„Stoner“, der liebenswürdige Purist.

Bildschirmfoto 2014-10-27 um 12.44.54Wäre es eine Biografie, so müsste man sie als Widerspruch zu Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschem“ lesen. Denn vieles Entscheidende im Leben der Romanfigur läuft falsch: Ehe, Karriere, Vaterschaft, Freundschaft und Liebschaft. Doch Stoner bleibt sich treu und zeigt Haltung gegenüber allen, die ihm nicht wohlwollen. Sicher wundert man sich über viele seiner Lebensentscheidungen, die einmal getroffen auch nicht mehr revidiert werden. Jegliche Chance, auszubrechen, einen Neuanfang zu wagen, erwägt er nüchtern und entscheidet sich immer für den bekannten Status quo. Er repräsentiert damit den Typ Mensch, der es vorzieht, sich in seinen bekannten unglücklichen Umständen einzurichten anstatt etwas zu wagen und die Chance auf das Glück zu ergreifen. Positiv umschrieben, sind es Menschen mit sehr bescheidenen Erwartungen an das Leben. Ein sicher nicht seltener Zeitgenosse – damals wie heute. Doch ist das falsch gelebt?

Rückblickend könnte Stoner dies vermuten lassen. Denn wirklich zufrieden ist er mit dem nicht, was er am Ende seines Lebens erreicht hat. Und auch der Leser könnte einstimmen. Denn der Roman löst nichts davon ein, was man gemeinhin von einem Roman erhofft: die persönliche Entwicklung und Reifung des Protagonisten aufgrund außergewöhnlicher Lebensumstände und Schicksalseinflüsse, aus denen am Ende entweder ein tragischer oder ein geläuterter Held erwächst. Bei Stoner empfindet man fast umgekehrt. Alle und alles um ihn herum wandelt sich, nur er nicht.

Author John Williams

Author John Williams

Und dies ist für mich das Überraschende am späten Erfolg des Romans. Es wäre viel leichter zu erklären, warum er bislang keine größere Leserbegeisterung fand als nachzuvollziehen, warum er jetzt so enthusiastisch (Spiegel, Die Zeit, NZZ) aufgenommen wird. Sicher, in Form und Stil ist der Roman herausragend, einmalig puristisch und damit vorbildlich für alle angehenden Autoren. Ein perfektes Studienobjekt für kreatives Schreiben. Schon dafür gebührt ihm große Beachtung. Doch die Geschichte müsste Lektoren zurückschrecken lassen und den Leser am Ende frustrieren – denn wer wünscht sich schon ein Buch zu lesen das sich der Ereignislosigkeit eines ganz durchschnittlichen Lebens widmet?

Da das offensichtlich nicht so ist, lässt sich vielleicht vermuten, dass heute – also fast 50 Jahre nach Ersterscheinen des Buches – doch einige Menschen mehr akzeptieren, auch mit dem erreichten Mittelmaß im Leben und in ihrer Gesellschaft zufrieden zu sein. Und sie erkennen in der Figur Stoner an, dass es nicht der sichtbare Status ist, nicht der Habitus, der eine für uns interessante Persönlichkeit ausmacht, sondern vermehrt ihre Haltung, Charakter, Güte, Toleranz, Empathie – vorausgesetzt, wir lenken unsere Aufmerksamkeit darauf. Dies tut John Williams in seinem Roman und lässt uns viel in das Innere des Helden „Stoner“ blicken, zum Beispiel über seine Erkenntnisse die Liebe betreffend:

„Als William Stoner sehr jung war, hatte er die Liebe für einen vollkommenen Seinszustand gehalten, zu dem Zugang fand, wer Glück hatte. Als er erwachsen wurde, sagte er sich, die Liebe sei der Himmel einer falschen Religion, dem man mit belustigter Ungläubigkeit, vage vertrauter Verachtung und verlegener Sehnsucht entgegen sehen sollte. Nun begann er zu begreifen, dass die Liebe weder Gnade noch Illusion war; vielmehr hielt er sie für einen Akt der Menschwerdung, einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte.“

Man findet viele solcher betörenden Stellen im Roman und beendet das Buch mit dem Gefühl intensiv am Leben eines sehr liebenswürdigen Menschen teilgehabt zu haben. Das ist für mich hohe Kunst des Erzählens.

Es freut mich, dass es auch anderen Bloggern ähnlich ergangenen ist: Feiner Reiner Buchstoff, Glanz und Elend, Buzzaldrins, aus.gelesen, kapri-ziös.

6 Gedanken zu “„Stoner“, der liebenswürdige Purist.

  1. Hallo Thomas,
    wie ich in deiner Rezension lese, siehst du in Stoners Leben doch sehr den Ausdruck von Mittelmaß. Und eben die Akzeptanz dieses Mittelmaßes. Es muss nicht immer alles perfekt sein.
    Wie stehst du persönlich zum Mittelmaß? Was möchtest du für dich einmal erreicht haben?
    Viele Grüße
    Janine

    • Danke für Deinen Kommentar, Janine. Bevor ich Deine Frage konkret beantworte, muss ich noch darauf hinweisen, dass für mich die Akzeptanz des Mittelmaßes zweierlei Ausprägung hat.

      Die eine Ausprägung ist die Akzeptanz in seinem Leben gewisse Dinge bzw. Leistungen nicht überdurchschnittlich vollbringen zu können. Wir lernen also trotz all unserer Willensanstrengungen zu akzeptieren, dass unser Talent oder unsere Physis oder unsere intellektuellen Fähigkeiten limitiert sind. In diesem Fall liegt die Lebenskunst darin, es irgendwann neidlos und aktiv anerkennen zu können, dass andere besser sind.

      Die andere Ausprägung ist die Akzeptanz des Mittelmaßes, die aus einer persönlichen Kapitulation resultiert. Wir kapitulieren vor unserem inneren Schweinehund, vor unserer fehlenden Willenskraft, unzureichender Motivation, unserem Opportunismus und/oder verführerischen Bequemlichkeit. In diesem Fall unterscheidet sich dann im Laufe des Lebens der zufriedene Lebenskünstler vom ewig latent unzufriedenen Jammerer. Letzterer ist ein recht häufig anzutreffender Typus, der überwiegend die äußeren Umstände für sein unerreichtes Lebensglück verantwortlich macht. Der Lebenskünstler hingegen ist überwiegend selbstkritisch. Er erkennt an, in seinem Leben ein Optimum aus gegebenen Optionen und persönlicher Anstrengungen erreicht zu haben und ist damit letztlich auch zufrieden – bei „heiterem Gemüt“ sogar glücklich.

      Stoner ist für mich exemplarisch für hochbegabte Menschen, denen mit der Zeit die Luft ausgeht bzw. Motivation abhanden kommt, alles aus dieser Begabung herauszuholen. Sie geben sich auf halber Strecke zufrieden. Dies ist legitim, jedoch auch bedauerlich. Zugleich ist er aber auch jener Lebenskünstler, von dem ich zuvor sprach. Das macht ihn sympathisch. Er lamentiert nicht und hadert nicht mit seinem Schicksal, wie es viele andere tun würden. Darin ist er für mich fast vorbildlich.

      Was nun aber seine unzureichend genutzte Begabung und Optionen betrifft, so gibt es ein schönes Zitat von Aristoteles:

      „Wo sich deine Talente mit den Bedürfnissen der Welt kreuzen, dort liegt deine Berufung“.

      Dieses Zitat legt eine Haltung zugrunde, die uns heute mehr und mehr abhanden gekommen ist: gesellschaftliche Verantwortung. Viele erachten ihre Talente, ihre glückliche Herkunft und ihre Ausbildung als individuelles Gut, über das sie alleine bestimmen wollen. Dies ist zwar damals wie heute legitim, doch meines Erachtens auch egozentrisch.

      Wenn man die Voraussetzung hat, überdurchschnittliches leisten zu können, soll man dies nicht nur zur eigenen Befriedigung des Egos tun. Denn immer sind auch andere daran beteiligt, dass man so weit kommen konnte. Eltern, Lehrer, Trainer, Freunde und nicht zuletzt eine Gesellschaft, die uns helfen, unsere Begabungen auszubilden. Wir sollten also auch immer den Respekt haben, etwas dafür zurückzugeben. Dieses Zurückgeben sollte also meines Erachtens auch in der eigenen Erwägung einbezogen sein, wenn man sich fragt, ob man schon alles erreicht hat, was man könnte.

      Und damit zur konkreten Antwort auf Deine Frage: ich werde dieses Jahr 54. Da hat man schon einiges getan, worüber man reflektieren kann, ob man da im zufriedenstellenden Maße was geleistet hat. Ich bin da weitestgehend mit mir im reinen. Und ich habe noch die wunderbare Aufgabe, meinen siebenjährigen Sohn ins eigene Leben zu begleiten. Da gibt es noch einige Herausforderungen. Bislang bin ich eher der Lebenskünstler. Sicher hätte ich noch einiges mehr an gesellschaftlicher Anerkennung erreichen können, wenn ich mich häufiger aus meiner Komfortzone herausgewagt hätte. Doch zu früh habe ich Oscar Wilde gelesen, der einmal sehr treffend schrieb:

      Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers.

      Besonders das deutsche Wort „Ehrgeiz“ zählt für mich zu den hässlichsten Wörtern in unserer Sprache. Es konnotiert eine Haltung, die ich nicht mittragen möchte. Ich geize niemanden die Ehre und freue mich über jeden, der meisterliche Leistung erbringt.

      So, nun aber genug. Als letztes vielleicht nur noch eine Empfehlung zu einem Buch über das ich ebenfalls resümiert habe und das auch die Frage über die Eigenverantwortung unserer Talente stellt: https://thomasbrasch.wordpress.com/2014/12/04/das-leben-eine-unvollendete-symphonie/

  2. Habe das Buch heute morgen auf meine Wunschliste gesetzt, jetzt wird es ganz nach oben wandern. Sehr schöne Besprechung jedenfalls, die noch neugieriger macht. Denn ist es nicht gerade auch eine hohe Kunst, eine Nicht-Entwicklung so zu erzählen, dass der Leser dabei bleibt?

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