gibt es. Und denken Sie dabei auch an ihre Online-Vertriebspartner. Denn bei denen gibt es eine ganze Menge, denen Ihre Markenreputation schnuppe ist.

Nachtrag: Just, zwei Tage nach meinem Blogeintrag, hat auch Sascha Lobo das Thema „Stalker Marketing“ aufgegriffen. Sehr interessant finde ich seine „überraschende“ Erkenntnis, dass wenn man den einfachen Netznutzer auf der Straße zu dem Thema befragt, auch endlich eine Erklärung bekommt, warum der sich nicht über NSA & Co. aufregt:

„Auf meine Nachfrage erklärte eine Frau, sie habe mal nach einer bestimmten Kuckucksuhr gesucht. Daraufhin sei ihr wirklich überall genau diese Kuckucksuhr in Bannern angeboten worden. So habe sie erkannt, dass jeder ihrer Schritte im Netz beobachtet würde, das Gefühl der digitalen Totalüberwachung war ihr schlicht nicht neu. Jetzt kämen eben auch noch ein paar Terrorfahnder dazu.“

Nein, ich habe mich mit Sascha Lobo nicht abgestimmt. Wir sind uns nur einmal im virtuellem Raum begegnet und da empfand er mich aufgrund meiner Replik auf sein Thema „Schriftsteller als Netzverächter: Vom Genre der Besserhalbwisserei“ von ihm „eingebildet und verspannt“. Ich bin ja nicht nachtragend (möglicherweise hat er ja recht), aber das Netz vergisst halt nie.

Liebe Autoren: „Mitleid ist kein gutes Marketing“*

Betteln

Bild: 123RF

Sie haben es erneut getan: amerikanische Schriftsteller wenden sich mit einem offenem Brief nun an den Verwaltungsrat von amazon, mit der Forderung, man möge sie bzw. ihre Bücher doch bitte aus der leidigen Auseinandersetzung mit Hachette heraushalten. „Bücher seien doch keine Konsumgüter, wie Waschmaschine oder Toaster.“ Ich befürchte, die deutschen Autoren ziehen da bald wieder jammernd nach. Liebe Verleger, fangt sie doch bitte rechtzeitig ein und erklärt ihnen, wie Markus Hatzer* vom Haymon-Verlag dass „Mitleid kein gutes Marketing ist“.

Über die Produktentwicklung „Buch“ habe ich bestenfalls solides Allgemeinwissen, doch beim Marketing kann ich auf über 25 Jahre berufliche Erfahrung setzen. Aus dieser Position empfehle ich den Autoren dringend, ihre Strategie zu wechseln. Denn nichts straft der „Konsument“ härter ab als selbsterklärte Opfer. Das können wir aktuell an der Auseinandersetzung von Taxiunternehmen und dem Fahrdienst Uber sehen, das können wir seit Jahren in der „Gema“ organisierten Musikbranche verfolgen, genauso wie in der alten Medienbranche und im stationären Handel (nicht nur Buchhandel) und, und, und.

DMS-MädchenSchon vor Jahren haben es viele Charity-Organisationen begriffen, dass Kampagnen, die mit Opfermotiven werben, weit weniger Spenden einbringen, als Motive, die erstarkte Gewinner des Engagements zeigen. Meine Frau und ich engagieren uns selbst seit 2007 für die Organisation „Room-to-read“ mit der Initiative „Deutschland macht Schule“. Nie wären wir auf den Gedanken gekommen, mit Bildern trauriger Kinder zu werben, die in überfüllten Schulen um wenige, zerfetzte Bücher kauern. Was wir zeigen sind Kinder, die dank der großzügigen Spenden fröhlich vor neuerrichteten Schulgebäuden sitzen und begeistert in frisch gedruckten Schulbüchern blättern. Das ist kein Marketingtrick, sondern es ist das, was wir den Spendern schuldig sind: zeigen, dass das gesamte Engagement zuversichtliche, motivierte Hoffnungsträger hervorbringt.

5669728_sLiebe Autoren, ich habe mich ja schon mehrmals in die amazon-Debatte eingemischt – als leidenschaftlicher Leser, der überaus dankbar dafür ist, dass es Menschen wie euch gibt, die sich dem doch oft undankbaren und wenig lukrativem Schreiben widmen. Jedem, der ein Buch schreibt, zolle ich großen Respekt vor der intrinsischen Motivation und bewiesenen Selbstdisziplin, so ein Projekt zu stemmen. Hinzu kommt noch die öffentliche, oft bedrückend und schmerzliche Erfahrung von Nichtbeachtung, fehlender Anerkennung oder gar harscher und bisweilen sehr verletzender Kritik. Das muss man erst mal bereit sein, sich anzutun. Wer all dies schafft, der darf sich doch dann nicht auf dem Markt in eine defensive, Verständnis und Mitleid heischende Verhandlungsposition bringen: „Nehmt doch unsere Bücher nicht in Geiselhaft.“

Aktuell schreiben die amerikanischen Autoren in ihrem offenen Brief in Bezug auf den spürbaren Verkaufsrückgang der Bücher von Hachette-Autoren(innen) (laut deutscher Übersetzung):

„Diese Männer und Frauen sind zutiefst besorgt darüber, was dies für ihre Karriere bedeutet.“

Hallo! Ihr seid Schriftsteller und drückt Euch aus wie ein katzbuckelnder Beamter im mittlerem Dienst, der an eine anonyme Oberdirektion schreibt. Habt ihr alle nicht Kafka gelesen? Und dann folgt auch noch die populistisch historische Keule:

„Entsprechende Bemühungen, den Verkauf von Büchern zu behindern oder blockieren, haben eine lange und schlimme Geschichte. Wollen Sie persönlich damit in Verbindung gebracht werden?“

Das ist harter Tobak und kurz gesagt: würdelos. Reißt euch zusammen, setzt euch mit euren Verlegern, Agenten und Verhandlungsprofis zusammen und entwickelt endlich eine Strategie, wie ihr auf Augenhöhe mit Bezos & Co. Tacheles reden wollt.

Und zu guter Letzt: Bücher sind Konsumgüter wie Waschmaschinen und Toaster. Sie haben nur den unschlagbaren Vorteil, dass wir „Buch-Konsumenten“ sie weitaus höher schätzen als Toaster und Waschmaschinen. Und damit das so bleibt, gebt uns das gute Gefühl zurück, dass ihr „Produzenten“ mit einer vorbildlichen Haltung seid, die was Herausragendes, höchst Begehrliches zu bieten haben.