„Leut, begeistert Euch!“ Über Arthur Schnitzlers „Später Ruhm“

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Vorab muss ich gestehen, dass Werke Arthur Schnitzlers bislang selten in meinen Händen lagen. Doch als ich erfuhr, dass eine frühe, bisher unveröffentlichte Novelle von ihm erscheint, wurde ich sehr neugierig. Und da Schnitzler sich einem zeitlosen Thema – über die großen und kleinen Eitelkeiten im Künstlermetier – widmete, erwartete ich nicht nur ein literaturhistorische Entdeckung für germanistische Proseminare, sondern auch ein aktuell lesenswertes Panoptikum über eine eigenwillige Spezies. Und dies ist auch gelungen. Ob meisterlich oder gar sensationell mag der Schnitzler-Kenner urteilen, aber auf jeden Fall unterhaltend und amüsant.

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Schnitzlers Novelle lässt uns an der Wiener Kaffeehaus-Literatenszene Ende des 19. Jahrhunderts teilhaben. Mit dem alten Herrn Eduard Saxberger, ein kurz vor der Pensionierung stehender Beamter, nehmen wir Platz am Tisch einer Kaffeehaus-Clique von ebenso hoch ambitionierten wie bislang unbekannten Jungliteraten. Sie nennen sich „Die Begeisterten“ und meinen eigentlich „Leut, begeistert Euch über unser Genie!“. In sichtbarer Entfernung tagt auch die Konkurrenz, die zugebener Maßen zwar schon Anerkennung im Wiener Publikum gefunden habe, jedoch eigentlich talentlose Epigonen seien, die nur dem Publikumsgeschmack dienen. Eduard Saxberger tritt nicht zufällig in den Kreis ein, sondern folgt der Einladung eines „Begeisterten“, der ihn bzw. seine literarisches Werk wiederentdeckt hat. Denn Saxberger hatte vom Publikum unbeachtet in jungen Jahren – fast 50 Jahre her – eine Gedichtsammlung mit dem Titel „Wanderungen“ veröffentlicht, die der junge Mann, Herr Maier, in einem Antiquariat entdeckt. Maier ist so berauscht von seiner Entdeckung, dass er den noch lebenden Saxberger ausfindig macht, um ihm seine Begeisterung mitzuteilen und als Heroen der Dichtkunst in seinem Freundeskreis einzuführen. Eduard Saxberger kann sich der ihm schmeichelnden jugendlichen Euphorie nicht entziehen und lässt sich gern auf die Aufnahme und Verehrung in der Runde der Jungliteraten ein.

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Die dramaturgisch wohl gewollten Befürchtungen des Lesers, dass nun im Fortlauf der Geschichte die herbe Ernüchterung auf beiden Seiten folgt, werden zwar erfüllt, doch unerwarteter Weise ohne tragische Elemente. Das macht für mich das besondere dieser Novelle aus. Sie ist vollkommen frei von Effekthascherei. Sie spitzt nicht beschämend die Handlungen und Erlebnisse der Protagonisten zu, sondern alle Figuren bleiben bis zum Schluss weitgehend unbeschadet. Für Saxberger endet der Ausflug in die Welt der selbsternannten kühnen Dichter und Denker als erhellende Episode. Er erlebt keinen zweiten Frühling, in dem er sich erneut zum Dichter berufen fühlt. Die Welt der Künstler befremdet ihn letztlich doch und sein vor Jahrzehnten gewählter Lebensweg – trotz aller kleinbürgerlichen Idylle und fehlender privaten Erfüllung – war denn doch der vorzuziehende für ihn gewesen. Und die hoffnungsvollen Jungen, die Arthur Schnitzler sehr eigen und nicht stereotyp skizziert, verfolgen weiterhin ihre Träume nach Anerkennung, Popularität und baldigen Ruhm.

Parallelen der Geschichte und ihrer Figuren zur heutigen Zeit zu ziehen, erweist sich immer als etwas willkürlich. Ich denke jedoch, dass jeder Leser an einigen Stellen individuell fündig wird. So sehe ich Wesenszüge bei den „Begeisterten“, die mich an viele Teilnehmer der heutigen Blogosphäre erinnern. Besonders in der Verkündigung einzig akzeptabler Lebensphilosophien, die traditionelle Arbeitsmodelle und Lebensläufe ablehnt, klingt das doch sehr ähnlich wie die digitale Boheme heute. Und Arthur Schnitzler trifft meines Erachtens zeitlos den typischen Ton der naiven Gewissheit der Jugend als auch der ernüchtert gelassenen Bestandsaufnahme des Lebenserfahrenen.

In der Zeitung „Die Welt“ weist Daniela Strigl darauf hin, dass „Das Nachwort ein Resümee des Autors unterschlägt, Monate nach der Endkorrektur: „Verstimmt über ‚den greisen Dichter‘, den ich durchlas und der mir höchlichst mißfiel.–“ Wohl auch deshalb plädierte Schnitzlers Sohn gegen die Aufnahme der Erzählung in den Nachlassband.“

Ich denke, dass Schnitzler hier zu hart mit sich ins Gericht gegangen ist. Immerhin wurde die damals geplante Veröffentlichung als Fortsetzungsgeschichte in 8 Teilen durch eine Wochenzeitung vom Redakteur nur deshalb abgelehnt, weil die „Zerstückelung in etwa acht Partien, mit Pausen von acht Tagen die Novelle schädigen und um jede Wirkung bringen würde.“ Diese Wirkung kann sie nun nach 120 Jahren in einem schönen Buchformat voll und ganz entfalten.

Papa, was machst Du eigentlich?

Felix Mein sechsjähriger Sohn brachte mich im vergangenen Jahr in Verlegenheit: „Papa, morgen sollen wir in den Kindergarten zu „Show & Tell“ was Typisches von Papas oder Mamas Arbeit mitbringen.“

Hm, zunächst – wie wohl viele kopfarbeitende Väter heute – war ich etwas perplex. Dann begann ich zu grübeln. Meinen Kopf konnte ich ihm nicht ausleihen. Meinen Mac, mein Smartphone oder Tablet? Alles zwar hoch im Kurs bei den Kleinen, aber die wollte ich doch nicht entbehren. Und auf die Schnelle ein Flipchart oder Laserpointer war auch nicht zu organisieren.

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Unseren Kindern Berufsbilder anschaulich zu vermitteln, ist für unsere Generation eine ernsthafte Herausforderung, der wir uns mal aktiv stellen sollten. Nur wenige können ihren Kindern noch handfest und nachvollziehbar veranschaulichen, was sie eigentlich tun, was der Grund ist, dass sie tagtäglich das Haus verlassen und was sie am Ende der Woche zustande gebracht haben. Hier sind ÄrztInnen, HandwerkerInnen, LKW-FahrerInnen und Feuerwehrfrauen und -männer klar im Vorteil. Doch die Heerscharen an ManagerInnen, die wochentäglich auf Flughäfen und Bahnhöfen sehr relevant umherwimmeln, um dann in muffigen Meetingräumen und TageslichtDIN Büros ihr Tagwerk verrichten, sind am Abend vor ihrem Sechsjährigen in stotternder Erklärungsnot. So auch ich an diesem Abend. Ich kam mir vor als wenn mich ein wichtiger Kunde soeben kontaktiert hätte, und mich bittet, doch morgen mit ihm seiner/seinem VV den aktuellen Stand der neuen Produktstrategie, an der wir seit Wochen bastelten, auf eine paar Slides zu präsentieren.

Ich war also wieder hellwach und wusste, es wird eine lange Nacht, die du investieren musst, wenn du dich morgen nicht gänzlich blamieren willst. Also es musste ein konkretes Arbeitsbeispiel her. Doch was soll ein Berater und Kreativer da liefern? Bullshit-Bingo für den Kindergarten? Fände mein Sohn am Ende doch peinlich. Er hatte ja bislang immer behauptet, ich sei Polizist.

Ich öffnete den obligatorischen Rotwein, legte mir meinen Mac auf den Schoß und suchte nach passenden Arbeitsbeispielen und hoffte auf Inspiration. Und dann kam mir eine Idee, die mir, ihm und hoffentlich manch einem hier Spaß macht und ein wenig illustriert, was so einer macht, der berät und Ideen verkauft. Da ich ja nur wenige Stunden Zeit hatte, bitte ich die Bildrechte-Inhaber um Verzeihung, wenn ich mich hierfür ungefragt bedient habe.

Und wen jetzt die Resonanz meiner Kunden noch interessiert: als ich meinem Sohn am Morgen beim Frühstück die Präsentation zeigte war er noch recht skeptisch:

„Das musst Du aber alles erklären.“

„Ja, ich zeige es Verena und die hilft Dir dann, wenn Du es den anderen erklären sollst.“

„Mm. Na, gut.“

Am Abend war ich dann schon etwas aufgeregt. Wollte doch bald erfahren, ob es angekommen ist und gefallen hat. Aber mein Sohn erzählt auch nichts vom Tag ohne das man insistiert.

„Und, wie fanden es Deine Freunde?“

„Was?“

„Na, was Du heute bei „Show & Tell“ vorgestellt hast.“

„Ach, das. – Gut.“

„Ok, gut. … Fanden sie es auch interessant, lustig, haben sie es verstanden?“

„Was?“

„Na, die, die Idee und so.“

„Nich sooo. – Aber alle haben gefragt, ob wir das jetzt auch wirklich machen.“

„Ja, wenn ihr wollt.“

„Ja, klar wollen wir. Ist doch super.“

Puuh. Ist ja noch mal gut gegangen. Bin gespannt, wann ich wieder ran muss.

P.S. Ich habe selbstverständlich auch gefragt, was die anderen denn so von ihren Vätern und Müttern alles mitgebracht haben. „Handies.“ Okay, wie geschrieben, unseren Kindern Berufsbilder zu veranschaulichen, ist eine Herausforderung, der wir uns stellen sollten.

Das große Drama des Lebens, das ewige Dilemma des Daseins – ganz bescheiden verpackt.

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Es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl, so eine bescheidene Geschichte in die Hände zu bekommen, die sehr berührend das große Drama des Lebens behandelt. Alle Facetten des Dilemmas unseres Daseins, unsere Träume und unser Streben nach Freiheit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, aber auch unsere Zwänge der Selbsterhaltung, die uns gnadenlos gegenüber anderen Geschöpfen sein lassen, und unser Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit, Akzeptanz und Zugehörigkeit, die uns in unseren fürsorglichen Komfortzonen verweilen lassen, all das umfasst das knapp 160seitige Büchlein. Der Roman von Sun-Mi Hwang ist das wohltuend erzählerisch zurückhaltende Pendant zu oftmals westlich literarischer Opulenz.

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Dass ein melancholisches Huhn, eine Legehenne, als Heldin der Geschichte auserkoren ist, wird vielleicht dann naheliegend, wenn man sich die darwinistische Erkenntnis noch mal korrekt bewusst macht. Als Darwin das „Survival of the fittest“ proklamierte, entstand bei vielen das Missverständnis, Darwin hätte eine innere Logik der Evolution und damit Zielgerichtetheit entdeckt: es überlebe immer das Stärkere das Schwächere und vermehre sich entsprechend mehr. Mit der Zeit würde also das Leben auf der Erde immer stärker, robuster und cleverer. Das ist ein großes Missverständnis. Denn nicht das Starke, Kräftige, Wilde und Eigenwillige ist evolutionär besonders erfolgreich, sonders das Anpassungsfähigste, also das was besonders gut „fittet“. Es sind die Arten, die auch unter widrigsten Bedingungen überleben, weil sie sich nicht aufbäumen und wehren, sondern den Bedingungen unterwerfen. Bei den Tieren sind es denn auch die industrialisierten Haustiere, vorneweg die Hühner, die dies am „erfolgreichsten“ repräsentieren. Es gibt heute schätzungsweise mehr als 20 Milliarden Hühner auf unserem Planeten, die trotz grauenvoller, von uns gestalteter Lebensbedingungen nicht nur überleben, sondern (sich) auch noch stetig (re)produzieren. Kaum ein anderes Haustier lies sich so ideal an das menschliche Bedürfnis anpassen. Neben dem Huhn sind auch die anderen Nutz- und Haustiere die evolutionären, darwinistischen Gewinner. Denn sie machen heute 75% aller größeren auf dem Land lebenden Tiere aus, wie ich vor kurzem bei Harari lesen durfte.

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Doch nicht genug, dass das darwinistische Missverständnis uns blind für die wahren tierischen Evolutionsgewinner macht, es macht uns auch blind für den Erfolg unserer eigenen Spezies. Denn nicht unsere Willenskraft, unsere rigoros eingeforderte Freiheit, nicht unsere Selbstbestimmung und Unabhängigkeit und auch nicht unsere intellektuellen Fähigkeiten haben den Menschen zu einer dominanten Spezies gemacht, sondern unsere enorme Anpassungsfähigkeit, unser Opportunismus und Konformismus sind unsere evolutionären Erfolgsgaranten. Risikovermeidung und die Bereitschaft auf Freiheiten und Selbstbestimmtheit zugunsten von Fürsorge und Sicherheit zu verzichten, lässt die Menschheit überproportional wachsen. Milliarden von Menschen nehmen die miesesten Lebensbedingungen hin und richten sich und ihren Nachwuchs defätistisch darauf ein.

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Sprosse, so das sich selbst benennende Legehuhn, ist Sinnbild für die Masse an Mensch, die schicksalsergeben ihr Leben fristen. Wenn die eingesperrte Sprosse sehnsüchtig aus ihrem Stall blickt, um ein wenig von dem für sie begehrlichen Leben auf dem Hof zu erhaschen, so erinnert mich dies an die abertausenden Menschen, die ihren erwartungsvollen Blick tagtäglich auf einen Flatscreen lenken. Als Sprosse ihren „Burnout“ hat und nicht mehr täglich ein Ei legen mag, soll sie ausgemustert und gekeult werden. Doch sie bekommt die Gelegenheit, aus ihrem eintönigen Dasein – ihrer „Komfortzone“ – doch noch lebendig zu entkommen. Nun erfährt sie, dass auch das Drumherum im Hof nur eine etwas luxuriösere Komfortzone ist in der niemand selbstbestimmt und frei lebt. Und das dennoch jene, die dort leben, diese Zone gegen Eindringlinge, Sonderlinge und Zuwachs heftig verteidigen.

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Das Schicksal, das Sprosse zunehmend selbst in die Hand nimmt, zwingt sie dann zur Flucht in die „Wildnis“ und erfüllt ihr dann gar einen Herzenswunsch: endlich ein Ei ausbrüten und die Verantwortung für ein junges Leben zu übernehmen. Es schlüpft ein Wildentenküken, welches Sprosse durch die ersten Phasen seines Lebens mütterlich begleitet. Es verfügt über alle Anlagen zu einer freien, selbstbestimmten Entfaltung, die bei domestizierten Tieren schon degeneriert sind. Das Küken entdeckt von allein, dass es Schwimmen und bald auch das es Fliegen kann. Es entdeckt aber auch, dass es ein Sonderling ist, da es von einer Henne aufgezogen wird und weder Akzeptanz bei den gestutzten Hausenten noch bei den Wildenten findet. Der heranwachsende Erpel steht dann vor image-1seiner Lebensfrage, ob er bequem und saturiert in einem Hof leben möchte, oder sich einem Schwarm von wilden Artgenossen anschließt. Hierbei kommt es zum Generationenkonflikt mit seiner Adoptiv-Mama, die ihn bekniet, doch auf seine wilde Art zu leben. Er aber entscheidet sich für die komfortable Welt bis er – zu spät – erkennen muss, dass ihm diese nur unter der Bedingung zugestanden wird, dass er sich im wahrsten Sinne des Wortes (fest)binden lässt. Denn letztlich soll er hier einmal als fetter Braten auf dem Tisch der Bauersleute enden. Dem Mut seiner Adoptiv-Mama verdankt er es, doch wieder die Freiheit zu erlangen. Aber diese Freiheit hat ihren Preis: kaum Schutz, große Gefahren.

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Schon zu Beginn der Erzählung, wenn Sprosse ihren neuen, freien Lebensweg einschlägt, begleitet sie – wie ein Schatten – nun auch immer die wachsende Gefahr: Schutzlosigkeit vor Kälte, die mühevolle Nahrungssuche, die immerwährende, tödliche Bedrohung durch ein jagendes Wiesel. Das Wiesel versinnbildlicht die stetigen Risiken, die mit unseren Wagnissen im Leben einhergehen. Nur wenn wir Widerstand leisten, immer wachsam sind, können wir diese Gefahren verringern. Mit der erfüllenden Herausforderung, der sich Sprosse gestellt hat, ihr Wildentenküken aufzuziehen, entwickelt sie die Courage, diese Lebensaufgabe erfolgreich zu meistern. Und letztendlich gelingt es ihr gar das irgendwann erwachsene Kind los- und ziehen zu lassen, sich mit der ewigen Bedrohung zu versöhnen und sich damit den Traum vom Fliegen zu erfüllen.

image-6Sun-Mi Hwang und der Illustrator Nomoco schenken uns einen ebenso leise stimmigen, wie tiefgängigen Roman, den ich zu einem meiner unvergesslichsten Leseerlebnisse zählen werde. Dass dieser Roman offenbar seit 10 Jahren schon auf der Bestsellerliste von Südkorea steht, verwundert mich nicht. Dass es so lange braucht, bis dieser Roman auch eine internationale Entdeckung und Anerkennung findet, ist für unser westliches Feuilleton fast ein wenig beschämend. Zeigt es doch einmal mehr, wie fokussiert wir nur westwärts schauen – und dabei auf dem Weg zur Einheitskultur sind. Aber es ist sicher nur eine Frage von wenigen Jahrzehnten, bis wir auch die östlichen Einflüsse bis zur Unkenntlichkeit gänzlich absorbiert haben werden.

Im Nachgang habe ich nochmals recherchiert und bislang nicht eine Besprechung des Buches in den großen Feuilletons gefunden. Doch dafür in der Blogosphäre sehr schöne Rezensionen, die (fast) einhellig ebenso begeistert sind:

Bei Herzpotential, beim Lese-Leuchtturm, bei Blütenstaub, bei Papier und Tintenwelten, bei Katjas Lesewolke und eine etwas enttäuschte bei Karo Kafka.