„Ausbildung Internet“ – da sind wir alle Lehrlinge.

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Der Zauberlehrling illustriert von Sabine Wilharm

Ich schätze das Engagement von Gesche Joost, Nico Lumma & Co. sehr. Doch ihrer gewünschten Bildungsoffensive mag ich nicht folgen. Bevor mein jetzt siebenjähriger Sohn das Programmieren in der Schule lernen soll, möchte ich, dass er nicht nur Goethes Zauberlehrling selbst lesen kann (vorgelesen aus der schönen Ausgabe des Kindermann Verlages, illustriert von Sabine Wilharm habe ich schon), sondern auch verstanden hat, was die Geschichte zeitlos macht. Und zudem begriffen haben sollte er, dass es beim Internet keinen Zaubermeister gibt, den er im Zweifel rufen kann. Weder den gesetzgebenden Staat, noch einen der unzähligen Gurus und erst Recht nicht die Millionen Evangelisten, die vor ihr fehlendes Wissen schützend den „Alles wird Gut-Glauben“ stellen.

Selten ernst zu nehmender als in diesen digitalen Zeiten ist Kants Definition zur Aufklärung: Kant_gemaelde_1

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

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Sokrates erhält den Schierlingsbecher

Die Begeisterung für die Digitalisierung und die Netzwelt treibt mich seit Jahren an – privat und beruflich. War es in den 90er die Digitalisierung der Medien (Musik, Foto, Literatur), der Mobilfunk und das aufkeimende Internet, so war es zu Beginn des Jahrtausend Mobile Marketing, eCommerce und den Wandel in der Kommunikations- und Entertainmentbranche (Gaming, Applikationen, Social-Media) mit zu gestalten. Zwei Dinge aber begleiteten meine Euphorie immer: zum einen die Skepsis in Bezug auf den gesellschaftlichen Mehrwert. Und zum zweiten eine philosophische Erkenntnis, die noch älter ist als die von Kant: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Was die Möglichkeiten und die Folgen unserer digitalisierten, algorithmisch bestimmten Big-Data-Netzwelt betrifft, erachte ich mich als ewigen Lehrling der ohne Meister lernen muss. Neben einigen immer wieder überraschenden beruflichen Erfahrungen machen mir das aktuell auch wieder einige Autoren deutlich. Vor kurzem Yvonne Hofstetter mit ihrem Buch „Sie wissen alles“ und aktuell Michael Seemann mit seinem Buch „Das neue Spiel.“. Darauf hatte mich Zöe Beck aufmerksam gemacht. Danke dafür. cover_kontrollverlust_CMYKMichael Seemann gelingt es meines Erachtens auf sehr lesbare und nüchterne Weise das aktuelle Mindest- und Basiswissen über die Netzwerkeffekte zu veranschaulichen und den damit verbundenen wachsenden Kontrollverlust jedem deutlich zu machen, der es wissen möchte. Doch wer will es schon wissen? Mir bestätigte er auf jeden Fall vieles, was ich schon als Fazit aus Yvonne Hofstetters Buch gezogen hatte. Auch er erkennt an, dass nicht Staat, Geheimdienste oder Google, Facebook & Co. die bedenklichsten Treiber des Kontrollverlustes sind, sondern wir selbst, die Nutzer und auch Nicht-Nutzer: „Der größte Gegner der Zivilgesellschaft … ist die Zivilgesellschaft selbst.“ Denn, so paradox es im ersten Moment klingen mag: der wachsende Kontrollverlust wird wohl absehbar in einen Kontrollwahn der Massen führen. Und was im (Irr)Sinne der Massen zu kontrollieren bzw. zu disziplinieren ist hat schon vor knapp einem Jahrhundert Gustave Le Bon sehr klarsichtig in seinem Werk „Psychologie der Masse.“ beschrieben.

Dem Individuum widmet Michael Seemann denn dafür seinen kategorischen Imperativ des digitalen Zeitalters. Der lautet: „Handle stets so, dass Dir öffentliche Effekte Deines Handelns langfristig vertretbar scheinen. – Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.“ Daran, wie schnell man sich das eigene, reale Leben durch die Netzwerkeffekte zur Hölle machen kann, ermahnen Beispiele im Buch wie das von Justine Sacco. Ein dummer Tweet und nach wenigen Stunden wird man von der Masse gehasst und ist seinen Job los. Auch die ewige Häme über Bettina Wulff überschattet wie viel Rückgrat sie bewiesen hat: das Recht auf Vergessen bei Google einzufordern. Und nicht zuletzt sind die Beispiele gefakter Tweets über Terroranschläge, die zu einem Kursrutsch an den Börsen führen, Warnung was Einzelne auslösen können. Doch wichtig hierbei: die Macht dazu erteilt nicht das Internet und das Smartphone, sondern die Masse an unkritischen und bedenkenlosen Usern, die solche News gierig verbreiten.

Bildschirmfoto 2014-10-25 um 18.15.16Und auch seriöse Medien lassen sich von dieser Gier anstecken. Jüngstes Beispiel sind die sarkastischen Tweets von Christian Ginsig, Sprecher der Schweizer Bundesbahn, über seine Fahrterlebnisse in den Zügen der deutschen Kollegen. Als diese Tweets von einer kleiner Zeitung hämisch in Richtung Deutsche Bahn aufgriffen wurden, wollte der Eidgenosse Schlimmeres verhüten und löschte sie. Zu spät: SZ und FAZ griffen begierig das beliebte Bahn-Bashing auf und verbreiteten es vergnügt weiter, obwohl sie wussten, dass der Verursacher es gerne rückgängig gemacht hätte. Doch das individuelle Recht auf Vergessen war den Medien nicht wert auf eine von der Masse lustvoll aufgegriffen Story zu verzichten.

Auch sehr erhellend ist das konsequente Weiterdenken Michael Seemanns über die möglichen Szenarien in der digitalen Ökonomie. Hier zeigt sich auch die Naivität vieler „Netzexperten“, die sich offenbar über die Fragilität der Geschäftsmodelle heutiger Giganten im Netz nicht im Klaren sind. Wie schnell höhnt es ihm Netz, wenn jemand Szenarien skizziert, in denen Facebook in wenigen Jahren kaum noch Relevanz zugestanden wird, Apps wohl bald wieder bedeutungslos geworden sind oder Google sein werbefinanziertes Geschäftsmodell verliert. Facebook selbst hat es schon erkannt und sich mal schnell WhatsApp gesichert. Google weiß, dass sein größter Gegner aktuell amazon ist. Und am Beispiel Twitter kann man erkennen, dass solch fehlende Weitsicht fast die Existenz bedrohen kann. Featurette-1-Ipad-Default.png.700x610_q100_crop

Da Twitter sich zu Beginn als völlig offene Plattform anbot, die jeder App-Entwickler und Plattform-Anbieter bei sich integrieren konnte, hatte Twitter irgendwann keinen direkten Zugang mehr zu einer großen Anzahl seiner Nutzer. Somit lässt sich langfristig über Werbung nur wenig Geld verdienen. Die aktuell angekündigte Strategie von Twitter (Twitter will Passwörter ersetzen) soll jetzt aus der Not eine Tugend machen und man darf gespannt sein, wie dies dann monetarisieren soll. Ähnlich kritisch wäre es auch für Facebook und auch viel andere Newsmedien, wenn alle User nur noch „Flipboard“ benutzen würden. Und auch Google ist nicht gefeit dagegen, dass irgendwann nur noch über Siri & Co. Suchaufträge gegeben werden und viele gar nicht mehr auf Google direkt suchen.

Michael Seemann hat sein Buch zweigeteilt. Im ersten Teil – der Beschreibung der Netzwelteffekte – bleibt er wohltuend sachlich und bietet viele gute Beispiele, um die manchmal etwas komplexen Zusammenhänge zu veranschaulichen. Im zweiten Teil bezieht er dann Stellung. Er benennt wohin er glaubt, dass das Ganze führen kann, und was es seiner Ansicht benötigt, um dem unvermeidbarem Kontrollverlust irgendwie Herr zu werden. Das ist logischerweise subjektiv, aber nicht ideologisch überschattet. Im neuen Spiel will weder er Spielverderber sein, noch möchte er andere zum „Da mach ich nicht mit“ bewegen. weisen_Affen

Der Ausstieg aus der digitalen Zukunft ist mit Sicherheit keine Lösung für eine bessere Gesellschaft. Ebenso wenig wird es besser, wenn sich die Mehrheit wie die drei weisen Affen verhält. Unwissenheit schützt bekanntlich vor Strafe nicht – sei es im juristischen Sinn oder im Sinne der Lebenserfahrung. Gefordert ist die Aufklärung im Sinne Kants. Deshalb zielt mein Wunsch einer Bildungsoffensive auch nicht auf die Schule unserer Kinder und das Erlernen eines Handwerks wie Programmieren, das schon nach wenigen Jahren wieder veraltet sein wird. Ich habe in den Achtzigern auch mal Basic gelernt. Das bringt mir heute weniger als das Lego spielen in meiner Kindheit. Unseren Kindern bringen wir meines Erachtens besser Querdenken und Mathematik als Programmieren bei. Denn tiefes mathematisches Verständnis wird in einer von vielen Algorithmen beherrschten Zukunft viel entscheidender sein, um sich seine Freiheit des Denkens, des Willens und Handelns zu bewahren.

Nachtrag 12.12.2014: hier gibt es eine 3Sat Videobesprechung für Lesefaule und hier bei Sobooks kann man das Buch kostenfrei lesen und diskutieren.

Final sei noch angemerkt, dass das Buch aus einem Crowdfunding-Projekt resultiert. In dem oben beschriebenen Kontext ist die Erfahrung mit solchen Crowd-Projekten für mich sehr aufschlussreich. Aus Sicht der Initiatoren resultiert der Reiz bei Buch-Projekten nicht nur aus der sicheren Vorfinanzierung, sondern besonders aus der Mitwirkung der Crowd am Inhalt des Buches. Mir begegnete diese Form der Netzvorfinanzierung erstmals bei Dirk von Gehlen mit seinem Buch „Eine neue Version ist verfügbar.“ Dort war ich ebenso wie bei diesem Buch nicht Teil der Crowd (über 600 Unterstützer), sondern klassischer Buchkäufer und Leser.

Was mich damals schon bei Dirk von Gehlens Buchprojekt enttäuschte, habe ich unter dem Beitrag „Geld oder Lesen?“ zusammengefasst. Dirk von Gehlen hat es dort auch kommentiert und seine Sicht dazu erklärt. Wir bewerten den Erfolg unterschiedlich. Für mich zeigt sich die Crowd leider nur bei der Vorfinanzierung und im Entstehungsprozess aktiv. Doch in dem für mich entscheidenden Moment trägt die Crowd so gut wie nichts mehr bei. Sie hilft kaum das Buch in den Medien zu verbreiten und ihm den Leseerfolg zu bescheren. Doch das wäre für mich der wirklich entscheidende Beitrag zu einem Buch, das ich finanziere.

Nachtrag 22.Februar 2015: Vielleicht war ich zu ungeduldig mit meinen Erwartungen an ein Crowd unterstütztes Buchprojekt. Nun, nach einem Jahr, hat Michael Seemann einen „Abschlussbericht“ verfasst, der sich doch recht positiv und zuversichtlich liest. Dennoch überzeugt mich (wie unten bemerkt, und dann im Nachhinein als nicht weiter relevant gestrichen), Crowd-Funding bei Büchern bislang nicht.

Das Gleiche befürchte ich in diesem Fall. Denn blicke ich auf die ersten Rezensionen bei amazon, findet sich da einzig eine abgestrafte Vorankündigung, die wohl von einem Unterstützer kommt und ansonsten nur zwei sehr mäßige Urteile – eines offenbar von jemanden, der mit Michael Seemann ein persönliches Problem hat. Amazon mag nicht das Maß allen Buchmarketings sein, doch neben dem Hinweis von Zöe Beck, habe ich z.B. auch auf Twitter bis heute keine Empfehlungen mitbekommen und nur noch diesen Hinweis bei Weltsicht aus der Nische.

Und mein zaghafter Versuch, dem Buch per Twitter etwas Aufmerksamkeit zu geben, hat selbst der Autor nicht mal aufgriffen. Letztlich ist diese Erfahrung für mich sehr exemplarisch. Kritische Netznutzer stehen sich mit der Verbreitung ihrer Haltung meist selbst im Weg. Statt die Aufklärung aktiv zu verbreiten, halten sie sich „vornehm“ in ihrer Filterblase zurück. Im Gegensatz zu den naiven Netznutzern, die hemmungslos jeden Gag, jeden Nonsens, jede Blamage teilen – erachtet die „Netz-Elite“ das intensive Teilen und Verbreiten offenbar als “unschicklich”, “aufdringlich” oder “niveaulos”. So bleibt die Forderung “Klär Dich auf und handle.“ unerhört in der IKEA-Küche.

12 Gedanken zu “„Ausbildung Internet“ – da sind wir alle Lehrlinge.

  1. Ich habe das Buch unterstützt, gelesen und endlich auch dazu geschrieben, habe eine ambivalente Haltung, das liegt aber am Thema. Den ersten Teil finde ich überzeugend, bereichernd und gut dargestellt – weitaus besser als den zweiten, weil ich, wie bereits hier auch andere schreiben, mit der post-privacy-Position meine Probleme habe. Auch finde ich die Lösungsansätze nicht in den Konsequenzen durchdacht. Nur, wer kann das schon? Die optimistische Haltung von Michael Seemann angesichts seiner neuen Regeln kann ich aber nicht nachvollziehen – für mich sind das zum Teil düstere Perspektiven. Was die Werbung für das Buch betrifft: Ein erfolgreicher Crowdfunder ist nicht unbedingt ein guter Community-Manager. Aber offensichtlich hat sich das ja noch geändert, ich bin auf diesen Beitrag hier über Seemanns Blog aufmerksam geworden. Und so ist es wohl auch zu verstehen, dass die letzten Abschnitte oben durchgestrichen sind?

    • Herzlichen Dank für den Kommentar und den Hinweis im Beitrag auf meinen Blogeintrag. Auch mich überzeugte der erste Teil besonders, da Michael Seemann es wirklich auf sehr sachliche Weise versteht, den Status Quo zu erfassen und einige interessante weitere Szenarien anbietet, die heute sicher nur wenige auf dem Schirm haben. Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit dieser unaufhaltsamen Entwicklung lernen umzugehen, lässt sich nur schwer beantworten. Denn einerseits möchte man sich das Spielfeld „Internet“ nicht allzu sehr regulieren lassen, doch anderseits verhält sich doch eine dominierende Mehrheit (Unternehmen & User) derart fahrlässig, dass man zunehmend das Bedürfnis verspürt, gesetzliche Regulation zu fordern. Besonders ein Aspekt – neben den hier genannten und denen, die ich bei Yvonne Hofstetter „Sie wissen alles“ erörtert habe, wird meines Erachtens derzeit zudem noch wenig beachtet: das Netz ist nicht Spiegel der Gesellschaft, sondern ein Zerrspiegel. Dem Netz fehlt es nämlich aus technischen Gründen an einem zwischenmenschlichen Regulativ: der Empathie. Dies habe ich einmal in diesem Beitrag versucht, etwas näher zu erläutern: https://thomasbrasch.wordpress.com/2014/12/18/jetzt-kommt-mal-wieder-runter-und-zeigt-dass-das-netz-mehr-kann-als-hame-verbreiten/

  2. Es ist die Aufgabe des Bildungssystems, jungen Menschen Raum für das Heranwachsen einer Persönlichkeit zu geben, die zur kritischen und souveränen Teilhabe befähigt, und das gilt ganz unverändert auch für eine digitalisierte Welt. Deshalb muss nach meiner Auffassung ein weit gefasster Begriff von Medienkompetenz als Bildungsziel definiert und umgesetzt werden. Da geht es um das Verständnis für die kulturellen, die rechtlichen und die technischen Zusammenhänge, aber auch noch mehr als bisher um die Fähigkeit, Informationen kritisch zu bewerten und Teilhaber und -geber des wachsenden Wissens dieser Welt zu sein. Obendrein hat der Einsatz digitaler Medien in Bildunsprozessen das Potenzial, die Qualität des Lernens hin zu individuellen und konstruktivistischen, kollaborativen Ansätzen weiterzuentwickeln.

    Das Schlagwort „Programmieren als 2. Fremdsprache“ werte ich in diesem Zusammenhang als dramatisch falsche und unzulässige Verkürzung der Diskussion, an der Gesche Joost, Nico Lumma und Co. sicher nicht gelegen ist. Tatsächlich kann aber – auch nach meiner eigenen Erfahrung – das Verständnis für die Logik des Programmierens für jeden hilfreich sein, und zwar völlig unabhängig von der Lebensdauer der Programmiersprache. Und da haben wir vom Fachkräftemangel der IKT-Branche noch gar nicht gesprochen.

    • Herzlichen Dank für den Beitrag. Da sind wir uns einig, dass mit der dankbaren populistischen Fokussierung auf „Programmieren als Schulfach“ der Blick auf das Wesentliche verstellt wurde. So sehr ich dem einzelnen Jugendlichen gönne, sich hier fortzubilden, erachte ich jedoch Programmieren für eine „niedere Tätigkeit“ in einer digitalen Zukunft. Es ist das Erlernen des 10 Finger-Prinzips und Stenografierens des 21. Jahrhunderts. Programmieren ist weder sonderlich kreativ noch wirklich entscheidend für spätere berufliche Zwecke. Es mag für Schriftsteller oder Journalisten hilfreich gewesen sein, stenografieren zu können, jedoch ist das irrelevant für die Qualität ihrer Arbeit.

  3. Hat dies auf j:mag rebloggt und kommentierte:
    Wir zeigen diesen interessanten Beitrag von Thomas Brasch über Bildungspolitik – die nicht nur in Deutschland diskutiert wird – bezüglich der digitalen Ausbildung.
    MaB

  4. Ich bin, was dieses Buch von Herrn Seemann betrifft, nicht so begeistert. Im Wesentlichen wiederholt er dort nur Standpunkte, die er bereits vorher geäußert und verbreitet hat. Nicht wenige seiner Schlussfolgerungen msisfallen mir, und die ganze Richtung „post privacy“ halte ich für äußerst fragwürdig. Ich gehe aber davon aus, dass das Buch Herrn Seemann deutlich voran gebracht hat, und wer im Buch Neues und Bereicherndes entdeckt, dann gilt das auf für seine Leser.

    Bei einer Aussage, die Sie hier vornehmen, habe ich – verzeihen Sie mir das bitte – deutliche Zweifel. Sie schrieben über „das individuelle Recht auf Vergessen“, in Zusammenhang mit einem etwas hämischen Tweet über die Leistungen der Bahn. Da habe ich eine komplett konträre Meinung: Ein allgemeines Löschrecht bzw. „Recht auf Vergessen“:
    1. gibt es nicht
    2. wäre alles andere als wünschenswert – und zwar auch im konkreten Fall.

    Wo kommen wir denn dahin, wenn beispielsweise berufsmäßige Betrüger alle Verweise auf ihre Handlungen im Internet problemlos löschen könnten? Wenn Politiker alle fragwürdigen Aussagen, die grade nicht zur aktuellen Strategie passen, löschen könnten – beispielsweise die Aussagen von Merkel zu einer konzerngelenkten bzw. „marktkonformen“ Demokratie?

    Wir wären dümmer. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn dumme (bzw. mit den Interessen des eigenen Arbeitgeberns kollidierende) private Tweets bei der Berichterstattung fair (!) behandelt werden, und die Rücknahme eines hämischen Tweets über die Bahn bei der Berichterstattung zumindest auch Erwähnung findet. Wenn der Nachrichtenwert allerdings zu hoch ist, tja: Dann ereignet sich eben ein gewisser „Kontrollverlust“, was imho aber absolut nichts Neues ist, und zwar bei praktisch allen Äußererungen, die sich im öffentlichen Raum ereignen.

    Was wir brauchen, das ist nicht etwa das von Ihnen (vielleicht haben Sie es garnicht so gemeint) allgemeine individuele Löschrecht „Recht auf vergessen“ (z.B. von Tweets). Sondern vielmehr: Einen fairen Umgang miteiander.

    Das ist und bleibt eine Riesenaufgabe, zumal dann, wenn sich die öffentlichen Räume – nicht zuletzt durch „das“ Internet – verändern.

    • Herzlichen Dank für den Kommentar. Bezüglich der Wertschätzung von Michael Seemann bin ich völlig neutral, da er mir vor der Empfehlung des Buches nicht bewusst begegnet ist. Das Buch – wie geschrieben – veranschaulicht mir, besonders im ersten Teil, eine aktuelle Conclusio der Netzwerkeffekte, von denen ich glaube, dass sie den wenigsten Nutzern (und auch Nicht-Nutzern) klar sind. Ich beobachte in meiner Umgebung eine Unwissenheit die vergleichbar zu dem überwiegend fehlendem Verständnis von Ökonomie ist. Beides ist aber meines Erachtens gesellschaftspolitisch so relevant, dass es der Anspruch einer aufgeklärten Gesellschaft sein müsste, hier jeden einzelnen mehr zu fordern.

      Sie haben vollkommen Recht, dass das individuelle Recht auf Vergessen nicht dahingehend verstanden werden kann, dass jeder seine veröffentlichen Meinungen und Statements mit einem Klick wieder zurückziehen kann. Mein Beispiel bezieht sich genau darauf, was auch Sie ansprechen: der faire und verhältnismäßige Umgang mit solchen Veröffentlichungen. Mir missfällt hier besonders die Bigotterie der an sich „seriösen“ Presse wie SZ und FAZ, die sich einerseits als „Hüter“ eines fairen öffentlichen Diskurses erachten, sich hier aber gerne einer irrelevanten, populistischen Nachricht bedienen, um einzig nur ins Horn des allseits beliebten Bahn-Bashing zu blasen. Und das, obwohl ihnen schon bekannt ist, dass es den Verursacher reut.

      Wenn sich morgen Heribert Prantl in einem Tweet über die Rechtschreibfehler, die er in einem Leitartikel der FAZ gefunden hat, amüsieren würde, fände ich es ebenso dämlich, wenn die Bild daraus einen Aufmacher mit „Twitter-Krieg der Chefredakteure“ machen würde. Aber wahrscheinlich würde sie es tun. Und dann würde ich mir wünschen, dass nicht alle Welt begierig auf die Twitter-Antwort der FAZ stiert, sondern der Bild deutlich macht, dass sie solche Nachrichten zum Gähnen findet. Doch ich bin mediengeschult genug, um zu wissen, dass dies ein herzlich naiver Wunschgedanke ist.

  5. Da sprichst Du ein ganz wichtiges bildungspolitisches Thema an: unsere Schüler müssen in Kulturkritik gestärkt werden, nicht im „knöpfe-Drücken“. Bildungspläne (so heißen Lehrpläne heute vollmundig) allerdings – und ich habe, auch wenn ich in diesem System drin bin, immer noch nicht genau begriffen, wie es geht, über Lobbyismus wahrscheinlich oder über sehr unkritische Lehrplanschreiber – werden immer mehr vollgestopft mit totem Faktenwissen. Das ist einfach und nett: der Lernerfolg der Schüler ist eindeutig messbar, damit ist messbar, wie „gut“ die Lehrer sind, mithin wie gut Schule ist. Kritisches Denken dagegen fordert eine differenzierte Auseinandersetzung, fordert sprachliche Qualitäten, fordert Diskussionsfähigkeit, fordert Denken mit „wenn…“ und „dann…“, Vielleicht sind das Fähigkeiten, die bei Gymnasisten noch eine Rolle spielen (deren Bildungspläne kenne ich nicht, die tatsache des Zentralabiturs scheint mir aber auch hier kaum noch Spielräume zu eröffnen, das bestätigt auch meine Erfahrung mit Aniturienten, die in eine Ausbildung gehen und auch nur bruchstückhaft über kriisches Denken verfügen), in anderen Schulformen der Sekundarstufe II kommt dies nur noch rudimentär vor. Dort gilt Bilanzen auswerten (BWL), Geschäftsbriefe schreiben (Deutsch), Statistik mit Excel durchführen (Wirtschaftsinformatik) und möglichst viel abprüfbares, weil Auswendiggelerntes, als Königsdisziplin: Damit wieder deutschlandweit vergleichbare Prüfungen durchgeführt werden können.
    So findet in Schule kaum kritisches, das heißt, die Vorteile herausarbeitendes, aber eben auch die Nachteile der Digitalisierung betrachtendes Denken statt. Es ist schlicht und einfach kaum Zeit – und es natürlich auch anstrengend, immer auf dem neusten Stand der Dinge zu sein. Es gibt kein Unterrichtsmaterial und wenn welches da ist, ist es schon veraltet. Und welcher Lehrer kann es sich leisten in Zeiten des Zentralabiturs Juli Zeh im Deutschunterricht zu lesen (und damit wenigstens mal im Ansatz zu schauen, zu welchen Ergebnissen Datensammlungen führen können), wenn er nicht gerade in einem Nischenbildungsgange unterwegs ist, in dem er noch ein bisschen Einfluss auf die Abithemen hat?
    Ganz nachdenkliche Grüße, Claudia

    • Herzlichen Dank für den nachdenklichen Kommentar. Ich denke, dass die Schule auch ein Spiegel der Gesellschaft ist. Dichten und Denken wird derzeit nicht sonderlich wertgeschätzt und der programmierende Geek (http://de.wikipedia.org/wiki/Geek) ist aktuell wohl das verklärte Ideal. Aber auch das wird sich irgendwann wieder wandeln.

    • Ja, ich bin alles andere als ein Kulturpessimist. Im Gegenteil: den Pessimisten entgegne ich immer gerne, dass sie doch bitte nicht glauben sollen, sie gehören zur der privilegierten Generation, die aktuell den Zenit der Kulturgeschichte erlebt. Auch noch viel hunderte Jahre nach uns wird es noch immer ungeahnt viel Lesenswertes, Hörenswertes und Sehenswertes geben. Und der Zenit der Kulturgeschichte wird immer noch nicht erreicht sein.

      Mich treibt eher um, dass wir etwas differenzierter über die technologischen Szenarien der Zukunft nachdenken sollten, um vielleicht einige unerwünschte Folgen, wie wir sie z. B. bei der Nutzbarmachung der Atomphysik oder der Biotechnologie hatten, früher voraussehen und eindämmen können.

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