Wozu brauchen wir Romane?

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Es ist seit langem das Klügste, was ich über die zeitgenössische Literaturrezeption gelesen habe. Tim Parks Buch „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen.“ wünsche ich mir als Basislektüre für ein literaturwissenschaftliches Proseminar. Ungeeignet ist es jedoch für angehende Buchhändler, die in ihrem Glauben an den Mehrwert ihres Handelsobjektes erschüttert werden könnten. Jeder, der sich in dem Diskurs über „Literatur, Stand heute“ einbringen will, kann sich mit diesem Buch perfekt munitionieren. Denn es bestätigt sicher nicht nur viele Thesen, die man schon selbst gerne mal in den Raum stellte, sondern erweitert auch den Einblick, da Tim Parks jede Menge handwerkliche Erfahrungen aus seiner Arbeit als Romancier, Übersetzer, Literaturkritiker und Dozent einbringt.

Mit allerhand Fragen leitet Tim Parks sein Buch ein, die man sich eigentlich innerhalb eines mehrjährigen Literaturstudiums als Leitfaden aufhängen sollte. Hier eine willkürliche Auswahl:

„Was versprechen sich Autoren vom Schreiben? Geld? Anerkennung? Einen Platz in der Gesellschaft? Ist es Therapie?“

Oder:

„Möchte ich lesen, was die anderen lesen, damit ich mich mit ihnen unterhalten kann? Welche anderen sind das? Lese ich, um meine Sicht auf die Welt zu bestätigen, oder um sie infrage zu stellen? Warum sind wir so oft unterschiedlicher Meinung über die Bücher, die wir lesen?“

Und schwergewichtiger:

„Können Bücher überhaupt irgendetwas verändern? Haben sie bei all ihrem angeblichen Liberalismus die Welt tatsächlich liberaler gemacht? Oder sind sie nur das Feigenblatt,…?“

In vier Teilen arbeitet sich Tim Parks an den eingangs gestellten Fragen ab. Nein, „abarbeiten“ ist ein unpassender Begriff für dieses sehr angenehm und schlüssig gegliederte Buch, das man nicht Sachbuch nennen mag, um ihm bloß nicht den Anschein trockener Wissenslektüre zu geben. Man schmunzelt beim Lesen dieser akademisch unverkrampft verfassten Prosa fast unentwegt.

Zunächst betrachtet er „Die Welt des Buches“ und fragt sich, ob wir überhaupt Geschichten bedürfen. „Menschen tendieren dazu, Geschichten, egal welcher Art, zu benutzen, um ihren Glauben zu untermauern, nicht, um ihn infrage zu stellen.“

Eine These, die ich unterschreibe und gegen die sich aber viele fundamentalistische Leser wehren werden. Betrachten wir lang tradierte Werte unserer Kultur, so werden sie jedoch einzig in der Romanliteratur stetig manifestiert. Im realen Leben werden sie ständig von uns unterlaufen. Beziehungen können im Roman nur glücklich werden, wenn sie auf gegenseitig begehrender Liebe gegründet sind. Glück stelle sich für die Protagonisten nur ein, wenn ihnen ein freier Wille attestiert werden kann. Macht, so suggeriert man uns, sei per se immer ein Unterdrückungsmittel, um egoistische Interessen durchzusetzen. Und Freiheit ein Gut, für das zu sterben es sich lohne. Wahre Selbstverwirklichung ist den vielen Geschichtenerzählern nur vorstellbar, wenn Individualität entwickelt und toleriert wird. Und so fort.

Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus: Macht erweist sich hier als ein notwendiges Mittel, um Dinge zum Guten zu wenden oder Sicherheit zu bewahren. Beziehungen sind weitaus glücklicher, wenn das gemeinsame Vermögen in dem Maße wächst wie die Liebe abnimmt. Und die Beschneidung der Freiheit führt nicht zu Kämpfen, sondern wird weit eher gefordert, um sich in Sicherheit zu wiegen. Ein Robin Hood ist in unserer Realität ein Terrorist, Romeo und Julia sind naive Pubertiere und Pippi Langstrumpf eine wohlstandverwahrloste Göre. Da der Idealismus in Romanen sich diametral zur Realität verhält, setzen wir bei einem seriösen, anspruchsvollen Roman voraus, dass er unglücklich bzw. traurig endet. Nur dann können wir das Ende halbwegs glaubhaft finden.

Dann betrachtet Tim Parks ein jüngeres Phänomen, das die Leserschaft ebenfalls gerne ignoriert: Der langweilige neue globale Roman. Exemplarisch dafür las ich vor kurzem Leon de Winters „Geronimo“. „Seit einigen Jahren höre ich von Autoren …, wie enttäuscht sie seien, keinen englischsprachigen Verlag für ihre Werke gefunden zu haben; interessanter Weise beklagen sie sich darüber, dass dieser Misserfolg ihrem Prestige im eigenen Land schadet:…“ bemerkt Parks.

geronimo-9783257069716Auf das Phänomen der Globalisierung der Literatur geht er im Buch noch häufiger ein. So auch auf den Aspekt, warum immer mehr angelsächsische Literatur übersetzt und begeistert gelesen wird, obwohl hier inhaltlich und sprachlich kaum global geglättet wird, sondern alles sehr amerikanisch bleiben soll. Die Werke von Jonathan Franzen, den Parks nicht besonders schätzt, sind dafür ein zunächst irritierender Beleg. Doch bei tieferer Rückschau auf unser Leben, wird uns bald klar, dass wir die Generation sind, die von Kindheit an Englisch lernte und durch unzählige US-Filme, TV-Serien sowie Musik Amerika als eine uns vertraute, parallele Kultur verinnerlicht haben. Wir tauchen also – was viele Leser ja bevorzugen, statt auch mal befremdet zu lesen – bei US-Literatur in eine Parallelwelt ein, die wir wohlig exotisch fern finden, jedoch zugleich auch gut zu kennen glauben. Das ist bislang anderen „Kulturnationen“ nur sehr eingeschränkt gelungen.

Wenn Tim Parks dann der Frage nachgeht, warum wir uns bei Romanen so selten über deren Wertschätzung einig sind, stellt er eine sehr faszinierende und schlüssige These auf und zwar, „dass die Art, wie wir auf Romane reagieren, vor allem etwas mit der Art von „System“ (z.B. Familienkonstellation, Anm. von mir) oder „Gesprächen“ zu tun haben könnte, mit denen wir aufwuchsen und innerhalb derer wir uns eine Position suchen und eine Identität aufbauen mussten.“

Erläutert wird das u.a. anhand der eigenen Kindheitserfahrung: „In meiner Familie zum Beispiel zählten Mut oder Unabhängigkeit, Erfolg oder Gemeinschaftssinn nie besonders viel, sondern Güte, unter der gewöhnlich Verzicht verstanden wurde.“ Seine beiden Geschwister hätten sich dazu mit ihren literarischen Präferenzen entweder in Opposition begeben (Bruder), also wurde besonders abenteuersüchtig, oder brav angepasst (Schwester) und es dann bevorzugt, heile Welten zu betreten. Die Untermauerung seiner These kann ich aus Längengründen an dieser Stelle nicht weiter erörtern. Sie ist im Buch sehr plausibel.

Alle vier Teile (1. Die Welt des Buches, 2. Das Buch in der Welt, 3. Die Welt des Schriftstellers und 4. Schreiben rund um die Welt) sind überzeugende, jeweils andere interessante Perspektiven auf das betitelte Thema. Er widmet sich auch der kuriosen Wandlung im Auge der Betrachter, sobald sich ein Möchtegern-Schriftsteller als veröffentlichter Schriftsteller entpuppt, also aus der belächelten Autorenlarve ein im Buchhandel zu erwerbender Schmetterling wird: „…welche Auswirkungen hat dieses Umschwenken von Spott zu Verehrung auf den Autor und sein Werk, und auf die Literatur im Allgemeinen?“

Die Bedeutung des Geldes für das Schaffen wird ebenfalls erörtert, wie auch der Einfluss und die Bedeutung der Literaturagenten, Lektoren und Übersetzer, die in diesem Fall Ulrike Becker und Ruth Keen waren und m. E. sehr gut die Tonalität Tim Parks ins Deutsche übertragen konnten. Abgeschlossen wird das brillante Buch, indem Tim Parks amüsiert und kritisch die deutsche Verfilmung seines Romans „Cleaver“ betrachtet:

„Ich habe das Gefühl, die Produzenten haben sowohl ästhetisch als auch angesichts des Rahmens, in dem sie das Projekt umsetzen mussten, die richtigen Entscheidungen getroffen. Der größenwahnsinnige Tim Parks allerdings hätte seinen Namen lieber auf den Leinwänden der großen weiten Welt gelesen.“

Tim Parks geht mit sich, seinen Kollegen sowie mit den von ihnen geschaffenen Werken sehr offen, nüchtern und klärend um. Er nimmt keine Rücksicht auf die häufige Verklärung, die sich gerne mit der Person des Schriftstellers als auch mit dessen Arbeiten bei vielen Lesern einstellt. Manch einer mag das schon als zynisch befinden, ich finde es erhellend, anregend und sicher nicht widerspruchsfrei:

„In einer Welt, die einerseits allergrößten Wert auf die Emanzipation des Individuums legt, die anderseits aber so komplex und vernetzt ist, dass sie ein gewisses Maß an Verhaltenskonformität verlangt, ist es sicher einleuchtend, dass wir uns gerne Erzählungen ausdenken, die unserem individuellen „fortschrittlichen“ Geist schmeicheln, aber uns davor abschrecken, in seinem Sinne zu handeln.“

Mir leuchtet das ein.

 

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Und Uwe Kalkowski traf Tim Parks mit Peter Stamm vor kurzem bei Zürich liest und fand: „Es war ein großes Vergnügen, diese beiden charmanten, witzigen und brillanten Autoren live zu erleben.“

6 Gedanken zu “Wozu brauchen wir Romane?

  1. Das Buch war auch für mich eine sehr positive Entdeckung. Eigentlich habe ich es mir nur gekauft, weil ich Denis Scheck mal live sehen wollte. Er moderierte eine Lesung mit Tim Parks. Zur Vorbereitung las ich ich mich an das Buch ein und darin fest. Ich werde es noch oft in die Hand nehmen.

  2. Das klingt nach einem interessanten Buch, das sehr zum Nachdenken anregt. Danke für die tolle Rezension!
    Liebe Grüße,
    Cora

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