Was, wenn das Netz nicht Spiegelbild unserer Gesellschaft ist, sondern Röntgenbild?

kobek

Es ist wirklich ein grottenschlecht geschriebener Roman – wie der Autor selbst ankündigt – , aber man sollte ihn unbedingt lesen. Zumindest dann, wenn man etwas über die aktuelle Befindlichkeit der USA erfahren möchte, man begreifen will, warum sich aus der „kalifornische Ideologie“ der High-Tech Elite, geboren aus Ayn Rands kruder Philosophie des „Objektivismus“, eine verheerende, bigotte Weltanschauung bildete, und wenn man derzeit ratlos ist, wie es mit diesem Internet eigentlich weitergehen soll.

Letzteres beantwortet der Amerikaner Jarett Kobek in seinem Roman „Ich hasse das Internet“ zwar nicht fortschrittlich, doch er bietet uns eine überzeugend gnadenlose „disruptive Technologie“ an:

„Büchermenschen waren die Einzigen mit dem nötigen Rüstzeug, um dem Elend des Internets zu widerstehen! Büchermenschen sind die Einzigen, die halbwegs interessant gegen das Internet angehen können.“    

Kobek rotzt die Geschichte hin und kotzt sich dabei gänzlich aus – das aber (satirisch?) gänzlich politisch korrekt. Wäre der Roman ein Essay, wäre er halt viel zu lang geraten. Deshalb konstruiert der Autor in alter, amerikanischer Tradition einen fiktiven Rahmen, in dessen Mittelpunkt die Mitvierzigerin Adeline steht, also eine Digital-Immigrantin. Adeline ist weiß, (noch) attraktiv, finanziell unabhängig und unangepasst, also der Prototyp einer MILF.

In digitalen Vorzeiten verdingt sie sich als Comic-Zeichnerin mit passablem Auflagenerfolg, jedoch nur geringem finanziellem. Zu „Ruhm“ – und nicht nur 15 Minuten – gelangt sie erst durch die Segnungen der Netzwerke. Ein YouTube-Video, in dem recht derbe Statements von ihr während einer Vorlesung vor Studenten aufgezeichnet sind, wird zu einem heftig diskutierten Viral-Hit.

Zunächst ist sie bestürzt, ob der vielen beängstigenden Anfeindungen, Beleidigung und ordinären Anzüglichkeiten, die in der Kommentarfunktion des Videos zu lesen sind und die sie per Mail erreichen. Doch es gibt auch viel Zustimmung und Solidarisierung. Letztlich bemerkt sie, dass ihre alten Comics wieder vermehrt nachgefragt werden und einige Medien an Interviews mit ihr interessiert sind. Sie geht in die Offensive und legt ein Facebook-Profil und einen Twitter-Account an. Nach kurzer Zeit hat sie 15000 Follower und tweetet munter mal sinnige oder auch schräge Sprüche.

Um Adeline herum gruppiert Jarett Kobek sein Alter Ego J. Karacehennem und jede Menge Freunde und Bekannte, die offenbar eine exemplarische Type verkörpern sollen. Begegnungen mit ihnen werden kurzbiografische Vorstellungen vorangestellt und kleine Anekdoten erzählt. Und es gibt dann noch ein reichliches Ensemble an noch lebenden und schon gestorbenen Persönlichkeiten, die der Autor lexikalisch oder besser wikipedisch beschreibt. Das können ehemalige US-Präsidenten sein, das sind viele Gründer und CEOs aus der New-Economy, das sind Stars und Sternchen aus Hollywood, Autoren, Pop-Musiker, deren Songs ja eigentlich immer nur sechs Themen behandeln: „Liebe, Rum, Sex, Liebeskummer, Geld und hässlichen Scheiß, den man kaufen möchte.“ und immer wieder Ayn Rand.

Wer (fast) nichts über Ayn Rand weiß, sollte das umgehend ändern. Neben den Wikipedia-Einführungen, empfehle ich dieses aktuelle Feature vom Deutschlandfunk. Für uns Europäer ist kaum nachvollziehbar, wie einflussreich und weltanschaulich relevant diese Frau in den USA war und noch ist. Es gibt unzählige Prominente die sich als Jünger von ihr bekennen und ihre „Philosophie“ als persönliche Offenbarung bezeichnen. Zu den bekanntesten gehören Alan Greenspan, der ihr sehr nahe stand, Jeff Bezos, Julian Assange, Peter Thiel, Travis Kalanick, Sandra Bullock, Jimmy Wales, der Erfinder von Wikipedia, Eva Mendes und Angelina Jolie, die kurzeitig gehandelt wurde als Darstellerin in der Verfilmung des Romans „Atlas“. Dieser 1200-Seiten Wälzer wurde angeblich zum einflussreichsten Buch in den USA nach der Bibel gekürt, also sozusagen die neoliberale, kapitalistische Bibel. Denn Ayn Rand ist Hardcore-Kapitalistin und -Moralistin. Sie predigte einen rigorosen Egoismus, der der Gesellschaft deutlich mehr diene als jegliche staatliche Fürsorge und ökonomische Einmischung. Wer Ayn Rand und ihre propagierte Haltung nicht kennt, der kennt offenbar nicht die maßgebliche Ideologie der Wirtschaftselite in den USA.

Besonders die Reaktionen vieler reicher Kalifornier, allen voran die High-Tech Elite, auf die Wahl Trumps, erklärt sich mir jetzt deutlich besser. Denn wer annimmt, dass Ayn Rand nur Kultfigur von republikanischen US-Bürgern sei, irrt sich. Ayn Rands Thesen bildeten den Humus für die „Kalifornische Ideologie“, die in den 90igern sich als Utopie der Weltverbesserung durch High-Tech manifestierte und treibende, ideologische Kraft fast aller Internet-Konzerne bis heute ist. Viele Science-Fiction-Romane und einige Videospiele nahmen Elemente ihrer Weltanschauung auf. Noch geben dort alle offiziell vor, von den Segnungen der New-Economy überzeugt zu sein. Sie sei die technologische Basis für einen freien Markt, auf dem sich jeder gleichberechtigt durchsetzen könne.

atlasEs gehört schon die weltferne Naivität einer Marie Antoinette dazu, die dem französischen Volk vor der Revolution einst geraten haben soll, es solle doch Kuchen essen, wenn es kein Brot habe, wenn heute jemand ernsthaft erklärt, dass die New Economy eine bilderbuchartige freie Marktwirtschaft schaffen würde. Dass die reichen Internet-Milliardäre, die Hollywood-Industrie und ihre Promis überwiegend lieber Hillary Clinton wünschten, hat keinen sozialpolitischen Hintergrund, sondern ist der unsäglichen, verkommenen und verlogenen PR geschuldet, in der sich diese Unternehmen und ihre Vertreter als Weltverbesserer gerieren. Ein Image, das die Netzfirmen wie ein schützendes Schild vor sich halten, damit keiner sieht, dass sie überwiegend mit einer schnöden Sache ihr Geld machen: Werbung, die penetrant zum Konsum von Dingen auffordert, die überwiegend unnötig, ungesund, hässlich und unter katastrophalen Bedingungen in Niedriglohnländern produziert werden. Und mit den Millionen von Dollars, die damit verdient werden, kaufen sich die Profiteure völlig überteuerte, scheußliche Statussymbole, um Menschen neidisch zu machen, die sie eigentlich verachten.

Ja, all das und vieles mehr an Scheinheiligkeiten thematisiert Jarett Kobek in seinem „nützlichen“ Roman. Wie viel Satire, wie viel Sarkasmus, wie viel Ironie sich dabei im Roman verbirgt, ist nicht immer offensichtlich. Warum es so schlecht geschrieben ist, begründete er in seiner lesenswerten Rede anlässlich der Buchmesse in Frankfurt und entschuldigt sich damit bei den Verlagen, die den Roman zunächst alle abgelehnt hatten. Gegen alle Widerstände wurde es doch noch gedruckt und durch Mundpropaganda in den USA ein großer Erfolg. Schauen wir mal, ob wir das hier auch hinbekommen.

Doch eines – egal, ob polemisch oder ernst gemeint – nervt gewaltig: die politisch hyperkorrekte Gesinnung, die der Autor vor sich herträgt.

Die Primärbeschreibung fast jeder Figur kann man noch als ironisch redundanten Kunstgriff interpretieren:

„Kobe Bryant war ein Basketballspieler mit Eumelanin in der Basalschicht seiner Epidermis. Diese Präsidenten waren: Ronald Reagan, Georg Bush I, Bill Clinton, Georg Bush II. Keiner von ihnen hat Eumelanin in der Basalschicht der Epidermis. Einige Latinos hatten etwas Eumelanin in der Basalschicht der Epidermis.“

Doch wohl ernst gemeint ist die Anbiederung an die weibliche Leserschaft:

„Die meisten Gesellschaften, die von Männern beherrscht wurden, maßen dem Essen und Töten höchsten Wert bei. Indem man Kraft so viel höher bewertete als Intelligenz, ging man geschickt darüber hinweg, dass Frauen klüger waren als Männer.“

Es geht in einem fort, dass im Roman alle Repräsentanten einer ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheit sympathisch sind und inklusive der gesamten weiblichen Bevölkerung ständig von smarten, feisten oder glatzköpfigen Typen, die aussahen wie ein riesiger Penis ohne Eumelanin in der Basalschicht der Epidermis, diskriminiert und ausgebeutet werden.

Man ist fast versucht, zu schreiben, das wäre einem alles zu sehr schwarz/weiß, muss sich aber korrigieren, da „schwarz“ ja in diesem Fall mit „böse“ und „weiß“ mit „gut“ konnotiert ist, was natürlich unter dem Aspekt des Eumelanins in der Basalschicht der Epidermis sofort zu einer politisch inkorrekten Assoziation führt.

Doch letztlich ist für seinen gesellschaftskritischen Rundumschlag auch der Anteil des Eumelanin in der Basalschicht der Epidermis unerheblich, wenn er über uns alle, die wir hier auf unsere Bildschirme starren, schreibt:

„Wie sollte man vernünftig mit Leuten reden, die ihre Diskussionen über Menschenwürde auf Geräten führten, die in China von Slaven zusammengebaut worden waren.“

Dennoch, wie ich zu Anfang schrieb, der Roman ist lesenswert, weil er eine bissige Demaskierung unseres smarten Zeitgeistes ist, der die schöne, neue Welt der Netzökonomie und Digitalisierung verklärt und die heftigen, disruptiven Nebenwirkungen als nötige Kollateralschäden achselzuckend hinnimmt.

Jarett Kobecks „Suada in Sachen Moral im Internetzeitalter“, die von Eva Kemper übersetzt wurde, ist selbst auch zeitgeistig. Vor wenigen Jahren hätte die große Mehrheit der Netzapologeten den Titel sicher nur belächelt. Heute stimmen einige ins Klagelied schon ein. Doch wir alle wissen, umkehren lässt sich das alles nicht. Besser wir lernen, das Netz zu beherrschen, indem wir uns selbst mehr beherrschen.

Nicht nur inhaltlich, sondern auch literarisch begeistert ist David Hugendick in der Zeit.

Sehr informativ, aber teils auch kritisch schreibt Wolfgang Höbel im Spiegel der den Verweis auf Ayn Rand für überzogen hält.

Und Dirk Kniphals im Deutschlandfunk mag das Buch mit ähnlicher Einschränkung wie meiner auch.

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