Ein Roman für die Veteranen der re:publica.

MarmeladenTheorie

Zufall? Da ist er, der passende Roman zum Ausklang der re:publica 16. Sentimentaler Lesestoff für die von Sascha Lobo bezeichnete „Wir, die digitale Lost-Generation“. Die französische Bloggerin Titiou Lecoq blickt auch zehn Jahre zurück und fabuliert eine amüsante Geschichte über drei Earlybirds des Internets, ein Journalist, eine Bloggerin und ein junger Nerd. Die Geschichte beginnt also 2006 in einer Zeit als noch niemand an ein smartes Handy dachte, Hot-Spots noch wirklich heiß waren, Facebook noch StudiVZ hieß, man auf VIVA in einer Endlosschleife Jamba-Abos angeboten bekam, in World of Warcraft die Jugend ihre Zukunft verspielte und YouTube einjähriges Bestehen feierte. Und sie endet in der tristen Gegenwart zerplatzter Netzweltträume zweckoptimistisch.

Aufmerksam wurde ich auf Titiou Lecoq durch ein Interview in wired in dem sie unter anderem sagt: Weiterlesen

„Ausbildung Internet“ – da sind wir alle Lehrlinge.

zauberlehrling

Der Zauberlehrling illustriert von Sabine Wilharm

Ich schätze das Engagement von Gesche Joost, Nico Lumma & Co. sehr. Doch ihrer gewünschten Bildungsoffensive mag ich nicht folgen. Bevor mein jetzt siebenjähriger Sohn das Programmieren in der Schule lernen soll, möchte ich, dass er nicht nur Goethes Zauberlehrling selbst lesen kann (vorgelesen aus der schönen Ausgabe des Kindermann Verlages, illustriert von Sabine Wilharm habe ich schon), sondern auch verstanden hat, was die Geschichte zeitlos macht. Und zudem begriffen haben sollte er, dass es beim Internet keinen Zaubermeister gibt, den er im Zweifel rufen kann. Weder den gesetzgebenden Staat, noch einen der unzähligen Gurus und erst Recht nicht die Millionen Evangelisten, die vor ihr fehlendes Wissen schützend den „Alles wird Gut-Glauben“ stellen.

Selten ernst zu nehmender als in diesen digitalen Zeiten ist Kants Definition zur Aufklärung: Kant_gemaelde_1

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

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Sokrates erhält den Schierlingsbecher

Die Begeisterung für die Digitalisierung und die Netzwelt treibt mich seit Jahren an – privat und beruflich. War es in den 90er die Digitalisierung der Medien (Musik, Foto, Literatur), der Mobilfunk und das aufkeimende Internet, so war es zu Beginn des Jahrtausend Mobile Marketing, eCommerce und den Wandel in der Kommunikations- und Entertainmentbranche (Gaming, Applikationen, Social-Media) mit zu gestalten. Zwei Dinge aber begleiteten meine Euphorie immer: zum einen die Skepsis in Bezug auf den gesellschaftlichen Mehrwert. Und zum zweiten eine philosophische Erkenntnis, die noch älter ist als die von Kant: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Was die Möglichkeiten und die Folgen unserer digitalisierten, algorithmisch bestimmten Big-Data-Netzwelt betrifft, erachte ich mich als ewigen Lehrling der ohne Meister lernen muss. Neben einigen immer wieder überraschenden beruflichen Erfahrungen machen mir das aktuell auch wieder einige Autoren deutlich. Vor kurzem Yvonne Hofstetter mit ihrem Buch „Sie wissen alles“ und aktuell Michael Seemann mit seinem Buch „Das neue Spiel.“. Darauf hatte mich Zöe Beck aufmerksam gemacht. Danke dafür. cover_kontrollverlust_CMYKMichael Seemann gelingt es meines Erachtens auf sehr lesbare und nüchterne Weise das aktuelle Mindest- und Basiswissen über die Netzwerkeffekte zu veranschaulichen und den damit verbundenen wachsenden Kontrollverlust jedem deutlich zu machen, der es wissen möchte. Doch wer will es schon wissen? Mir bestätigte er auf jeden Fall vieles, was ich schon als Fazit aus Yvonne Hofstetters Buch gezogen hatte. Auch er erkennt an, dass nicht Staat, Geheimdienste oder Google, Facebook & Co. die bedenklichsten Treiber des Kontrollverlustes sind, sondern wir selbst, die Nutzer und auch Nicht-Nutzer: „Der größte Gegner der Zivilgesellschaft … ist die Zivilgesellschaft selbst.“ Denn, so paradox es im ersten Moment klingen mag: der wachsende Kontrollverlust wird wohl absehbar in einen Kontrollwahn der Massen führen. Und was im (Irr)Sinne der Massen zu kontrollieren bzw. zu disziplinieren ist hat schon vor knapp einem Jahrhundert Gustave Le Bon sehr klarsichtig in seinem Werk „Psychologie der Masse.“ beschrieben.

Dem Individuum widmet Michael Seemann denn dafür seinen kategorischen Imperativ des digitalen Zeitalters. Der lautet: „Handle stets so, dass Dir öffentliche Effekte Deines Handelns langfristig vertretbar scheinen. – Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.“ Daran, wie schnell man sich das eigene, reale Leben durch die Netzwerkeffekte zur Hölle machen kann, ermahnen Beispiele im Buch wie das von Justine Sacco. Ein dummer Tweet und nach wenigen Stunden wird man von der Masse gehasst und ist seinen Job los. Auch die ewige Häme über Bettina Wulff überschattet wie viel Rückgrat sie bewiesen hat: das Recht auf Vergessen bei Google einzufordern. Und nicht zuletzt sind die Beispiele gefakter Tweets über Terroranschläge, die zu einem Kursrutsch an den Börsen führen, Warnung was Einzelne auslösen können. Doch wichtig hierbei: die Macht dazu erteilt nicht das Internet und das Smartphone, sondern die Masse an unkritischen und bedenkenlosen Usern, die solche News gierig verbreiten.

Bildschirmfoto 2014-10-25 um 18.15.16Und auch seriöse Medien lassen sich von dieser Gier anstecken. Jüngstes Beispiel sind die sarkastischen Tweets von Christian Ginsig, Sprecher der Schweizer Bundesbahn, über seine Fahrterlebnisse in den Zügen der deutschen Kollegen. Als diese Tweets von einer kleiner Zeitung hämisch in Richtung Deutsche Bahn aufgriffen wurden, wollte der Eidgenosse Schlimmeres verhüten und löschte sie. Zu spät: SZ und FAZ griffen begierig das beliebte Bahn-Bashing auf und verbreiteten es vergnügt weiter, obwohl sie wussten, dass der Verursacher es gerne rückgängig gemacht hätte. Doch das individuelle Recht auf Vergessen war den Medien nicht wert auf eine von der Masse lustvoll aufgegriffen Story zu verzichten.

Auch sehr erhellend ist das konsequente Weiterdenken Michael Seemanns über die möglichen Szenarien in der digitalen Ökonomie. Hier zeigt sich auch die Naivität vieler „Netzexperten“, die sich offenbar über die Fragilität der Geschäftsmodelle heutiger Giganten im Netz nicht im Klaren sind. Wie schnell höhnt es ihm Netz, wenn jemand Szenarien skizziert, in denen Facebook in wenigen Jahren kaum noch Relevanz zugestanden wird, Apps wohl bald wieder bedeutungslos geworden sind oder Google sein werbefinanziertes Geschäftsmodell verliert. Facebook selbst hat es schon erkannt und sich mal schnell WhatsApp gesichert. Google weiß, dass sein größter Gegner aktuell amazon ist. Und am Beispiel Twitter kann man erkennen, dass solch fehlende Weitsicht fast die Existenz bedrohen kann. Featurette-1-Ipad-Default.png.700x610_q100_crop

Da Twitter sich zu Beginn als völlig offene Plattform anbot, die jeder App-Entwickler und Plattform-Anbieter bei sich integrieren konnte, hatte Twitter irgendwann keinen direkten Zugang mehr zu einer großen Anzahl seiner Nutzer. Somit lässt sich langfristig über Werbung nur wenig Geld verdienen. Die aktuell angekündigte Strategie von Twitter (Twitter will Passwörter ersetzen) soll jetzt aus der Not eine Tugend machen und man darf gespannt sein, wie dies dann monetarisieren soll. Ähnlich kritisch wäre es auch für Facebook und auch viel andere Newsmedien, wenn alle User nur noch „Flipboard“ benutzen würden. Und auch Google ist nicht gefeit dagegen, dass irgendwann nur noch über Siri & Co. Suchaufträge gegeben werden und viele gar nicht mehr auf Google direkt suchen.

Michael Seemann hat sein Buch zweigeteilt. Im ersten Teil – der Beschreibung der Netzwelteffekte – bleibt er wohltuend sachlich und bietet viele gute Beispiele, um die manchmal etwas komplexen Zusammenhänge zu veranschaulichen. Im zweiten Teil bezieht er dann Stellung. Er benennt wohin er glaubt, dass das Ganze führen kann, und was es seiner Ansicht benötigt, um dem unvermeidbarem Kontrollverlust irgendwie Herr zu werden. Das ist logischerweise subjektiv, aber nicht ideologisch überschattet. Im neuen Spiel will weder er Spielverderber sein, noch möchte er andere zum „Da mach ich nicht mit“ bewegen. weisen_Affen

Der Ausstieg aus der digitalen Zukunft ist mit Sicherheit keine Lösung für eine bessere Gesellschaft. Ebenso wenig wird es besser, wenn sich die Mehrheit wie die drei weisen Affen verhält. Unwissenheit schützt bekanntlich vor Strafe nicht – sei es im juristischen Sinn oder im Sinne der Lebenserfahrung. Gefordert ist die Aufklärung im Sinne Kants. Deshalb zielt mein Wunsch einer Bildungsoffensive auch nicht auf die Schule unserer Kinder und das Erlernen eines Handwerks wie Programmieren, das schon nach wenigen Jahren wieder veraltet sein wird. Ich habe in den Achtzigern auch mal Basic gelernt. Das bringt mir heute weniger als das Lego spielen in meiner Kindheit. Unseren Kindern bringen wir meines Erachtens besser Querdenken und Mathematik als Programmieren bei. Denn tiefes mathematisches Verständnis wird in einer von vielen Algorithmen beherrschten Zukunft viel entscheidender sein, um sich seine Freiheit des Denkens, des Willens und Handelns zu bewahren.

Nachtrag 12.12.2014: hier gibt es eine 3Sat Videobesprechung für Lesefaule und hier bei Sobooks kann man das Buch kostenfrei lesen und diskutieren.

Final sei noch angemerkt, dass das Buch aus einem Crowdfunding-Projekt resultiert. In dem oben beschriebenen Kontext ist die Erfahrung mit solchen Crowd-Projekten für mich sehr aufschlussreich. Aus Sicht der Initiatoren resultiert der Reiz bei Buch-Projekten nicht nur aus der sicheren Vorfinanzierung, sondern besonders aus der Mitwirkung der Crowd am Inhalt des Buches. Mir begegnete diese Form der Netzvorfinanzierung erstmals bei Dirk von Gehlen mit seinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar.“ Dort war ich ebenso wie bei diesem Buch nicht Teil der Crowd (über 600 Unterstützer), sondern klassischer Buchkäufer und Leser.

Was mich damals schon bei Dirk von Gehlens Buchprojekt enttäuschte, habe ich unter dem Beitrag „Geld oder Lesen?“ zusammengefasst. Dirk von Gehlen hat es dort auch kommentiert und seine Sicht dazu erklärt. Wir bewerten den Erfolg unterschiedlich. Für mich zeigt sich die Crowd leider nur bei der Vorfinanzierung und im Entstehungsprozess aktiv. Doch in dem für mich entscheidenden Moment trägt die Crowd so gut wie nichts mehr bei. Sie hilft kaum das Buch in den Medien zu verbreiten und ihm den Leseerfolg zu bescheren. Doch das wäre für mich der wirklich entscheidende Beitrag zu einem Buch, das ich finanziere.

Nachtrag 22.Februar 2015: Vielleicht war ich zu ungeduldig mit meinen Erwartungen an ein Crowd unterstütztes Buchprojekt. Nun, nach einem Jahr, hat Michael Seemann einen „Abschlussbericht“ verfasst, der sich doch recht positiv und zuversichtlich liest. Dennoch überzeugt mich (wie unten bemerkt, und dann im Nachhinein als nicht weiter relevant gestrichen), Crowd-Funding bei Büchern bislang nicht.

Das Gleiche befürchte ich in diesem Fall. Denn blicke ich auf die ersten Rezensionen bei amazon, findet sich da einzig eine abgestrafte Vorankündigung, die wohl von einem Unterstützer kommt und ansonsten nur zwei sehr mäßige Urteile – eines offenbar von jemanden, der mit Michael Seemann ein persönliches Problem hat. Amazon mag nicht das Maß allen Buchmarketings sein, doch neben dem Hinweis von Zöe Beck, habe ich z.B. auch auf Twitter bis heute keine Empfehlungen mitbekommen und nur noch diesen Hinweis bei Weltsicht aus der Nische.

Und mein zaghafter Versuch, dem Buch per Twitter etwas Aufmerksamkeit zu geben, hat selbst der Autor nicht mal aufgriffen. Letztlich ist diese Erfahrung für mich sehr exemplarisch. Kritische Netznutzer stehen sich mit der Verbreitung ihrer Haltung meist selbst im Weg. Statt die Aufklärung aktiv zu verbreiten, halten sie sich „vornehm“ in ihrer Filterblase zurück. Im Gegensatz zu den naiven Netznutzern, die hemmungslos jeden Gag, jeden Nonsens, jede Blamage teilen – erachtet die „Netz-Elite“ das intensive Teilen und Verbreiten offenbar als “unschicklich”, “aufdringlich” oder “niveaulos”. So bleibt die Forderung “Klär Dich auf und handle.“ unerhört in der IKEA-Küche.

Jaron Lanier: hartes Brot oder Häppchen?

fingerfoodDie Rede ist gehalten und die Netzgemeinde ist „not amused“ und diskutiert reichlich. Hingegen findet sich im gedruckten Feuilleton – so weit ich es überblicke – nur weitgehend kritiklose Begeisterung. Ich war ebenfalls recht irritiert zu erfahren, dass Jaron Lanier den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen bekommt.

Meine Irritation bezog sich zunächst aber auf die wohl von mir missverstandene Ehrung in Bezug auf „Frieden.“ Denn den Beitrag zum Frieden, den Jaron Lanier mit seiner kritischen Haltung zur keimenden algorithmischen Big-Data-Netzkultur leistet, habe ich selbst aus seiner Rede nicht entnehmen können.

Im übrigen eine Rede, die ich rhetorisch und inhaltlich für sehr gelungen und sehr lesenswert erachte. Vieles, wohl zu vieles, spricht er darin an, über das es nachzudenken lohnt. Doch angesichts der Resonanz in den digitalen und in den analogen Medien ist wie immer davon auszugehen, dass nur ein paar ausgewählte Häppchen daraus die Runde machen. Die gesamte Rede zu lesen und sich den verschiedenen angesprochenen Themen nachdenklich zu widmen, wäre für die überwiegende Gesellschaft hartes Brot.

Die Mediengesellschaft heute folgt nun mal gerne – in etwas abgewandelter Form – dem zynischen Rat von Marie Antoinette, den man ihr fälschlicherweise in den Mund gelegt hat: „Wenn das Volk keine hartes Brot mag, soll es doch kleine, weiche Häppchen essen.“ Und diese Häppchen-Kultur wird durch die neuen Medien bestens bedient.

Der weit blickende journalistische Sachverstand ist schon längst über die dynamische „Content-Anpassung“ an die wachsende Online-Querleserschaft hinaus. Man weiß, dass in Zukunft fast alles, also auch das journalistische, fast nur noch mobil auf handtellergroßen Smartphone-Bildschirmen rezipiert wird. Und darauf muss sich der „Content-Ersteller“ von heute vorbereiten, wenn er morgen noch wahrgenommen werden will:

Journalistisches Fingerfood ist das Medienrezept der Zukunft.

Die digitale Elite unter den Journalisten erprobt dieses Rezept schon bestens im News-Roulette „Twitter“. Was Heftig & Co. auf Facebook vorgemacht hat, wird in etwas ambitionierterer Form auf Twitter adaptiert. Dass dies alles dennoch den Journalismus der Vergangenheit nicht in die neue Zeit retten wird, hat bestens Wolfgang Michal auf seinem Blog beschrieben.

Nun, seit jeher ist die Bereitschaft, sich eine Meinung zu bilden vergleichsweise gering, da man ja meistens schon eine hat. Und deshalb hatten auch schon in analogen Zeiten die bildreichen und textarmen Content-Anbieter immer die meisten – nein, nicht Leser – sondern Rezipienten.

LanierSo ein Blogartikel wie diesen lesen bis zu dieser Stelle höchsten noch 2% derer, die ihn anfänglich überflogen. Und das wäre schon eine super Resonanz. Entsprechend verblüfft war ich über ein interessantes Häppchen aus Jaron Laniers Rede, mit dem er gleich zu Beginn seiner buchliebende Zuhörerschaft Manna für die Seele reichte. Die Passage habe ich hier vollständig eingefügt, da ich daran kein Wort kürzen wollte. Also – tief Luft holen – und weiterlesen:

„Im Internet gibt es ebenso viele Kommentare über das Internet wie Pornographie und Katzenfotos, aber in Wirklichkeit können nur Medien außerhalb des Internet – insbesondere Bücher – Perspektiven und Synthesen aufzeigen. Das ist einer der Gründe, warum das Internet nicht zur einzigen Plattform der Kommunikation werden darf. Wir haben am meisten davon, wenn es nicht gleichzeitig Subjekt und Objekt ist.

Aus diesem Grund schreibt ein Geschöpf der digitalen Kultur wie ich Bücher, wenn es Zeit ist, einen Blick auf das große Ganze zu werfen. Denn es besteht die Chance, dass ein Leser ein ganzes Buch liest. Zumindest gibt es einen ausgedehnten Moment, den ich mit dem Leser teile.

Wäre ein Buch nicht mehr als ein Erzeugnis aus Papier, könnten wir es nur auf die Art feiern, wie wir Klarinetten oder Bier feiern. Wir lieben diese Dinge, aber es sind eben nur bestimmte Erfindungen, aus denen sich Produkte entwickelt haben, mit ihren jeweiligen Fachmessen und Subkulturen.

Doch ein Buch greift viel tiefer. Es ist die Feststellung eines bestimmten Verhältnisses zwischen einem Individuum und der menschlichen Kontinuität. Jedes Buch hat einen Autor, eine Person, die ein Risiko auf sich genommen und eine Verpflichtung eingegangen ist, in dem sie sagt: „Ich habe einen wesentlichen Teil meines kurzen Lebens damit verbracht, eine bestimmte Geschichte und einen bestimmten Standpunkt wiederzugeben, und ich bitte euch, dasselbe zu tun, indem ihr mein Buch lest: Darf ich so viel Engagement von euch verlangen?“ Ein Buch ist ein Bahnhof, nicht die Gleise. Bücher sind ein Spiel mit hohem Einsatz, vielleicht nicht in Bezug auf Geld (im Vergleich mit anderen Branchen), doch in Bezug auf Aufwand, Engagement, Aufmerksamkeit, der Bereitstellung unseres kurzen Menschenlebens und unseres Potenzials, positiven Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Autor zu sein, zwingt uns zu einer vermenschlichenden Form der Verwundbarkeit. Das Buch ist ein Bauwerk menschlicher Würde.

Das Wesen des Buchs ist Beweis dafür, dass individuelle Erfahrung existentiell für die Bedeutungsebene ist, denn jedes Buch ist anders. Bücher aus Papier sind naturgemäß nicht zu einem kollektiven universalen Buch verquirlt. Seltsamerweise ist für uns der Gedanke normal geworden, es gäbe nur einen Wikipedia-Eintrag für ein humanistisches Thema, für das es absolut nicht die eine optimierte Darstellung geben kann; die meisten Themen sind keine mathematischen Sätze. Im Zeitalter des Buchdrucks gab es viele verschiedene Enzyklopädien, von denen jede einen Blickwinkel vertreten hat, und doch gibt es im digitalen Zeitalter nur eine. Wieso muss das so sein? Es ist keine technische Zwangsläufigkeit, trotz „Netzwerkeffekten“. Es ist eine Entscheidung, die auf dem unbestrittenen, aber falschen Dogma beruht, Ideen selbst sollten mit Netzwerkeffekten gekoppelt werden. (Manche sagen, Wikipedia werde zum Gedächtnis einer globalen künstlichen Intelligenz.) Bücher verändern sich. Einige der Metamorphosen sind kreativ und faszinierend. Ich bin entzückt von der Vorstellung, eines Tages könnte es Bücher geben, die sich mit virtuellen Welten synchronisieren, und von anderen seltsamen Ideen.“

Geschafft? Gut, dann ist dies schon das zweit Stück hartes Brot gewesen. Ich weiß noch, wie ich mich amüsierte, als Sascha Lobo damals sein Buch „Wir nennen es Arbeit“ 2008 veröffentlichte. Der Repräsentant der digitalen Netzwelt freut sich über ein selbstgeschriebenes, analoges Büchlein auf dem sein Name gedruckt ist. Da bin damals dem Klischee aufgesessen, dass man doch nicht das eine propagieren und dann das andere auch einfach macht. Ein Buch ist nun mal was anderes als ein Blog. Und es ist auch etwas Anderes eine Kolumne in Bild zu bekommen, wie Nico Lumma aktuell. Auch für ihn habe ich volles Verständnis, dass er jedes teuflische Mittel nutzt, wenn es den Zweck heiligt.

Bildschirmfoto 2014-09-30 um 23.18.52Dennoch muss ich als leidenschaftlicher Leser resümieren: was Jaron Lanier hier mit schwer verdaulichem Pathos verkündet ist bildungsbürgerliche Romantik. Zum einen sind wohl 99% aller gedruckten Bücher ebenso irrelevanter und oftmals nur eitler Content wie der im World Wide Web. Zum zweiten werden in selber Relation – Pareto war meines Erachtens ein großer Optimist – nur eins von neunundneunzig relevanten Bücher überhaupt wahrgenommen und nimmt kurzzeitig mal Einfluss auf eine gesellschaftliche Debatte. Und drittens eignen sich Bücher weit weniger zum Meinungsdiskurs als der im Netz bereitgestellte Content. Denn Bücher werden überwiegend von Evangelisten des Autors und kaum von dessen Kritikern gelesen. Denn die Bücher kosten nicht nur Lebenszeit sondern auch noch Geld.

Sicher, ein Buch zu schreiben, ist eine hervorragende mentale Aufgabe des Autors, um sich selbst zu disziplinieren, seine Gedanken, Einsichten und Urteile kritisch zu reflektieren. Doch anzunehmen, dass dieser individuelle, geistige Prozess von einer anders meinenden, kritischen Gesellschaft lesend aufgenommen wird, ist naiv. Bücher werden diesbezüglich seit Jahrhunderten ebenso überschätzt wie seit einigen Jahren die Relevanz des Internets in Bezug auf gesellschaftliche Meinungsbildung. Beide Medien erweisen sich diesbezüglich als enttäuschend und weitgehend bedeutungslos.