Literaturkritik: Alles Willkür, oder was?

FeuilletonDie reflexartige Zustimmung auf Jörg Sundermeiers Lamento im Buchmarkt und im Freitag über den miserablen Status der heutigen Literaturkritik in den Feuilletons erinnerte mich doch sehr an die Debatte über die deutsche Bildungspolitik, ausgelöst durch einen naiven Tweet einer 17jährigen Gymnasiastin (Ein gute Zusammenfassung der Reaktionen auf Sundermeier gibt es bei Lesen-mit-Links) Beide Male kommen die Mahner aus der Ecke der Kulturpessimisten, die sich hartnäckig verweigern, das stetig anwachsende Angebot an Bildung, Informationen und Verbreitungsmöglichkeiten zu honorieren. Die altväterliche Sehnsucht nach Orientierung durch honorige Instanzen eint sie. Sie erachten die mediale Vielfalt als Tor zur Einfalt und sehen die Kultur ohne Vermittlung von anerkannten Kuratoren und Kritikern der Beliebigkeit ausgesetzt.

Reich-RanickiDiese pessimistische Grundhaltung ist wohl so alt wie die Kulturgeschichte. Und sie korreliert immer auffällig mit dem zunehmenden (geistigen) Alter ihrer Repräsentanten – aktuell beispielsweise Peter Sloterdijk mit seinem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“.

All diesen Kulturpessimisten entgegne ich gerne, dass wir sicher nicht die auserwählte Generation sind, die den Zenit der Kulturgeschichte erleben darf. Auch nach uns wird weiterhin noch viel Lesens-, Hörens- und Sehenswertes erschaffen werden. Nur über welche Wege wir davon erfahren und wie wir sie entdecken werden, das wird sich immer wieder wandeln. Dabei hat das Feuilleton schon sehr lange seine Deutungshoheit verloren.

Schon Gustave Le Bon schrieb vor über 100 Jahren über den Einfluss des Feuilletons: „Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht, ein Buch oder ein Theaterstück durchzusetzen. Sie kann schaden, aber nicht nützen.“

Die Klage über die Willkür der Literaturkritik begleitet die Feuilletons wohl schon seit Einrichtung des Ressorts. Der Verweis, dass etwas zu „feuilletonistisch“ sei, ist seit jeher die gern genutzte akademische Keule, mit der man dem so Beklagten fehlenden Tiefsinn attestiert und intellektuelle Weihen versagt. Im Proseminar der Literaturwissenschaft empfängt man diese Klatsche des Dozenten noch demütig. Doch wer dann weitere zehn Semester hinter sich hat und noch immer den Entdeckergeist für lesenswerte Literatur verspürt, (ich schätze, mindestens 50% bleiben dabei auf der Strecke) der ist entschlossen, fortan Literatur nur noch feuilletonistisch zu behandeln. Und zwar so, dass man andere mit seiner Begeisterung über das Entdeckte ansteckt. Kaiser-Feuilleton

Jeder, der Literatur in den Feuilletons besprechen darf, sollte sich selbstkritisch als Günstling der Stunde erachten. Denn man gibt ihm ein breites Forum für seine völlig subjektive Wertschätzung von Literatur. Literaturkritiken in Publikumsmedien sind per se eigentlich unangemessen. Sie verleihen der subjektiven Meinung eines Lesers – egal, wie gebildet und belesen er auch sein mag – ein Gewicht, das auf dem Hohlraum fehlender, allgemein gültiger Normen liegt. Denn die Literaturkritik hat schon vor langer Zeit alle ehemals herrschenden Kriterien verschrottet, mit deren Hilfe wir zu einem Konsens über ein ästhetisches Urteil gelangen könnten. Entsprechend verfügen die Kläger gegen eine unzureichende Literaturkritik über keine stichhaltigen Beweise, ja nicht mal Indizien. Denn selbst wenn die Anzahl der Literaturbesprechungen in den Feuilletons signifikant zurückgehen, so ist die Gesamtzahl der Buchbesprechungen sprunghaft durch die Netzwelt gestiegen. Und selbst wenn in dieses Lamento Hunderte kräftig nickend einstimmen, so bleibt ihnen allen dennoch einzig nur die gefühlte Unzufriedenheit mit der Literaturkritik der kleinste gemeinsame Nenner.

Würde man alle Kläger gemeinsam mit der Aufgabe entsenden, uns einen konsensfähigen Beurteilungskatalog zu verfassen, hätten wir gleich wieder ewig Ruhe vor ihnen. Ja, schon mit der Klärung der Frage, welche Literatur denn „würdig“ sei im Feuilleton behandelt zu werden, hätte die Gruppe die erste Zerreissprobe, die sie wohl kaum übersteht. Dessen ungeachtet hat selbstverständlich jeder das Recht, seine Wünsche an die Literaturkritik in den Feuilletons zu stellen.

Mein Wunsch ist ganz schlicht und einfach: nehmt euch ein Beispiel am Ressort „Reise“. Würde dort regelmäßig vierspaltig berichtet, wie Furz langweilig die Wanderung durch die Tiroler Alpen sei oder wie enttäuschend die Gourmettour durchs Elsass verlief oder wie tröge der Abstecher ins Mekong-Delta war, dann könnten das Ressorts wohl nach wenigen Wochen schließen. Entsprechend wünsche ich mir auch Buchbesprechungen, die mir die Reise ins Buch nahelegen und nicht minutiös ein „Tu´s nicht“ beschreiben. Bei besonders exotischen Reisen – oder eben Büchern – wäre ein Hinweis darauf, was ich idealerweise mitbringen sollte, um die Strapazen zu überstehen (Erfahrungen, Ausdauer, Anspruch, Abenteuerlust etc.), sicher ein nennenswerter Aspekt.

Der Reisejournalist, der glaubt, sich mal so richtig über die miesen Verhältnisse, die öden Landschaften und miserablen Unterkünfte auslassen zu müssen, der findet ja heute dazu ausreichend online Gelegenheit. Und das gilt für mich auch für eine enttäuschende oder gleichgültig lassende Leseerfahrung. Das Feuilleton benötige ich nicht, um über drei Spalten zu erfahren, warum der neue Roman des Bestsellerautors X oder der zweite Roman des hoffnungsvollen Debütanten Y völlig misslungen, überambitioniert oder einzig langatmig ist. Die Nicht-Beachtung dieser Werke wäre mir schon Kritik genug. Wenn ich dennoch ein Urteil suche, finde ich genügend Online.

Was ich mir vom Feuilleton nicht wünsche sind Obduktionen am lebenden Objekt. Romane zu sezieren, um auch noch die allerletzten, eingeflochtenen Nervenfasern des Autors raus zu popeln, erweckt bei mir selten Lust zum Lesen. Weit mehr interessiert mich, warum das Buch den „Kritiker“ bewegt hat, ihn nicht gleichgültig ließ oder zu was das Buch seiner Ansicht nach inspiriert. Ich wünsche mir kurz gesagt keine Rezension im engeren Sinne. Vielmehr wünschte ich mir Resümees oder gar begeisterte Essays, die zum Lesen der Bücher anregen.

IMG_8954Aktuell illustrieren mir die zahlreichen Besprechungen zweier Romane, wie vielseitig und differenziert Literaturkritik heute stattfindet. Zum einen Michel Houellebecq mit seinem Roman „Unterwerfung“, zudem ich nicht nur selbst ein Resümee verfasst habe, sondern auch zuvor und danach unzählige Besprechungen – von der „Kritik“ in der Bild bis zur tiefgründig literaturkritischen Analyse im Merkur – recherchiert und gelesen habe. Zum anderen der Roman „Kruso“ von Lutz Seiler, der im Schwarm der schöngeistigen Literaturkritik schwärmerisch gefeiert wurde, jedoch im weltlicheren Biotop der Amazon-Rezensenten sehr mäßig beurteilt wird.

Sich diese Vielfalt an Meinungen mit nur wenigen Klicks am heimischen Ort zusammenzutragen wäre vor gut einem Jahrzehnt noch fast unmöglich gewesen. Besonders schätze ich heute auch die „Nachhaltigkeit“ von einmal veröffentlichen Buchbesprechungen. Sobald die Taschenbuchausgabe erscheint, können sich viele Leser auch dann noch alle Besprechungen auf den Schirm rufen. Das war vor ca. zwanzig Jahren fast unmöglich.

Wenn sich die Verlagswelt, besonders die unabhängigen und kleinen Verlage, heute mehr Sichtbarkeit und Wahrnehmung wünschen, finden sie die besten Bedingungen dazu, die es je gab. Nur setzen diese ein anderes Engagement voraus als 20 Rezensionsexemplare an die immer gleichen Ressorts auszusenden und die Cafehäuser zu besuchen, in denen Feuilletonisten Stammgäste sind. Hingegen wenn die Verlage mal beginnen, auf Tuchfühlung mit den hunderten leidenschaftlichen und engagierten Lesern im Netz zu gehen, die auch regelmäßig sehr fundierte Rezensionen verfassen, bloggen und ihre Empfehlungen tauschen, dann bekämen auch ihre verlegerischen Perlen sicher mehr Aufmerksamkeit. Erste Versuche, wie Sobooks lassen hoffen, sowie das Engagement von Verlagsrepräsentanten wie Karla Paul oder eines Verlegers wie Jo Lendle sowie einige Autorinnen und Autoren wie z. B. Zoe Beck (auch Verlegerin), Sybille Berg, Jagoda Marinic oder Tom Hillebrand.

Literatursalon2

In Zukunft auch Lesen im virtuellen Salon?

Doch noch überwiegt bislang das halbherzige Engagement. Weder sammeln Verlage Buchbesprechungen im Netz auf ihren Seiten, noch teilen und retweeten sie diese aktiv im Neuland. Geschweige, dass sie selbst die Zügel in die Hand nehmen und Plattformen zum Social-Reading nutzen oder zum Meinungsaustausch anbieten. Gerade aktuell mit Michel Houellebecq wurde da eine große Chance vertan, diese Möglichkeiten zu popularisieren. Bei vielen Verlagen und Autoren herrscht noch das Bild vor, das Netz sei nur eine Alternative zur Litfaßsäule. Das Netz ist euer direkter Zugang zu tausenden begeisterten Lesern, hunderten engagierten Meinungsbildnern und enthusiastischen Kämpfern für Literatur. Und die sind größtenteils unprätentiös, bescheiden und für kleinste Aufmerksamkeiten sehr dankbar.

Aktuelle Beispiele sind die begeistert im Netz angekündigte Bloggerlounge auf der Buchmesse in Leipzig und die Berichte über die Einladung einiger Blogger zum Hanser Verlag. Dabei geht es nicht darum, großzügiger Rezensionsexemplare zu verteilen und auf Gefälligkeitsrezensionen zu hoffen. Vielmehr geht es darum, sich nicht alljährlich über einen saturierten Literaturbetrieb zu mokieren, sondern stattdessen ganzjährig mit Lesern zu interagieren, die für Literatur brennen und ihre Umgebung ebenfalls entflammen wollen. Sicher mag das heute noch etwas mühsam sein, doch sehe ich hier eine Zukunft – und sicher nicht in der Kritik der etablierten feuilletonistischen Literaturkritik.

Nachtrag 10.Feb. 2015: In einem sehr erhellenden Vortrag „Vom Anfang und Ende der Literaturkritik“ behandelte Stefan Neuhaus den aktuellen Status der Literaturkritik. Ein bisschen Zeit zum Lesen muss man mit bringen. Ein Zitat aus dem Vortrag verweist schon sehr deutlich auf das (ewige) Dilemma der Literaturkritik und den fehlenden Normen zur Beurteilung guter Literatur:

„Die besondere Qualität für den Markt ist gerade die Abweichung von der Norm, das Anderssein der Texte und Kunstwerke, sofern sich mit Hilfe von Experten glaubhaft machen lässt, dass sich das Andersartige auch als besondere ästhetische Qualität sehen und beschreiben lässt.“

29 Gedanken zu “Literaturkritik: Alles Willkür, oder was?

  1. Dank für diesen Text. Die aktuelle Kritik und die anschließende Diskussion, die zunächst das merkantile Grundrauschen des „Betriebs“ beklagte, verzweigte sich dann, wie es sich für solche Diskussionen ja auch gehört. Ein Unterthema war die mittlerweile völlig falsche Dichotomie: Hier die Qualitätskritiker in den Printmedien, dort die inkompetente, bloggende Quasselstrippe. Da ist eine Nachfrage nach der behaupteten Qualität im Feuilleton dann durchaus erlaubt. Und siehe: Die feuilletonistische Wirklichkeit deckt nicht immer diese Behauptung.

    Aber ich möchte nicht verhehlen, dass es durchaus Verbesserungen gibt. Mein literarisches Beispiel für die früher vorherschende Sicht wäre Kehlmanns Roman „Ruhm“ aus dem Jahr 2009. Der größte Verpeilomat in diesem Roman, derjenige, der sich gewissermaßen die Unterhose über den Kopf antieht, war natürlich ein Blogger. Nicht ganz ernst zu nehmen der Kerl. Nun, das war 2009. Da sind wir heute schon weiter und der eher ergänzenden, nicht der ausschließenden Sicht auf Print und Netz wird ja auch in Ihrem Essay gehuldigt.
    Grüße nach München aus der Hauptstadt

  2. Hallo Thomas,
    Ich bin der festen Überzeugung, dass Literaturkritik, sofern sie nicht Sachlitetatur betrifft, nur subjektiv sein kann. Wie sollte man Literatur messen? und nichts anderes bedeutet ja Objektivität. Sollte man die Länge der einzelnen Sätze messen, abwechslungsreiche Satzanfänge zählen, die Häufigkeit einzelner Wörter herausfinden? Dies sind keine Kriterien für gute / schlechte Literatur. Ist die Länge eines Textes aussagekräftig, der starke Charakter der Hauptperson? Der Ort der Handlung? Fraglich. Es gibt sicher hundert weitere Parameter, Literatur zu messen. Alle sind sie jedoch untauglich. Ein älterer Wachtmeister fährt alleine mit seinem Motorrad durch die Schweiz, etwas lahm und ratlos löst er seine Fälle, die Handlung kann Brüche und unlogische Wendungen nehmen – und doch sind die Romane Glausers mit die besten deutschsprachigen Kriminalromane und bilden die Blaupausen für hunderte weiterer Krimis.
    Joseph Roth beschreibt uber 180 Seiten das große Unglück eines österreichischen Eichmeisters in der Provinz, Thomas Mann benötigt 700, um den Niedergang einer Familie darzustellen. Welcher Roman ist der bessere? Unmöglich, zu sagen. Hemingway stellt einen Stierkampf dar, der von zwei Jungen nachgespielt wird. Er benutzt knappe Sätze. Und trotzdem spürt man die große Not des Matadors, der versagt. Man sieht das Pferd des Picador, das blind und auf der Seite liegend mit den Beinen zappelt und fühlt den Zorn und die Todesangst des Stiers, der um ein kurzes Überleben kämpft, hört die Schreie der Zuschauer. Und alles das findet statt in einem geschlossenen Café.
    In den Beispielen oben, und hunderte könnte ich aufzählen (keine Angst), gelingt es den Autoren das Leid der Menschen darzustellen, so, dass ich als Leser dieses erlebe.
    Die Mittel, die hierzu verwendet werden, sind so unterschiedlich wie die Autoren. Nichts hiervon ist objektiv messbar. Zwei Menschen verlieben sich ineinander, die Liebe scheitert. Der älteste und einfachste Plot. Warum Literatur hierüber noch immer gelingt ist nicht zu beantworten.
    Kritik ist immer subjektiv, kann es nur sein. Entweder packt mich der Text oder nicht. Warum?

    • Danke für Deinen Kommentar, den ich als Zustimmung empfinde und mit den Hinweisen auf zwei Autoren, deren literarischer Stil sicher auch heute sehr unterschiedliche Resonanz in den Feuilletons fände, besten bestätigt wird.

  3. Tut mir leid, für mich geht dieser Text an der Kritik von Jörg Sundermeier vorbei. Sundermeier fordert ja vor allem Qualität und die Berücksichtigung von wichtigen Büchern aus kleinen Verlagen. Da lässt das Feuilleton stark nach. Ein Beispiel: Pierre Guyotats Roman „Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten“, nach Jahrzehnten ohne Übersetzung bei Diaphanes vor einigen Monaten auf Deutsch erschienen. Der Perlentaucher verzeichnet bisher eine Rezension dazu (in der FAZ). Es mag ein extremer Roman sein, aber ein Buch mit einer großen Wirkungsgeschichte (Skandal und Zensurforderungen in Frankreich etc.). Genau über solch ein Buch möchte ich in Feuilletons etwas lesen und nicht den neuen Roman von Stephan Thome bei allen Gazetten durchgekaut sehen. Aber das kann natürlich gerne wieder auf Geschmacksfragen reduziert werden…
    Die Gleichsetzung „Kritik = Kulturpessimismus“ nervt jedenfalls, vor allem, wenn im selben Atemzug Reiseberichte mit literarischen Rezensionen verglichen werden, dann ist mir das alles zu einfach gestrickt.
    Die Vielfalt, die Sie, Herr Brasch, durch Blogs gewährleistet sehen, also eine stärkere Ausdifferenzierung, die fehlt bisher. Zum neuen Houellebecq habe ich z. B. auf Blogs fast nur Rezensionen gelesen, die der Begeisterung des Feuilletons nacheifern. Interessante Texte, die Futter für Debatten liefern, sehen anders aus.
    Ich bin optimistisch und glaube, dass es auch in zehn Jahren noch spannende literarische Diskurse geben wird. Frage bleibt, wo die stattfinden werden, wenn der „Lesetipp“ seinen Siegeszug fortsetzt.

    • Herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Beim ersten Punkt habe ich es wohl nicht richtig deutlich machen können: es gibt keine Normen für die Qualität von Literaturkritik so wie auch es auch keine für gute Literatur gibt. Einzelne Gruppen finden ab und an einen losen Konsens, jedoch wird der nicht Allgemeingut – siehe „Kruso“.

      Kleine Verlage haben heute meines Erachtens weit mehr Möglichkeiten, ihre Perlen zu promoten als über die Feuilletons. Feuilletonisten sind für mich auch keinen Perlentaucher, bestenfalls Begutachter. Ihr Beispiel macht mir das gleich deutlich. Sie empfehlen es mir (und noch ein paar anderen Lesern) über diesen Weg. Ich erfahre davon und kann es mit ein paar Klicks recherchieren und mich entscheiden. Wenn nun der Verlag, Sie und ähnlich Begeisterte sich diese Möglichkeiten auf den Roman hinzuweisen intensiv zu nutze machten, bekäme das Buch wachsende Aufmerksamkeit und wäre irgendwann vielleicht auch mal ein Anlass zu einem thematisch passenden Essay im klassischen Feuilleton. Solange Verlage und Autoren heute immer noch glauben, sie hätten nur einen Schuss in den Tagen der Veröffentlichung frei, um ein Buch erfolgreich zu machen, haben sie die Möglichkeiten des Netzes nicht verstanden.

      Ich kann auch verstehen, dass man nicht fünf Besprechungen in fünf Feuilletons zu Stephan Thomes neuem Roman benötigt, um sich zu entscheiden, ob man ihn lesen mag oder nicht. Ich brauche nicht mal eine, denn ich schätze in so sehr, dass ich ihn zunächst lese ohne eine Besprechung zuvor. Doch dass das Feuilleton in deshalb zugunsten unbekannter Perlen ignorieren sollte, kann man nicht verlangen.

      Mein Vergleich mit dem Ressort „Reisen“ diente ja nur zu einer ehrlichen, plakativen Veranschaulichung, wie selektiv ich persönlich das Feuilleton durchforste. Andere können sicher plausibel argumentieren, dass das Feuilleton doch eher einer Stiftung Buchtest ähneln sollte und wieder andere mögen ausführliche Warnhinweise darüber, was man besser nicht lesen sollte.

      Ich hoffe, ich klinge jetzt nicht zu kontra auf ihren gern empfangenen Widerspruch. Der Diskurs über die Qualität von Literaturkritik und die Erwartung an ein Feuilleton ist ja immer berechtigt und sollte kontinuierlich stattfinden. Was mich jedoch stört, ist die häufig reflexartige Zustimmung, die sich danach kaum selbstkritisch reflektiert und in Frage stellt.

      Zuletzt noch zu dem genannten Roman von Pierre Guyotats „Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten“. Dass er bislang nicht die Aufmerksamkeit bekommen hat, könnte auch aus der Kombination „Preis & beschriebener Inhalt“ resultieren. Zudem fand ich auch keine Rezension auf amazon. Dies ist meines Erachtens heute das Mindeste, was ein Verlag bewirken sollte.

  4. Guten Tag, Herr Brasch, von Ihnen würde ich gerne einmal eine Kritik meines Romans „Bis dass der Tod uns meidet“ lesen … selbst wenn es ein Verriss sein sollte. Die Diskussion verläuft im übrigen „antizyklisch“, ein Auf und Ab von Kulturpessimismus, schon dass Literaturkritik im Radio stattfinden könne war seinerzeit eine Irritation für die von Geniedenken geprägten und geplagten Machtmenschen des Literaturbetriebs. Es ist aber in der Tat eine Herausforderung die Ambivalenz auszuhalten, dass es gleichzeitig den Schrei nach einem Kanon gibt und die Dekonstruktion des Kanons; daraus entsteht doch einiges von diesen immer wieder kehrenden Debatten. Da ließe sich gewiss vortrefflich weiter diskutieren … würde mich nicht die Arbeitswoche in die Pflicht nehmen :)

    • Hallo, Herr Peer, ich bin Ihnen schon längst eine Antwort schuldig. Durch Ihren Einstieg, wollte ich jedoch nicht einfach nur mal „danke“ sagen für den Kommentar, sondern doch erfahren, was für ein Buch und Autor dahinter steckt. Und jetzt hab ich endlich die Zeit gefunden und gleich einige interessante und sehr unterschiedliche Buchbesprechungen zu „Bis dass der Tod uns meidet“ entdeckt – und nebenbei mir oben beschriebenen These schon mal selbst bestätigt. Es ehrt mich, dass Sie sich – sofern ich keine Ironie überlesen habe – von mir ein Resümee über Ihren Roman wünschen. Angesichts der überflogenen Buchbesprechungen bei Glanz & Elend, Wiener Zeitung, amazon und den Auszügen auf Ihrer Seite (http://www.peerfact.at/werke/bis-dass-der-tod-uns-meidet/rezensionen-zu-bis-dass-der-tod-uns-meidet/) bin ich jetzt schon neugierig. Und damit haben wir ja eine weitere These bestätigt: man kann über das Netz doch Sichtbarkeit für sein Buch schaffen. Ich will jetzt nicht zuviel versprechen, aber da wir in zwei Wochen das Oberengadin besuchen und vielleicht auch mal nach Sils Maria im Waldhaus Kaffee trinken gehen – ist ja immer wie das Betreten einer Filmkulisse aus den 50er Jahren, inklusive lebenden Statisten – wäre das der passende Ort, ein Nietzsche inspirierten Roman zu beginnen.

      Vielen Dank noch mal für Ihren Kommentar und Ihre gern angenommene Empfehlung.

    • Es freut mich, dass Sie sich gleich mit Wissbegier daran gemacht haben, meinen Roman zu entdecken. Vielleicht wäre Sils-Maria tatsächlich die richtige Umgebung für das Buch; ich muss bekennen, ich habe es nie dorthin geschafft; obwohl es kurze Zeit angedacht war, dass ich im Nietzsche-Haus einen Vortrag halte. Aber so sehr Nietzsche verschiedene Einflüsse auf den Erzähler von „Bis dass der Tod uns meidet“ hat, so sehr ist es doch ein Roman über Beziehungsversuche und den Konflikt zwischen Fühlen-Denken und ich meine, dass insbesondere die deutsche Philosophiegeschichte dafür einige Brennpunkte liefert. Die Herausforderung war es, szenische Handlung mit teils monologisierenden Passagen zu verknüpfen und die verschiedenen Tonlagen (denn manchmal ist der Text poetisch verdichtet, manchmal geradezu absurd abstrakt) aufeinander abzustimmen. Übrigens liefern diese Aufzeichnungen ganz gute Eindrücke zum Buch bzw. zum Verhältnis von Literatur-Philosophie:

      Ich bin prinzipiell auch eher skeptisch betreffend einer literaturaffinen relevanten Öffentlichkeit, da ich selbst in dieser Hinsicht (und bitte nicht nur mich betreffend) so einiges im „Literaturbetrieb“ mitbekommen habe; insofern ist Sundermeier mit seiner Kritik leider sehr aussagekräftig – man hat oft den Eindruck, dass Maßgebliches geradezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, das gilt für Publikationen aus öst. Verlagen am dt. Buchmarkt noch mehr, ausgenommen vielleicht Jung & Jung und die Hanser-Ableger in Wien Deuticke und Zsolnay). Vor allem hat der Vorwurf, dass selbst die sogenannten intellektuellen RezensentInnen sich nicht mehr die Mühe machen, etwas anspruchsvollere Bücher mit Sorgfalt und Neugier zu lesen, mein volles Verständnis; es ist manchmal ja auch der Stil, der die Fachleute überfordert, vor allem angesichts einer vorherrschenden Mode des „naturalistischen Erzählens“ (das mich oft gar nicht stimuliert oder überrascht weder intellektuell noch sinnlich).
      Aber gleichzeitig stimmt es natürlich, dass das Internet Kontakte und Wahrnehmung ermöglicht, die vorab undenkbar waren. So wie unser „Gespräch“.

      Übrigens: Der Wunsch, dass Sie mein Buch rezensieren, war ganz ironiefrei. Ihre Stellungnahme verrät eben genau die Bereitschaft ins Detail zu gehen, die ich selbst im avancierten Feuilletons zuweilen vermisse (gewiss nicht überall, aber häufiger), selbst wenn man den Aussagen nur zum Teil zustimmt und schließlich – da bin ich vielleicht doch einer mit leichter Hoffnung – die Form des Blogs oder der Literaturseite im web lässt eben längere und somit per se differenziertere Besprechungen zu; manchmal ist es geradezu ein Witz, dass in einer Zeitung manche Buchkritiken mit 500 Zeichen erscheinen, was kann denn schon Substanzielles in einer solchen Kürze formuliert werden?
      (ich weiß aber auch, dass RezensentInnen unter dieser „Beschneidung“ sehr leiden, sich aber dem Betriebswirten in der Chefredaktion ergeben)

      Lieber als die digitale Kommunikation ist mir aber immer noch die persönliche, ich muss noch etwas fertigschreiben und bin heut Abend verabredet – Sie sind wohl nicht gelegentlich in Wien? Nach Deutschland komme ich wohl nicht so schnell wieder, in Frankfurt und Leipzig habe ich ja mein Buch vorgestellt, da gibt’s immerhin noch die Radioaufnahmen dazu, aber in Summe sind die Messen natürlich ein Graus, bis auf ein paar schöne Begegnungen (die man aber in der Regel schon vorher fixieren muss, sonst geht da nix).

      Ihnen Schöne Tage in Sils-Maria,
      Alexander Peer

    • Danke, Herr Peer.

      Dazu gebe es jetzt wieder einiges zu schreiben oder zu sagen. Wenn sich eine Gelegenheit für Wien auftut, werde ich mich ankündigen. Vielleicht begegnen wir uns mal im wahren Leben.

      Ich wünsche Ihnen ebenfalls eine schöne Zeit und vielleicht bis bald wieder.

      Thomas Brasch

  5. Danke für die interessante Replik auf Olaf Sundermeier. Ich verstehe aber die Grundidee nicht ganz: Einerseits richtet sie sich gegen das Lamento über schlechte Print-Literaturkritik, weil Maßstäbe angeblich immer subjektiv seien (echt jetzt?) und es noch viel mehr gäbe als bloß Print-Literaturkritik, was unbedingt ein guter Punkt ist. Andererseits vollführt der Text dann aber einen Grabenkampf zwischen Print- und Netz-Literaturkritik, bei dem die klassischen Feuilletons nicht gut wegkommen. Wozu denn dieser olle Grabenkampf, der doch selbst auch ein längst nicht mehr sehr originelles Lamento ist? Lohnt es nicht für jede Ausformung derzeitiger Kulturkritik, zuallererst ihre Potentiale zu beschreiben?

    • Der heutige Beitrag im Tagesspiegel von Gerrit Bartels http://www.tagesspiegel.de/kultur/stand-der-literaturkritik-ewige-krise-klingt-gut/11309356.html schlägt meines Erachtens in die gleich Kerbe, mit der ich meinen Beitrag eröffnet habe. Um es etwas populistisch auszudrücken: Es gibt offenbar eine große Sehnsucht nach einem Literaturpapst bzw. eine Literaturpäpstin. Und um das Bild etwas weiter auszureizen: wir sind auch mit der Kulturkritik heute endlich im säkularisierten Zeitalter angekommen. Das verdankten wir eben auch dem Netz.

      Mir ging und geht es nicht darum, das Netz als als die bessere Alternative zu Print zu propagieren. Die Diskussion über die Qualität der Literaturkritik ist ja nicht mediengebunden. Sie fand zwar bei Brüchen immer wieder auch auf der Ebene statt – Radio vs. Print, TV vs. Print und jetzt online vs allen anderen – doch führte dies jeweils in die gleich Sackgasse. Die Qualitätsdiskussion bleibt in allen Medien die gleiche. Und das Lamento darf über die Literaturkritik im Netz gerne auch erfolgen. Es gibt nur einen wesentlich Unterschied: das Netz bietet erstmalig die „demokratischste“ Form zur Abstimmung, welcher Art sich welche Kreise Literaturkritik wünschen. Die von Sundermeier gewünschte Form kann und gibt es heute für jeden heute ebenso zugänglich. Und es liegt an uns, sie nach vorne zu bringen oder eben halt zu suchen.

      Viele stecken immer noch fest in ihrer statischen Medienrezeption. Doch die gibt es nicht mehr. Jede Meinung, jede Ansicht kann heute von jedem verstärkt werden oder eben gefunden. Doch viele sind offenbar davon überfordert – Verlage, Autoren und Leser. Wenn uns die Buchkritiken in den Feuilletons nicht ausreichen oder dort die Bücher ignorieren werden, die wir für lesenswert erachten, so haben wir heute selbst die Möglichkeit, sie nach vorne zu bringen.

      Wie das geht, machen uns die Self-Publisher vor. Da mag man mit seinem ästhetischen Urteil abwinken, doch das ist nicht deren Problem, sondern unseres, die wir glauben, dass qualitativ besseres nach vorne gehört. Dafür müssen wir heute – im Gegensatz zu früher – selbst etwas tun. Es gibt heute keine Enzyklika der Literaturkritik mehr. Wir sind endlich frei, das zu missionieren, was wir wollen.

  6. Na ja, lieber Thomas Brasch,
    ich bin schon froh über die Literaturkritik, wenn sie gut gemacht ist, und wo ich sie doch gerade erst entdeckt habe, quasi. Der Vergleich eines Werkes und die Einordnung in die Zeit, eingebettet von fundiertem literarischem, historischem und lebensweltlichem Wissen des Kritikers ist mir ein nützliches Ding, um meinen eigenen Eindruck über das Werk daran zu messen. Gerne lese ich blitzende, überschwängliche, heitere, elegante Lobpreisungen, und auch mal einen exemplarischen Verriss, der professionellerweise ohne Häme und Schmähung auskommt.
    Und es ist spannend, die Meinungen der Leser im Netz, auf Blogs, auf Plattformen dagegen zu halten.
    Man darf sich ruhig an die Entstehung der Literaturkritik als ein Mittel zur Kategorisierung und Popularisierung von Literatur erinnern. Ersteres ist zwar mit den fortschreitenden technischen Möglichkeiten ziemlich fix unmöglich geworden, letzteres hat aber bis heute Bestand, denkt man an die wunderbaren Werke abseits der Bestsellerlisten, die nie in den Blick des Lesepublikums kommen würden ohne die Suche der Kritiker nach dem Besondern.
    Deswegen schätze ich beide Formen der Auseinandersetzung mit Literatur, die professionelle wie die laienhafte. Selbst die Möglichkeit zu haben, sich öffentlich über ein Werk zu äußern, ist schon ein bemerkenswerter Umstand und eine feine Sache. Dabei unterlege ich die Texte gewiss mit meinem subjektiven Empfinden (Literatur und Sekundäres geht ja nicht ohne dies), aber auch mit meinen neuen Erfahrungen über Literatur(dafür brauche ich die professionelle Kritik) und natürlich meinem Wissen über psychologische Zusammenhänge, was vielleicht noch einmal eine andere Perspektive ist. Und abgesehen davon, macht es Spaß.

    Viele Grüße aus dem regengrauen Münsterland
    Anne Kuhlmeyer

    • Danke, Anne Kuhlmeyer, dem kann und will ich nicht widersprechen. Und meine Replik auf das Lamento ist ja kein Plädoyer gegen die Literaturkritik im Feuilleton, sondern nur gegen die unterstellte schlechte Qualität. Wie ich versucht habe zu erläutern, gibt es keine Norm anhand derer man die Qualität bemessen kann. Ja, es gibt nicht mal einen gesellschaftlichen Konsens über die notwendigen Kompetenznachweise eines Literaturkritikers. Ab wann ist man denn ein legitimierter – diplomierter gibt es ja nicht – professioneller Literaturkritiker? Der Berufsstand erfordert eben so wenig fachliche Vorraussetzungen wie Immobilienmakler. Was ihn auszeichnen kann, ist das journalistische Handwerk. Doch das macht ihn für die hier diskutierte Qualität der Literaturkritik nicht kompetenter. Er weiß sie dann nur in eine professionellere Form zu packen. Ein ähnlicher gedanklicher Fehlschluss ist auch die gerne unterstellte literaturkritische Kompetenz eines Buchhändlers. Buchhändler benötigen für ihren Beruf keinerlei literaturwissenschaftliche Kompetenz und verfügen – wenn sie es nicht explizit studiert haben – auch nicht mehr darüber als ihre literaturbegeisterten Kunden.

    • Aber der „Berufsstand“ des Kritikers wird doch seit seinem Bestehen genau mit dem Zweifel an seiner Legitimation kritisiert. Zuerst von den kirchlichen Exegten, später von den Literaturwissenschaftlern, also, seit es die gibt, und bis heute. Dabei halte ich gerade das subjektive Element, gründliche Kenntnis von Literaturen vorausgesetzt, für ein bedeutsames. (Subjektivität spielt ja nicht nur in den „weichen“ Wissenschaften eine Rolle.) Und kein Mensch muss sich der Sicht des Kritikers anschließen. Hier ist z.B. ein hübscher Text zum Thema: http://www.kaliber38.de/woertche/einzelteile/woertche_krimirezension.htm :-)

  7. Danke, Jochen, kannte ich noch nicht und schlägt exakt in die gleiche Kerbe. Hingegen ist das Interview mit Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, das dort dann zugleich angeboten wird, wieder ein herrlicher Drahtseilakt: http://www.ndr.de/kultur/buch/Literaturkritik-ist-nicht-schlechter-geworden,literaturkritik100.html. Einerseits ist er sich bewusst, primär entspannte Leser-Events für Autoren und Verlage zu veranstalten, doch anderseits vermisst er die literaturkritische Lektüre und entsprechende Auseinandersetzung in den Feuilletons. Und dann werden die honorigen Instanzen der Vergangenheit benannt, die Vorbild für eine tiefsinnige ästhetische Literaturkritik seien: Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schlegel, Friedrich Sieburg und natürlich Marcel Reich-Ranicki. Letzteren habe ich nicht nur sehr geschätzt, sondern verdanke ich viele literarische Entdeckungen, die er einem unnachahmlich ans Herz legen konnte. (Ohne ihn würde wahrscheinlich Murakami noch heute auf seine Entdeckung in Deutschland warten. Und den hatte er nicht aus literaturästhetischen Gründen uns ans Herz gelegt) Zwei Dinge zeichneten ihn aus: er schrieb feuilletonistisch im besten Sinne und er war kein akademisch ideologisierter Literaturwissenschaftler. Er liebte einfach Literatur und das liest man aus jeder seiner vielen Zeilen – selbst wenn er mal haderte oder gar verriss, tat er es – um es etwas pathetisch ausklingen zu lassen – aus innigster Leidenschaft für das Objekt „unserer“ Begierde.

    • Hallo Thomas, die Definition, die einen guten Kritiker ausmacht (vorhin als Antwort an dich auf Twitter) stammt von Reich-Ranicki. Was ich in der Kürze auf Twitter allerdings weg gelassen habe, ist sein Zusatz, dass man diese Qualifikationen, sollten sie wirklich umfassend und tief sein, als Mensch nie werde erreichen können. Dazu sagte er, dass sich ein Kritiker natürlich irren könne. Er hat mit Mitte 30 in Polen begonnen und ohne akademisches Studium, war aber äußerst belesen und hatte eine klare Vorstellung davon, was gute Literatur ist und was nicht. Dazu hat er auch immer das Schauspiel und die Lyrik gleichwertig zur Belletristik beurteilt, diese Gattungen fehlen heute in den Feuilletons beinah vollkommen. Reich-Ranickis scheinbarer Mangel an akademischer Bildung wurde ihm stets verdeckt unter die Nase gerieben, hat jedoch seiner Klarheit in Schrift und Wort nie geschadet, eher genützt. Aber auch er hat sich beispielsweise geweigert, Kriminalromane zu rezensieren. Ich denke aber, dass es nicht die Aufgabe der Kritik ist, Resümees zu schreiben und Werke, besser zu ignorieren, denn negativ zu rezensieren. Im Gegenteil, sie muss auch Bücher schlecht beurteilen, die im unübersichtlichen Buchmarkt erscheinen. Autoren klagen immer darüber, dass gerade ihre Werke schlecht beurteilt werden. Und Reich-Ranicki hat selbst die ganz großen Köpfe der Literatur oft negativ rezensiert (Grass, Walser), gerade diese beiden haben sich dann immer furchtbar über ihn beschwert. Und was haben sie gefordert: Zusammenfassungen der Werke und positive Resümees.

    • Hallo Martin, danke, dass Du den Weg von Twitter hierher genommen hast und für den ausführlichen Kommentar. Dein Anspruch an einen kompetenten Kritiker teile ich gerne. Und mit Marcel Reich-Ranicki haben wir einen gemeinsamen Leuchtturm, wie ich ja hier in den Kommentaren schon schrieb.

      Worum es mir in meiner Replik ging, ist, dass niemand eine gewisse Form von Kritik fordern, sondern nur wünschen kann. Mein beschriebener Wunsch an empfehlender, inspirierender Kritik ist ein individueller ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Ich gehe nur beim Durchforsten der Feuilletons so selektiv vor. Verrisse überfliege ich überwiegend nur und lese sie gegebenenfalls, wenn ich das Buch selbst gelesen habe. Soweit ich es einschätzen kann, sind Verlage auch glücklicher über Verrisse als über Nicht-Beachtung, denn erstere fördern den Verkauf des Buches dennoch.

      Was ich bedauerlich fand, war, dass Du ausserhalb von etablierten klassischen Medien Literaturkritik als amateurhaft ablehnst. Dem kann ich – aus Erfahrung – nun gar nicht folgen. Denn im Netz finden sich unzählige Rezensionen, die oftmals fundierter sind als die Rezensionen in den Zeitungen – selbst wenn diese von einem kompetenten, erfahrenen Kritiker stammen. Dies ist auch völlig nachvollziehbar, da der Feuilletonist meist auch Generalist ist, während sich im Netz Menschen äußern können, die Kenner des Autors und seines Werkes, des Genres oder des Sachgebietes sind. Am deutlichsten wird dies auf amazon.

      Aber auch viele Blogger besitzen hohe Kompetenz für spezielle Genres und können interessante Bezüge herstellen und tiefgründiger über ein Werke urteilen als diese ein Feuilletonist vermag. Und nicht zuletzt habe ich in den vergangenen Jahren Blogger und Rezensenten kennen gelernt, deren Urteil ich nach einigen Buchbesprechungen deutlich mehr vertraue als Feuilletons, in denen auch immer tendenziös einer politischen Ausrichtung bzw. ein ideologischer Grundtenor mitschwingt.

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